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42.
Aufzeichnung des Staatsanwalts Dr. Sigrist

Ich hatte Lisbeth Morells Abschiedsworte in Frau Sandners Zelle mit halblauter Stimme den anderen vorgelesen. Ich war zu Ende. Ich blickte auf Paul Morell. Er war auf einen Stuhl gesunken. Er saß ganz in sich zusammengefallen. Sein Gesicht war grau wie Asche. Er schien um ein Jahrzehnt gealtert. Ich trat zu ihm. Ich sprach gedämpft:

»Herr Doktor Morell! Unter der Wucht dieses Schicksalsschlages sollten Sie sich von Ihrer Gewissenslast befreien! Wollen Sie es?«

Er nickte.

»Waren Sie es?«

Er nickte.

»Sie glaubten, das die beiden sich während Ihrer Reise nach Berlin in der Villa treffen würden?«

Er nickte.

»Sie reisten nicht, sondern rächten sich in der Villa an Sandner?«

Er nickte.

»Sind Sie bereit, das bei Ihrer Vernehmung zu wiederholen?«

Er nickte. Er ließ sich stumm, willenlos abführen. Er vermied es dabei nur, mit seinem verglasten Blick Margot Sandners dunklen Augen zu begegnen. Er ging wie ein Nachtwandler. Er stand draußen noch eine Weile vor seiner Frau, ohne daß man seinem Gesicht ansehen konnte, was in ihm vorging. Dann brach er völlig zusammen.

Hinter Paul Morell – das sei hier von mir, dem Staatsanwalt Sigrist, noch bemerkt – schlossen sich die Gefängnistore auf lange Zeit. Man hielt ihm seine berechtigte Leidenschaft zugute, aber gegen ihn sprach sein Schweigen, während eine Unschuldige vor Gericht stand, wenn er auch alles aufbot um sie zu retten und sie selber es ihm unmöglich machte.

Eine Amnestie gab ihm nach langen Jahren die Freiheit. Er ging nach Amerika. Dort hat er sich eine neue Existenz gegründet. Dorthin schrieb ich ihm und bat ihn um seine Aufzeichnungen zum Fall Sandner, durch die er noch einmal sein Gewissen entlasten und vor aller Welt der Feststellung der Wahrheit dienen könne. Er schickte mir wirklich seine Niederschrift, und zwar auf meine Bitte so, wie sich damals das Bild des Falles Sandner vor den Augen der Menschen darstellen mußte. Ich habe es nur, wo nötig, überarbeitet. Ich habe das schon eingangs erwähnt.

An jenem Morgen war ich mit Margot Sandner in der Zelle allein. Ich sagte tief erschüttert:

»Gnädige Frau! Es ist Licht geworden! Furchtbar Licht – für mich, Ihren Ankläger, glauben Sie mir! Ich habe in dieser Nacht die Unzulänglichkeit alles Menschlichen erkannt und werde es nie vergessen. Ich danke Gott dem Herrn, und wir alle müssen Gott danken, daß unser menschliches Irren uns nicht bis dahin geführt hat, wo es kein Zurück mehr gibt und die Reue zu spät kommt!

Dann wäre der Geschworene Nottebohm der einzige gewesen, der sich nicht die furchtbarsten Selbstvorwürfe zu machen gehabt hätte! Er ist ständig für Ihre Unschuld eingetreten«, schloß ich. »Für uns andere alle gibt es nur die einzige und mächtige Rechtfertigung, daß Sie ja selber Ihre Schuld bekannt haben! Warum denn nur?«

Margot Sandner schwieg.

»Frau Sandner! Sprechen Sie doch endlich!«

Margot Sandner blieb stumm und schaute an mir vorbei ins Leere.

»Sie sind doch ganz offenbar in keiner Weise in den Fall Sandner verwickelt. Sie warm doch nur von Eifersucht geplagt. Sie warm doch nur durch einen anonymen Brief hinausgelockt ...«

Margot Sandner hob den Kopf. Sie fing meine letzten Worte auf, wie um mich dadurch rasch auf ein anderes Thema zu lenken.

»Trude Jürgensens anonyme Briefe!« sagte sie mit einem kurzen verzweifelten Auflachen. »In jener Nacht habe ich erst begriffen, warum mein Mann mich eigentlich geheiratet hat! Die Großkaufleute in unserer Stadt sind vorsichtig. Die erkundigen sich bei jedem Freier erst nach seinen Verhältnissen! Er konnte doch nicht antworten: ›Ich lebe von Erpressungen!‹ So kam seine Verlobung mit der Trude Jürgensen auseinander, und sie in das Gerede der Leute. Bei einem unscheinbaren Habenichts wie mir aus dem Mittelstand war keine solche Neugier zu befürchten. Mein Vater war heilsfroh, froh, daß überhaupt noch einer kam!

»Die Trude Jürgensen schrieb in ihrer Wut seit Jahr und Tag die anonymen Briefe gegen meinen Mann!« fuhr sie fort. »Den Verdacht hatte ich und hatten wir alle. Man wußte ja, warum sie es tat. Aber es hätte doch vielleicht einmal etwas daran sein können. Darum bin ich damals in der Nacht hinaus ... «

»Und nun sagen Sie noch«, versetzte ich froh, daß sie endlich redete, »warum Sie über das schwiegen, was Sie da draußen sahen und hörten?«

Aber Frau Sandner war schon wieder ganz in sich verschlossen. Sie strich sich nur mit einer müden Handbewegung über die Stirne.

»Jetzt ist ja doch alles zerstört ... « sprach sie langsam.

»Gerade darum, gnädige Frau ... «

»Wozu noch davon sprechen?«

Ich wartete. Es kam kein Laut mehr aus ihrem Mund. Sie war in ihrer alten Verfassung. Hier war Männerwitz und Männerweisheit umsonst. Ich hatte nur noch eine Hoffnung. Ich ging hinunter zu meinem Wagen.

»Fahren Sie schnell nach Hause«, beorderte ich den Chauffeur, der noch ganz verdattert dastand, nachdem man vorhin Lisbeth Morell tot aus dem Wagen getragen hatte, »und klingeln Sie unten, was Sie können, und melden Sie der gnädigen Frau, ich ließe sie bitten, sich recht schnell fertig zu machen und hierher zu fahren. Ich brauchte sie hier dringend!«

Ich erwartete, daß es eine geraume Weile dauern würde, bis Klara kommen könnte. Aber auch sie war in der Unruhe dieser Nacht wach und aufgeblieben. Ich stand eine Weile vor dem Untersuchungsgefängnis und schöpfte frische Luft. Es war heller Tag geworden. Die ersten Spatzen schilpten. Das erste Frührot lag über den Dächern. Der Himmel färbte sich blaßblau. Die Welt bekam ein anderes Gesicht.

Ich war dann in Frau Sandners Zelle hinaufgegangen, um sie auf Klaras Kommen vorzubereiten. Aber ich stand kaum vor ihr und meine Frau trat ein. Sie wirkte mit ihrem klaren, mütterlich heiteren und dabei mädchenhaft frischen Gesicht wie ein Gast aus anderen Welten in dem Spuk dieser Nacht. Sie brachte etwas von Ruhe und Reinheit mit sich. Man fing wieder an, an die Menschheit zu glauben.


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