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7.
Aus dem Tagebuch des Staatspräsidenten Dr. Philipp Nöldechen

Ich habe diese hier folgenden kurzen Sätze unmittelbar, nachdem ich meinen Entschluß in Sachen Sandner gefaßt hatte, in mein Tagebuch aufgezeichnet, um meine Stimmung und meine Beweggründe, die mich zu diesem Entschluß trieben, schwarz auf weiß zur späteren Beruhigung meines Gewissens festzuhalten. Ich stelle hiermit eine Abschrift Herrn Dr.. Sigrist zur Verfügung.

Ich stand am Fenster und machte es auf, um die frische Nachtluft zu genießen, und sah nun erst das große, zahme Ungeheuer Volk, das da unten schwarz und hundertköpfig den Platz füllte. Bei meinem Anblick – dem des Wärters des gewaltigen Chamäleons – brach es in unbestimmte Urwaldtöne aus. In ein Brausen. Viele weiße Flecke stiegen aus dem Gewoge. Das waren die gehobenen Hände der Masse Mensch. Viele Rufe durcheinander. Man konnte sie schwer unterscheiden: das »Herr – erbarme dich!« und das »Kreuzige sie!« – die Mörderin.

Über den aufgeregten Menschen standen hoch am Nachthimmel unwahrscheinlich hell und nahe und ganz still unzählige Sterne. Und das schien mir greisem Christen in dieser Nacht der Unruhe ein Gleichnis unserer Wanderschaft von dieser in jene Welt.

Ich dachte mir: ›Bald bist du alter Mann dort drüben!‹ Ich fragte mich: ›Darfst du diese junge Frau vorausschicken?‹

Du hältst in deiner Hand das Ding, das die Menschen Staat nennen. Sie haben es geschaffen als ein Bündnis der Starken, Gesunden und Rechtlichen, um die Schwachen und Kranken zu schützen und sich gegen die Ungerechten zu wehren. Das hatte man in den letzten Jahren zu sehr vergessen. Der Staat hieß nicht mehr Stärke, sondern Mitleid und Schwäche. Aber ist Milde des Staates gegen seine Feinde nicht Grausamkeit gegen seine Bürger? Gnade eine Ungerechtigkeit gegen die Gerechten? Weht nicht jetzt mit Recht ein schärferer Wind?

Lasse also der Gerechtigkeit ihren Lauf.

Aber gibt es nicht etwas über dem Staat? Der Staat ist ein Gebilde von Menschenhand. Der Mensch ist ewig. Ewig seine Schwäche. Wir sind menschlichem Irrtum unterworfen in einem Fall, der so dunkel ist wie die Nacht da draußen. Ewig seine Schuld. Wir sind allzumal Sünder.

Da klang in meinem Ohr befreiend, die Zweifel lösend, das Wort des Heilands zur Sünderin: »Gehe hin, Weib, und sündige hinfort nicht mehr!«

Ich trat in die Mitte des Raumes zurück und sagte zu dem Verteidiger Dr.. Morell:

»Fahren Sie sofort zu Ihrer Klientin, und bringen Sie uns endlich ihr Gnadengesuch. Ich will ihm stattgeben!«

*

Diesem Auszug aus meinem Tagebuch möchte ich für die Zwecke des Herrn Dr.. Sigrist noch hinzufügen: Das Antlitz des Rechtsanwalts Morell hatte bei meinen Worten den Ausdruck gequälter, leidenschaftlicher Spannung verloren, der es in diesen Stunden völlig verändert hatte. Eine erlösende Freude leuchtete darüber. Er drückte mir stumm beide Hände, daß mich die Finger schmerzten. Er stürzte wortlos davon.

Ich wollte mich von dem Staatsanwalt Sigrist verabschieden. Ich sah ihn im Gespräch mit einem Mädel aus dem Volke, einem jungen Ding, das etwas blöde aussah, mit von Tränen rotgeränderten Augenlidern, und dem der Mund vor Aufregung offen stand. Daß der Wachtmeister sie bis hier herein geführt hatte, bewies die Wichtigkeit und Dringlichkeit des Falles. Und in der Tat wandte sich der Staatsanwalt Sigrist zu mir:

»Herr Präsident: Dies ist das Dienstmädchen der Luise Heidebluth. Es ziehen sich Wolken über Fräulein Heidebluths Haupt zusammen. Es handelt sich nur noch um wenige Stunden. Wir können nicht mehr den gewohnten Geschäftsgang mit Vernehmungen zur Amtszeit und derlei beobachten. Ich bitte um die Erlaubnis, die Heidebluth sofort holen zu lassen!«

Dem stimmte ich zu.


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