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33.
Niederschrift des Rechtsanwalts Dr. Paul Morell

Es kostet mich Überwindung, das Folgende niederzuschreiben. Aber ich habe es dem Dr. Sigrist versprochen. Ich will es tun. Ich muß es tun. Ich fühle die Verpflichtung in mir.

An der Straßenecke standen Nachtdroschken. Der vorderste Mann am Steuer blinzelte mich, durch einen leichten Schulterklaps aufgeweckt, schlaftrunken an: »Wohin?« Ich zögerte mit der Antwort. Ich empfand einen beinahe unwiderstehlichen Drang, meine Frau Lisbeth aus der befreundeten Familie abzuholen, bei der sie meiner Weisung gemäß immer noch saß und auf eine etwaige erneute Berufung als Zeugin wartete, und einfach mit ihr nach Hause zu fahren, in unsere freundliche helle Wohnung, mich schlafen zu legen und nicht mehr um das dunkle unheimliche Haus da draußen und den grauen Herrn als mitternächtigen Hausherrn zu kümmern.

Es lag mir schon auf den Lippen, dem Chauffeur meine eigene Straßennummer als Fahrtziel zu nennen. Aber dann bezwang ich mich und beorderte ihn, mich nach dem Villenviertel hinauszufahren. Vorher holte ich den Schlüssel beim Gärtner. Ich betete zum Himmel, ich möge den Mann nicht antreffen. Aber er war daheim. Er war noch wach bei der allgemeinen Aufregung – gerade er – ein Bedienter des Hauses Sandner –. Er humpelte sofort heraus und brachte mir den Schlüssel, und ich fuhr weiter.

Fast übermächtig war in mir unterwegs die Versuchung, dem Chauffeur zuzurufen: »Kehren Sie um!« Ich kämpfte die Schwächeanwandlung nieder. Ich trocknete mir den kalten Schweiß von der Stirne. Ich saß mit krampfhaft geballten Fäusten. Ich rief erst ganz in der Nähe der Villa Sandner heiser: »Halt!« und entlohnte den Mann und hörte, wie ich zu Fuß weiterging, das sich verlierende Surren der heimfahrenden Droschke und war ganz allein und stand in der tiefen Stille der Frühlingsnacht vor dem toten Haus.

Es blühte und duftete überall aus dem Dunkel der Gärten. Wie schlafend standen rings in ihnen als undeutliche weiße Schatten die Villen. Jetzt, zu Beginn der schönen Jahreszeit, waren sie wieder alle bewohnt. Überall in diesen traumumsponnenen Dornröschenburgen schlummerten jetzt Menschen. Die Villa Sandner unterschied sich in ihrer stummen, scheinbar friedlichen Ruhe, mit ihren herabgelassenen Rolläden, in nichts von den Nachbargebäuden. Auch in ihr hätten jetzt groß und klein der Ruhe pflegen können, so wie nebenan. Sie hatte durchaus nichts Gespenstisches an sich.

Trotzdem drehte ich mich jäh um und ging schnell, mit langen Schritten, von der Villa weg und ohne mich umzusehen die Straße hinunter, durch die ich gekommen. Nach hundert Schritten blieb ich unschlüssig, fast erschrocken wieder stehen, so als ob mich jemand gerufen hätte. Aber da war kein Menschenlaut. Nur der Wind rauschte in den Bäumen des Sandnerschen Parks, und ich hörte mein Herz pochen. Sonst war alles still, jetzt, vor Tau und Tag. Ich machte wieder kehrt und ging wieder auf die Villa zu und machte wieder vor ihr willenlos halt. Endlich biß ich die Zähne zusammen und stieß den Schlüssel in das Schlüsselloch des Haustors. Es war eingerostet. Er krächzte leise, die Angeln ächzten, während das Tor sich öffnete und aus dem tiefen Dunkel die kalte, dumpfe Kellerluft eines lange unbewohnten Hauses mir entgegenströmte.

