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4.
Die vierte und vorläufig letzte Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Wie so oft in guten Ehen, ergänzten sich auch bei Morells zwei grundverschiedene Hälften zu einem erfreulichen Ganzen. Schon äußerlich waren er und sie das gerade Gegenteil. Frau Lisbeth Morell, die leise eintrat, in respektvoller Haltung sich dem greisen Staatspräsidenten näherte, war so blaßblond wie ihr Mann tief brünett, die Augen von einem unbestimmten, etwas matten Blau statt seiner schwarzen Irrlichter, schmal und schmächtig von Gestalt, in der Kopfneigung und dem schwachen Lächeln, mit dem sie uns begrüßte, von einer gewissen damenhaften Kühle, im Gegensatz zu ihm, bei dem das Barometer immer auf Sturm stand.

Sie galt für eine hübsche Frau. Sie war es auch. Gewiß. Aber in einer unauffälligen, etwas bläßlichen und nüchternen Art. Sie hinterließ keinen rechten Eindruck. Man konnte sich vorstellen, daß man ihr Äußeres rasch wieder vergaß, was einem bei ihm, Paul Morell, nicht leicht passieren konnte. Wahrscheinlich brauchte er bei seinem Temperament solch eine gleichmäßige, fast ein wenig langweilige Frau. Eine andere hätte es mit dem aufgeregten Menschen vielleicht gar nicht ausgehalten. Die zwei aber kamen seit Jahren vortrefflich miteinander aus.

»Bitte – nehmen Sie Platz, gnädige Frau! Herrn Staatsanwalt Sigrist kennen Sie ja durch seine Gattin, Ihre Schulfreundin! Und nun erzählen Sie mir, bitte, ganz freimütig – ganz menschlich, was Ihnen von dem Zusammensein mit Margot Sandner an dem verhängnisvollen Abend in Erinnerung ist! Es ist kein Verhör! Es ist ein Gefallen, den Sie mir persönlich und nur mir erweisen, indem Sie meine Einsicht in diese dunkle Geschichte aus Ihrer eigenen Wahrnehmung heraus unterstützen!«

Ich wußte schon aus der Prozeßverhandlung seinerzeit: Es war Frau Morell damals so ergangen, wie wohl fast jeder Dame der Gesellschaft, die sich plötzlich als Zeugin vor Gericht, vor den Schranken und Talaren, in dem überfüllten Saal als Mittelpunkt von Hunderten von Blicken empfindet und weiß, daß Hunderte von Ohren das mit anhören, was sie sagt. Jede Dame fühlt sich da befangen, spricht stockend und mit Pausen und Wiederholungen. Jetzt, dem Herrn Staatspräsidenten gegenüber, würde diese Hemmung durch das Ungewohnte wahrscheinlich eine ähnliche sein. Ich tat daher, was ich häufig im Gerichtssaal tat. Ich zog mein Taschenbuch hervor und stenographierte Frau Morells Bericht mit, um mir von ihm ein ganz klares Bild festzuhalten. Ich hatte meinen Entschluß nicht zu bereuen. Denn es wäre sonst nicht leicht gewesen, Frau Morells langsamer und umständlicher, etwas preziöser Art des Sprechens zu folgen. Es hatte etwas Ledernes an sich. Es paßte zu ihrem ganzen Wesen. Hier ihre Bekundungen mit den Zwischenfragen des Herrn Staatspräsidenten.


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