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21.
Aufzeichnung des Staatsanwalts Dr. Sigrist

Der Herr Staatspräsident gab mir, nachdem er sich von der ersten Erschütterung erholt hatte, einen Wink. Wir standen alle wie vom Donner gerührt. Ganze Gedankenreihen wirbelten einem durch den Kopf. Sie mußten sich jetzt in rasches und rücksichtsloses Handeln umsetzen. Ich verstand das Zeichen von drüben, meines Amtes zu walten. Ich näherte mich dem unheimlichen Mann, der gebrochen auf dem Rohrstuhl an der Tür mehr lag als saß und mit vor Schrecken halb offenem Mund mich aus verglasten Augen anstarrte. Man konnte da wieder erkennen, wie der Schein trügt. Plötzlich – so dünkte mich – schimmerte hinter diesen an sich so nüchternen und philiströsen Zügen dieses grauköpfigen Kaffeehändlers gespenstisch ein zweiter, ein vielleicht schon seit vielen Jahren durch biedermännische Spießigkeit getarnter Mensch hervor.

Dieser Daniel Nottebohm hatte die Beine hilflos lang ausgestreckt. Er zog sie an sich, als ich auf ihn zutrat, und versuchte sich zu erheben. Die Knie trugen ihn nicht. Er sank auf den Sessel zurück und schluckste schuldbewußt und duckte sich unter meinem Blick, dem er ängstlich auswich. Denn er hatte in mir – das sah ich – den Staatsanwalt von damals, den Wächter des Gesetzes erkannt.

»Bleiben Sie sitzen, Herr Nottebohm, wenn Sie nicht stehen können!« sagte ich. »Und beantworten Sie, bitte, meine Fragen: Stellen Sie das in Abrede, was der Herr Witzel hier vorbringt?«

Herr Nottebohm erwiderte nichts, sondern starrte verzweifelt vor sich hin.

»Oder sind Sie in jener Nacht an Herrn Witzel vorbei auf die Villa zugegangen, in der kurz darauf der Mord geschah?«

»Ich kann noch mehr Zeugen nennen, die Sie in der Nacht um diese Zeit da draußen gesehen haben!« sprach der Gänsehändler Witzel freundlich, als wollte er Herrn Nottebohm einen besonderen Gefallen erweisen. Er wußte ja immer noch nicht, um was es eigentlich ging.

Daniel Nottebohm hob seine grauen Augen, die sonst etwas von der Kälte des Kontors an sich gehabt hatten und jetzt wie von einer gespenstischen Hornhaut überzogen schienen. Ich mußte mich zu ihm hinunterbeugen, um das Lispeln zu vernehmen, mit dem er hervorstieß:

»Tscha – da draußen bin ich ja wohl in der Nacht gewesen!«

»Und auf die Villa zugegangen?«

»Tscha!«

»Und in die Villa eingetreten?«

»Nö! Nö!«

»Herr Nottebohm: Bleiben Sie bei der Wahrheit!«

»Nö! Das nicht!«

»Sie behaupten also, Sie seien zwar auf das Haus zugegangen, aber nicht hineingegangen?«

»So war dat!« lallte Nottebohm. Ich zuckte die Achseln.

»Wir werden Ihnen sofort durch drei Zeugen das Gegenteil beweisen!« Ich drehte mich um: »Wer hat denn überhaupt dem De Poorter und seinem Volk die Erlaubnis gegeben, sich da unten unter die Menge zu mischen?«

»Die drei sind, wie der Wachtmeister einen Augenblick nicht aufpaßte, von ihrer Zeugenbank draußen die Treppe hinuntergelaufen! Die Rübel hat die beiden Männer dazu angestiftet!« sagte der junge Regierungsrat mit den Schmissen. »Ich habe es ja schon vorhin gemeldet, daß sie mit ihrem Gerede von dem grauen Herrn unter den so schon aufgeregten Leuten die tollste Unruhe hervorrufen!«

»Man soll sie sofort hierher zur Stelle bringen!«

»Hoffentlich glückt es in der Dunkelheit, sie aus dem Gewühl herauszufischen und dingfest zu machen!« Der Regierungsrat eilte davon. Ich maß den Kaffeegroßhändler Nottebohm mit einem langen Blick.