Ich war selten in diesem reichen Hause gewesen, das ja auch die Sandners nur ein Jahr lang besessen und im Sommer bewohnt hatten. Es lag weit von der Stadt, und Lisbeth und ich hatten kein Auto. Ich kannte mich in den Räumen wenig aus. Aber nach Margot Sandners Anweisung war der Weg ja nicht zu fehlen. Ich machte Licht. Da war die große Diele. Ich ging – unwillkürlich auf den Fußspitzen, und mich nach beiden Seiten umsehend, halblinks, wie sie gesagt, weiter und machte wieder Licht und erkannte vor mir das Rauchzimmer, in dem ich öfters mit Leopold Sandner nach Tisch bei einer Zigarre gesessen – das Telephon auf dem runden Tisch – den elektrischen Ofen – darüber das Blumenstück an der Ledertapete – es stimmte alles.

Ich betrachtete halb geistesabwesend, schwer atmend, diesen phantastisch grellen, bizarr wie indische Tropengewächse blühenden deutschen Feldblumenstrauß von Margot Sandners Hand. Diese übersteigerte Farbenfreude paßte so ganz zu ihrer eigenen Persönlichkeit, die überall den Alltag und seine Menschen in bengalischer Beleuchtung sah. Wieder ging mir die Versuchung durch den Kopf: Warum sollst du dieser überspannten Frau den Gefallen tun, das bunte Stilleben von Öl und Leinwand von der Wand zu nehmen? Gott weiß, was sich dahinter verbirgt.

Plötzlich hatte ich den verrückten Gedanken: In diesem unsichtbaren Wandschrank vor dir liegt der graue Herr, und du sollst diese im Lauf der Wintermonate vertrocknete Mumie nach Margots Geheiß beiseite schaffen! Gleich darauf schien mir diese Fieberphantasie selber lächerlich. Dabei kämpfte ich doch wieder mit mir, ob ich nicht lieber so schnell wie möglich dies leere Haus wieder verlassen sollte und hatte dabei doch schon das vom Nagel genommene Ölbild in der Hand.

Mit der Rechten fuhr ich leise, vorsichtig, über das freigelegte, sattgrün gekörnte Tapetenviereck. Ich zauderte und fühlte doch eine unheimliche Neugierde, was weiter noch dahinten auf mich wartete. Ich muß doch, ohne es zu merken, dem Knopf zu nahe gekommen sein. Denn plötzlich sprang so schnell und völlig lautlos eine schmale Flügeltür auf, daß ich eben noch mit dem Kopf zurückfahren konnte, um nicht von ihr in das Gesicht getroffen zu werden.

Ich blinzelte vorsichtig in den nüchternen, aus glatt gehobelten Brettern gefügten Schrank hinein und war enttäuscht. Ich mußte beinahe ärgerlich lachen. Alte Kleider – das war Margot Sandners ganzes Geheimnis, wegen dessen sie einen wider Willen bei Nacht und Nebel in das Mordhaus hinaussprengte!

Eigentlich nur ein großknöpfiger hellgrauer Mantel von bestem englischem Wollstoff und etwas ausländischem Schnitt. Dazu auf dem Innenbrett über dem Kleiderhaken ein großer, breitkrämpiger, weicher Filzhut, auch von grauer Farbe.

Beides grau. Das kam mir langsam zur Erkenntnis. Ich trat näher. sah ich: In der Ecke des Innenbretts lag etwas Krauses wie Werg. Ich zog es hervor. Nein. Es war Menschenhaar. Es war ein kunstvoller, durch verborgene drahtgedrehte Ohrschlingen zum Umlegen an die Wangen angepaßter grauer Vollbart.

Ich stand eine Weile, ohne mich zu rühren. Dann atmete ich tief auf. Ich schlug die Augen empor. Ich dankte meinem Schöpfer. Nun war Margot Sandner gerettet. Nun war die auf Tod und Leben umstrittene Anwesenheit eines dritten erwiesen.

Ich griff nach dem Telephon auf dem Tisch. Ich hatte die einzige Sorge, daß es gesperrt sein könne. Aber es war offenbar vergessen worden, es abzumelden. Der Nachtdienst meldete sich und verband mich fast sofort mit dem Staatsanwalt Dr. Sigrist.

