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20.
Niederschrift des Gänsehändlers Otto Witzel

Ich habe damals zu den lieben Herren gesagt: Ich bin nur ein einfacher Mann aus dem Volk, der sich von Gänsen ernährt, und kann nur reden, wie mir dat Mul steht. Da haben mir die lieben Herren Beifall gegeben und gesagt: Ja, so soll ich reden. Da habe ich gesagt:

Die Gänse – die haben's in sich. Wer tagaus, tagein mit den Mastgänsen zu tun hat, der hat genug zu tun. Und der Hof liegt weit vom Dorf, und man kommt wenig unter die Leute und hat keine Zeit, unter der Woche Zeitung zu lesen. Nur das Sonntagsblatt. Aber in dem hat nichts von dem Herrn Sandner gestanden, indem es ein frommes Blatt ist und sich nicht mit Mordtaten abgibt, und so ist mir der Herr Sandner bis heute unbewußt geblieben, und ich habe nicht gewußt, daß er gelebt hat und daß er nun leider tot ist.

Alle vier Wochen fahre ich abends mit einer Steige voll geschlachteter Gänse in die Stadt und gehe vom Bahnhof zu Knolls Taverne. Da logiere ich auf die Nacht billig in einer von den Fremdenstuben, die der Mann unter Dach hat, und in aller Frühe bringe ich dann die Ware in die große Markthalle. Da habe ich meinen Stand, wo die Kunden mich, ihren Witzel, finden.

In der Nacht, wo sie, wie ich jetzt höre, Sandnern ermordet haben, bin ich mit meiner Steige voll gerupfter Gänse auf dem Rücken die Straße lang zu Knolls Taverne gegangen. Hübsch langsam. So 'ne Kiepe hat ihr Gewicht. Ich habe oft verschnaufen müssen. Wie ich da gerade wieder so stehe, kommen drei an mir vorbeigelaufen – zwei Kerle – so ein richtiger seebefahrener Maat und ein lütter Buckliger, und ein Frauenzimmer. Hat die doch, wie sie mich sieht, gekrischen: »Den Bur kenn' ich doch!« In dem Frauenzimmer erkenn' ich ja nu die Tilde, die Kellnerin aus Knolls Taverne, und sie ist außer Puste und fragt mich: »Sie, oller Gänserich« – indem man bei der Tilde Rübel keine Bildung nie nicht suchen darf –, »sind Sie nicht vorhin«, fragt sie, »so einem alten grauen Herrn begegnet?« – »Das ist nur wenige Minuten her«, antworte ich, »vorhin ist er an mir vorbei und da die Straße lang, dahin, wo ihr herkommt!« Aber die drei haben nicht mehr zugehört, sondern sind weitergelaufen. Es gibt ja Leute – die werden nervös, wenn sie die Polizei sehen. Zu denen gehören die drei. Es ist aber gerade aus der Seitengasse Polizei gekommen und im Trab die Straße hinunter – drei oder vier Wachtmeister auf einmal –, ich habe mir noch gedacht: ›Denen hat ja wohl der Doktor Bewegung verordnet?‹ Denn die Straße war ganz still und hell im Mondschein und leer. Dann bin ich weiter zu Knoll und habe unterwegs noch zwei-, dreimal verpusten müssen. Ich packe mir immer zuviel Gänse auf, in die Stadt. Aber ich habe doch nu in der Stadt meine vielen Stammkunden. Ich bin ein reeller Mann. Ich lasse keinen von die Herrschaften im Stich. Der hohe Herr, der im Sessel gesessen hat, und die anderen sind um ihn herumgestanden, hat gesagt: »Herr Witzel! Sie scheinen ein sehr vernünftiger Mann, der mit beiden Beinen mitten im Leben steht und weiß, was eine Aussage bedeutet. Nun beschreiben Sie uns einmal recht genau den grauen Herrn, so wie Sie ihn auf wenige Schritte Entfernung gesehen haben, wie er an Ihnen vorbeigegangen ist!«

Die anderen Herren haben mich alle gespannt wie die Schießhunde angeschaut und gewartet, was ich nun sagen täte. Man hat gemerkt, wie sehr der graue Herr den Herren am Herzen gelegen hat, und ich bin noch still und überdenke mir, wie ich das so mit einem rechten Schick in Worte bringe. – Denn ich habe jetzt erst so sachte begriffen, daß es der Staatspräsident selber war, der im Sessel gesessen hat, und da nimmt sich der Mensch zusammen, und es war staunend, wie freundlich dieser liebe Herr zu mir war, gerade als wäre er gar nicht der Herr Staatspräsident. Aber jetzt hat er den Kopf nach der Tür gedreht, und da hat es sich gezeigt, daß er schon der Herr Staatspräsident war, mit so strenger Miene hat er gesagt: »Ich habe Ihnen zweimal sagen lassen, daß ich augenblicklich beschäftigt bin. Das geht zu weit und läßt sich auch nicht mit Ihrem Recht als Geschworener begründen, daß Sie hier eigenmächtig eindringen!«