»Sie gingen eingestandenermaßen auf die Villa zu. Hat vielleicht da drinnen Fräulein Heidebluth, deren Beziehungen zu Ihnen ... «

»Och nö! Bitte sehr! Keine Beziehungen! Wir sind ja wohl mit allem Anstand verlobt!«

»Gut. Also deren Verlobung mit Ihnen ein öffentliches Geheimnis ist – hat Fräulein Heidebluth Sie vielleicht in der Villa erwartet?«

»Dat's nich wohl möglich! Denn ich bin nicht in der Villa gewesen!«

»... oder haben Sie im Gegenteil Fräulein Heidebluth mit jemandem in der Villa überrascht?«

»Dat's nich wohl möglich! Denn ich bin nicht in der Villa gewesen!«

»... und diesen Jemand – also sagen wir schon Leopold Sandner – aus Eifersucht erschossen?«

»Dat's nich wohl möglich! Denn ich bin nicht in der Villa gewesen!«

»Herr Nottebohm! Machen Sie sich klar, was Sie uns da zumuten? Sie sind da draußen. Sie gehen auf die Villa zu, Sie werden beim Eintritt gesehen ... «

»Ich habe die längste Zeit anonyme Briefe gekriegt!« sprach Daniel Nottebohm leise und unsicher. Er wagte mir dabei nicht in die Augen zu sehen. Auf seinem verfallenen Gesicht lag jener gequälte Ausdruck, den ich aus vielen Verhören kannte, wenn der in die Enge getriebene Verdächtige keinen Ausweg mehr weiß und doch, schon ganz abgehetzt und verwirrt, auf noch irgendwelche neuen Ausflüchte sinnt. »Die anonymen Briefe – das war ja wohl seit Jahr und Tag eine Pest in unserer Stadt. Dat hat erst aufgehört, seitdem Sandner ... «

Er bekam keinen Atem. Er verstummte. Ich beachtete wohl und tauschte einen schweigenden Blick mit den anderen Herren, daß er das »tot ist« nicht ergänzte. Dies Wort »tot« wollte ihm nicht über die Lippen. Er schluckte und drehte dabei fiebrig seinen grauen weichen Filzhut zwischen den Fingern.

»Den letzten solchen Brief – den trug ich ein paar Tage damals schon mit mir herum! Darin stand: ›Sie armer später Freier! Wenn Sie Fräulein Heidebluth mit Herrn Sandner zusammen treffen wollen, dann schauen Sie einmal Donnerstag um elf Uhr nachts im Vorbeigehen, ob seine Villa draußen leer ist! Eine, die es gut meint!‹ Da hatte ich nun den Floh im Ohr! Es war nicht recht von mir, aber an dem Abend habe ich alter Esel meine schwache Stunde gehabt und bin ja wohl richtig hin und meinetwegen an dem Witzel vorbei und bis ziemlich nahe der Villa. Da hatte es nun schon vor ein paar Minuten elf Uhr vom Turm geschlagen, und wenn ich in die Villa hineinwollte, so mußte ich mich entschließen!«

»Und Sie hatten einen Schlüssel und sind hinein?«

»Ich habe in einer Seitengasse gestanden, und auf einmal habe ich mir gesagt: ›O pfui, Nottebohm! Du alter Sünder! Pfui! Wer wird an Luischen zweifeln?‹ Da ist mir leicht ums Herz geworden, und ich bin ganz still und getrost durch die Seitengasse wieder weggegangen.«

»Herr Nottebohm!«

»... und habe mir freudig die Hände gerieben und gedacht: ›Das Luiseken liegt ja schon sanft daheim in ihrem Bett.‹«

»Herr Nottebohm!« sprach ich. »Können Sie sich nicht entschließen, mir einmal frei in die Augen zu sehen? Sie weichen ja meinem Blick aus, wie das schlechte Gewissen selber! Also bitte! So! Nun sagen Sie offen: Sie haben – vermutlich durch den anonymen Brief aufmerksam gemacht – es festgestellt, daß Fräulein Heidebluth sich in der fraglichen Nacht nicht daheim in ihrer Wohnung befand ... «

»Wa– was?« sprach Herr Nottebohm ungläubig und erhob sich langsam auf zitternden Beinen.