»Ich spreche aus der Villa Sandner draußen, Herr Staatsanwalt!« flüsterte ich atemlos in den Apparat, so als könnte jemand hinter mir stehen und zuhören, und ich drehte wirklich beim Sprechen ein paarmal mißtrauisch den Kopf über die Schulter rückwärts, um mich zu versichern, daß ich allein in dem Zimmer und in dem Hause sei. »Frau Sandner hat nicht Ruhe gegeben, bis ich hier hinausfuhr. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, über alles, was ich hier nach ihrem Willen sehen und tun würde, gegen jedermann zu schweigen. Ich habe es ihr versprochen, mit dem ausdrücklichen Zusatz: soweit es mir menschenmöglich ist! Sie hat auf diesen Zusatz nicht geachtet! Ich mußte vor mir selber diesen inneren Vorbehalt machen. Das war meine sittliche und gesetzliche Pflicht als der Verteidiger vor Gericht. Diese Pflicht, zugunsten des Angeklagten die Wahrheit zu finden, geht für einen Rechtsanwalt allem anderen vor!«

»Allerdings!« tönte es von fern durch den Draht. Ich fuhr hastig fort:

»Denn mir ahnte gleich bei Frau Sandners Worten die Möglichkeit, daß sich hier neue Tatsachen ergeben könnten, die aus Paragraph 399, Absatz 5, der Strafprozeßordnung eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen meine Klientin begründen würden!«

»Sie wollen doch nicht allen Ernstes sagen, daß Sie etwas derart gefunden haben?« forschte Dr. Sigrist durch die Nacht aus der Weite.

»Ich würde nicht jetzt gegen das ausdrückliche Gebot meiner Klientin handeln – zu ihrem eigenen Besten – und reden, statt meinem Wort gemäß zu schweigen, und auf der Stelle die Behörden alarmieren, wenn ich nicht seit zwei Minuten in der Lage wäre, Herr Staatsanwalt, dem ganzen Gerüst Ihrer Anklage den Boden zu entziehen! In solch einer Lage gibt es meiner Überzeugung nach für jemanden, der wie ich berufen ist, dem Recht zu dienen, keine Wahl!«

»Verzeihen Sie, aber Sie sprechen hier mit einem abgebrühten, höchst ungläubigen Thomas!« ließ sich die doch etwas erregte Stimme des Dr. Sigrist vernehmen. »Sie sind ja immer etwas aufgeregt, verehrter Herr Doktor! Was haben Sie denn um Himmelswillen wieder entdeckt?«

Ich brachte meinen Schnurrbart dicht an das Sprachrohr. Ich versetzte halblaut, so langsam, so ruhig, so nachdrücklich wie möglich:

»Die Gestalt des grauen Herrn ist kein leerer Wahn. Sie existiert. Oder sie hat existiert. Sie war tatsächlich in der Villa, in die drei höchst brüchige und nun höchst gerechtfertigt dastehende Zeugen sie haben eintreten sehen!«

»Nanu?« Es klang verblüfft und langgezogen aus der Hörmuschel. »Woher wollen Sie denn das wissen?«

»Ich halte, während ich jetzt mit Ihnen spreche, hier die untrüglichen Beweismittel in der Hand. Frau Sandner hat um diese Beweismittel gewußt und sie bisher, zu ihrem eigenen Verderben, verschwiegen. Sie hätte sie mir auch jetzt nicht verraten, wenn sie nicht gefürchtet hätte, daß diese Beweismittel morgen, bei der nochmaligen Durchsuchung der Villa, doch zum Vorschein gekommen sein würden!«

»Das ist ja allerhand ... « begann der Staatsanwalt Sigrist. Ich unterbrach ihn.

»Ich lasse alles hier liegen, wie es ist, und mache, daß ich in die Stadt zurückkomme und suche Sie gleich auf!«

»Nein! Nein!« tönte es aus dem Apparat. »Bleiben Sie um Gotteswillen draußen, und bewachen Sie das corpus delicti, bis ich komme!«

»Sehr gemütlich ist es hier nicht in diesem Haus, in dem mein Freund ermordet wurde!«

»Ach was! ... Nur keine Nerven, Verehrtester! Paßt nicht zu unserem Metier! Ich springe in meinen Wagen und bin in einer Viertelstunde bei Ihnen draußen in der Villa Sandner!«


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