Da hat jemand an der Tür gesagt: »Tscha!« Er hat: »Tscha!« gesagt, und das hat mir gleich so bekannt geklungen. »Ich habe gedacht, da ist noch ein Vorzimmer!« hat er gesagt. »Exküsieren Sie, bitte! Ich wollte mich ja nur bloß 'n büschen in Erinnerung bringen!«

Die Herren haben zwischen mir und dem Mann an der Tür gestanden, und ich habe ihn nicht sehen können. Aber dann habe ich mich auf die Fußspitzen gestellt, und da habe ich doch sehen können. Das war ein gesetzter Herr – so gut an die fünfzig – mit einem grauen Vollbart und Schnurrbart und grauem Kopf, in einem langen grauen Mantel. Da war ich nun recht froh.

»Guten Tag, Herr Nottebohm!« habe ich gesagt, und dann habe ich mich zu dem hohen Herrn Präsidenten gedreht und gesprochen: »Da brauche ich nun nicht erst lange ungeschickt zu reden – wo er doch selber da ist!«

»Sie meinen den Herrn Nottebohm« fragt da der hohe Herr Präsident und versteht mich nicht recht. Und ich spreche:

»Ja freilich!«

Fragt der hohe Herr Präsident und versteht immer noch nicht:

»Bester Herr Witzel: Was hat denn das mit dem grauen Herrn zu tun?«

Ich habe nicht recht begriffen, daß keiner rundherum das begriffen hat, was ich gesagt habe, und habe auf den Herrn Nottebohm gedeutet und gesagt:

»Aber der Herr Nottebohm – das war doch der graue Herr! Der ist doch damals an mir vorbeigegangen!«

Da war es mucksstill. Da habe ich noch gesagt: »Ich seh' ihn noch vor mir! Ich werde doch den Herrn Nottebohm kennen! Ich kenne ihn doch seit zehn Jahren!«

Das war nun wie ein Donnerschlag! Alle sind zusammengezuckt. Der hohe Herr Präsident ist aufgestanden. Er hat sich mit der Hand über die Stirn gefahren, als hätte er gedacht: er träumt! Er hat den Herrn Nottebohm über seine Brillengläser weg angesehen. Der Herr Nottebohm hat sich verfärbt. Er hat eine Handbewegung gemacht. Er hat gesagt:

»Tscha – was soll denn das?«

Das hat er aber nicht kollerig gesagt, sondern recht matt und unsicher. Ich habe dem Herrn Nottebohm seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen wollen. Ich habe ihn beruhigen wollen und gesagt: »Herr Nottebohm! Das geht ja klar, daß Sie mich damals nicht gesehen haben. Denn ich war ja ganz im Schatten von der langen, schweren Gänsesteige, die ich auf dem Rücken geschleppt habe. Die Schulterriemen von der Steige habe ich mit den Händen festgehalten! Nichts für ungut, Herr Nottebohm, daß ich deswegen damals nicht die Kappe abgenommen habe!«

Der Herr Nottebohm hat nichts geantwortet, sondern nur so gegurgelt. Sein Gesicht war nun grau wie Hafenwasser. Er hat den Kopf geschüttelt und mich mit den Augen angeblinkert, als wollte er sagen: »Lüge nicht!« Da habe ich lachen müssen und gesagt:

»Aber ich habe Sie doch so deutlich erkannt, Herr Nottebohm, wie wir beide hier stehen! Sie kaufen doch seit zehn Jahren die Gänse bei mir und kommen doch immer selber an meinen Stand, weil Sie sagen, Ihre Wirtschafterin – die hat nicht den rechten Pli dafür, wie eine Gans aussehen muß, und Sie waren doch immer mit mir zufrieden!«

Da hat der Herr Nottebohm sich auf einen Stuhl neben der Tür gesetzt, und er ist doch sonst ein würdiger und gesetzter älterer Herr und steigt so recht respektabel daher. Aber jetzt ist er in sich zusammengefallen wie ein grauer Sack voll Kaffee und hat bitterlich zu weinen angefangen.


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