»... und erst morgens dorthin zurückkehrte!«

»Alles mag sein, aber dat's nicht möglich!«

»Es ist doch so, Herr Nottebohm!«

»Wer hat Ihnen das lügenhafte Zeug vertellt?«

»Fräulein Heidebluth hat es uns vorhin selber zugegeben, daß sie die Nacht über außer Haus war! ... Bringen Sie mal dem Herrn Nottebohm schnell ein Glas Wasser! Er fällt uns sonst um! So! ...Haben Sie sich soweit erholt, Herr Nottebohm?«

»O Gott ... o Gott ... «

»Nur wo sie war, das wollte Fräulein Heidebluth uns noch nicht verraten! Es läßt sich aber allenfalls vermuten! Finden Sie nicht auch, Herr Nottebohm?«

»Oh – dat's slimm! Dat's slimm!«

»Sind Sie nicht auch auf die Villa draußen verfallen, auf die der anonyme Brief Sie hingewiesen hat, wie Sie ja selber zugeben, und haben sich unwiderstehlich zu dieser Villa hingezogen gefühlt und diese Villa vor den Augen von drei Zeugen eine Viertelstunde, ehe in dieser Villa der Schuß fiel, betreten und sind in der Zwischenzeit nicht wieder aus dieser Villa herausgekommen?«

Was Daniel Nottebohm daraufhin lallte, konnte ich nicht verstehen. Denn das unbestimmte Brausen der Menge unten auf dem Platz, das uns schon den ganzen Abend in den Ohren geklungen hatte, war allmählich zu einem ganz abenteuerlichen, unserer Stadt, die sonst doch kühl bis ans Herz hinan war, ganz ungewohnten Leben angeschwollen. Ich blickte verstohlen auf den Herrn Präsidenten, ob er nicht den Befehl geben würde, mit Hilfe der Schutzmannschaft den Platz zu säubern und eine Beeinflussung der Zeugen durch dies wirre Geschrei von hellen Frauenkehlen und dunklen Männerstimmen und das Pfeifen und Johlen der lieben Gassenjugend zu vermeiden. Aber der Herr Präsident, der ja oft eine merkwürdige Gabe hat, bei anderen die Gedanken zu lesen, versetzte:

»Lassen wir der Vox populi unten ihre Stimmbänder! Sie wissen: Ich verbiete nicht gern! Das kann nämlich jeder. Wenn ich überhaupt etwas verbieten möchte, dann ist es das Verbieten!«

Der junge Regierungsrat war wieder da. Er meldete:

»Herr Präsident! Man sieht die drei Unglücksraben, den De Poorter und Genossen, dort in der Masse, aber man kriegt sie nicht heraus. Die Leute stehen ja gedrängt wie die Hammel. Alles spektakelt durcheinander!«

»Was regt denn nur die Volksseele gerade in dieser letzten Viertelstunde so auf?«

»Die Leute schreien einander zu, nun hätte man endlich den richtigen Täter erwischt!«

»Wie ist denn das schon wieder durchgesickert?«

»So etwas läßt sich bei dem ewigen Aus und Ein von Depeschenboten und Reportern und allerhand Leuten treppauf, treppab heute nacht ja gar nicht vermeiden, Herr Präsident ... Und dieser Täter – das ist schon öffentliches Geheimnis unten auf dem Platz – befindet sich hier oben ... «

Das Geschrei vor den Fenstern verstärkte sich. Der Herr Präsident sagte ganz ruhig:

»Hoffentlich denken die Tumultanten nicht daran, hier einzudringen! In diesem Fall nämlich kenne ich keinen Spaß! Das würden die Herrschaften zu ihrem Leidwesen erfahren!«

»Hu! Nicht lynchen!« stöhnte Herr Nottebohm. Er lehnte wie ein Haufen Unglück in seinem weiten grauen Mantel an der Wand. Die Zähne klapperten ihm vor Angst. »Bloß nicht lynchen!«

»Wir sind nicht in Wildwest, Herr Nottebohm! Wie Sie auch sonst zu den Gesetzen stehen – Sie stehen hier unter dem Schutz der Gesetze!«

»Sie sollen mich bloß nicht lynchen! Lieber hänge ich mich vorher auf!«

Daniel Nottebohm machte einen halb unzurechnungsfähigen Eindruck. Ich zuckte die Achseln und warf einen fragenden Blick auf den Herrn Präsidenten, was nun mit dem unheimlichen Menschen vorläufig geschehen sollte.

»Die Zeugen, die ihn überführen sollen, sind noch nicht zur Stelle!« sagte ich. »Und die Heidebluth, mit der man ihn vor allem konfrontieren müßte, ist, wie mir der Arzt eben sagen läßt, immer noch mehr tot als lebendig. Man muß ihr Zeit lassen, damit sie Kräfte für den Rest ihres Geständnisses, nämlich wo sie die Nacht gewesen ist, sammelt! Sonst erleben wir bei ihr eine neue Nervenkomödie in verstärkter Aufmachung, wenn sie sich plötzlich ihrem Nottebohm gegenübersieht!«

»Dann bitte ich, Herrn Nottebohm inzwischen abführen zu lassen und draußen bis auf weiteres unter sorgfältiger Bewachung zu halten!« sagte der Herr Präsident. Herr Nottebohm wollte noch etwas reden. Aber die Worte versagten ihm. Es war nur undeutlich sein altes Gestammel: »Nicht in der Villa gewesen ... Nöch? ... Nicht hineingegangen ... « Dann ließ er sich willenlos von zwei kräftigen Wachtmeistern, mit seinen beiden Armen auf ihre Schullern gestützt, wie ein Wrack abschleppen.

In das allseitige, immer noch verdonnerte Schweigen, das dem Abtransport dieses Wolfes im Schafspelz folgte, fragte der Herr Präsident:

»Unsere guten Bürger sind doch sonst nicht so sizilianisch heißblütig! Denken die Leute da unten denn wirklich an Tätlichkeiten?«

»Durchaus nicht!« sagte der junge Regierungsrat mit den vielen Schmissen. »Die haben bloß gehört, der graue Herr sei oben entlarvt und festgenommen, und merkwürdig: Auf einmal wird der graue Herr in den Köpfen lebendig! Der und jener erklärt, ihn schon früher gesehen zu haben! Der treibe schon seit Jahr und Tag in der Stadt sein Wesen ... «

»In der Tat merkwürdig ... «

»Irgendeiner schwört da und dort auf dem Platz Stein und Bein, er sei dem grauen Herrn schon einmal leibhaftig begegnet – und, wie die Leute sind – die drängen sich um den Volksredner und hören ihm mit offenen Mäulern zu!«

Ich hatte neben dem jungen Regierungsrat gestanden, als er von der plötzlichen unbestimmten Verkörperung des grauen Herrn im Volksmund berichtete, und beinahe geistesabwesend den mächtigen Heidelberger Durchzieher betrachtet, der ihm wie ein rotvernarbtes Lineal schnurgerade vom Ohr bis zum Mundwinkel über die linke Backe lief. Nicht eigentlich geistesabwesend, sondern mein Geist arbeitete schon über die Worte des jungen Beamten hinaus: Wenn es gelang, hier Material zu sammeln, dann hatten wir Nottebohm mit dem Verdacht dieses einen Totschlags oder Mords noch unterschätzt! Dann brachten wir in ihm vielleicht einen ganz gefährlichen, heimlichen und langjährigen Berufsverbrecher zur Strecke.

»Man darf nichts unversucht lassen!« sagte ich. »Wenn einer von diesen Menschen unten etwas auch nur halbwegs Vernünftiges über den grauen Herrn zu wissen glaubt, so muß man ihn unbedingt und sofort anhören!«

»Das habe ich mir gedacht«, antwortete mir der eifrige junge Regierungsrat, »und einen von den Leuten, die sich an mich drängten, auf alle Fälle mit heraufgebracht!«

Er ging zur Tür und ließ ein grieses, mageres Männchen herein, das, sein Hauskäppchen ehrerbietig in der Hand, mit einem freundlichen Lächeln auf den verrunzelten Zügen in die Mitte des Saales schusselte.

»Nun wiederholen Sie hier haargenau, Herr Ranft, was Sie mir unten in aller Eile in dem Tumult anvertraut haben!« sprach der Regierungsrat.


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