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37.
Fernere Aufzeichnung des Staatsanwalts Dr. Sigrist

Nach kaum zwanzig Minuten tönte aus der Ferne durch die Nachtstille das Summen des Autos. Es rollte heran. Es stoppte vor der Villa Sandner. Der Assessor Fabri kletterte heraus – etwas schwerfällig, wie er bei seiner Dicklichkeit immer war – und wollte Lisbeth Morell beim Aussteigen behilflich sein. Es war nicht nötig. Sie sprang, dünn und schmächtig, wie sie war, mit einem zornigen Satz aus dem Wagen. Sie hatte nicht ihre gewohnte Kühle. Man sah ihrer sonst matten und ganz hübschen Blondheit an, daß sie ganz außer sich war. Sie lief erbittert und verängstigt auf mich zu, ihr stoßweiser Atem kräuselte sich im Schein der Torlaterne in der frischen Nachtluft.

»Was heißt denn das?« wollte sie empört und in großer Unruhe wissen. »Was fällt denn Ihrem dicken jungen Mann da ein, mich trotz meiner fortwährenden energischen Proteste unterwegs hierher zu verschleppen? Das ist ja Freiheitsberaubung! Das ist Menschenraub!«

Diese Ausdrücke hatte sie aus der Praxis ihres Mannes, des Rechtsanwalts. Ich beruhigte die sonst so konventionelle Dame, die für gewöhnlich wie ein Glas Wasser war, farblos, ohne besondere Eigenschaften.

»Diese Nacht hat es nun einmal in sich, gnädige Frau! Das ist keine gewöhnliche Nacht. Das ist sozusagen eine Nacht der Nächte, an die wir alle zeitlebens denken werden. Da müssen auch Sie uns helfen! Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich brauche Sie hier drinnen als Zeugen!«

»Hier, in dem Sandnerschen Haus?«

»Bitte, treten Sie ein! Ich bin ja bei Ihnen, falls Sie sich fürchten sollten!«

Lisbeth Morell blieb störrisch stehen.

»Dies Haus geht mich gar nichts an!« sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich da drinnen soll!«

»Ich möchte Sie doch bitten!«

»Ich kann über das Haus gar keine Auskunft geben. Ich weiß nicht darin Bescheid. Ich bin überhaupt nur ganz wenige Male vorigen Sommer darin gewesen. Die Margot kam immer, wenn sie mich sehen wollte, mit ihrem Wagen in die Stadt!«

»Das weiß ich alles, gnädige Frau! Und trotzdem ...«

»Nein. Ich gehe nicht in das Haus!«

»Ja, aber was haben Sie denn für Gründe?«

»Ich mag nicht in ein Haus, in dem man jemanden ermordet hat, und noch dazu den Mann meiner besten Freundin!«

»Überwinden Sie sich!«

»Nein. Nicht zehn Pferde bringen mich in solch ein Haus!«

Ich stand vor der blassen, blonden, nervös in sich zusammenschauernden Dame und schaute ihr sehr ernst ins Gesicht.

»Nun reißen Sie sich mal zusammen, gnädige Frau!« sagte ich. »Das macht ja einen ganz sonderbaren Eindruck! Sie sind doch die bessere Hälfte eines Rechtsanwalts. Sie müssen also doch die Justiz unterstützen!«

Lisbeth Morell antwortete nicht. Sie starrte nur immer unruhig auf das Haus.

»Ihr Mann verteidigt doch Ihre beste Freundin! Da wollen Sie doch helfen, wenn Sie irgend können?«

Ein banges, kurzes Nicken.

»Sie sind doch sonst nicht so schwachmütig! Sie sind doch eine ruhige, ausgeglichene Natur!« fuhr ich fort. »Sie setzen sich ja mit dieser unerklärlichen Scheu, das Haus zu betreten, in ein ganz falsches Licht vor aller Welt! Das wollen Sie doch nicht, nicht wahr?«

Lisbeth Morell machte nur eine hilflose Bewegung mit den in leisem Grauen hochgezogenen Schultern. Aber mir schien, daß ihre innere Widerstandskraft nachließ.

»Fürchten Sie sich doch nicht, verehrte Gnädige!« schloß ich. »Ich bin doch da! Die Staatsgewalt selber bietet Ihnen den Arm! Darf ich bitten?«

Frau Morell legte wortlos ihre schmale, behandschuhte Linke in meinen Arm. Sie ließ sich von mir die Eingangsstufen hinaufführen. Ich öffnete das mißtönend in den verrosteten Angeln quäkende Haustor.

»Ich verhafte jedes Gespenst, das sich da drinnen zeigt! Da seien Sie unbesorgt!« sprach ich tröstend. »Außerdem – Sie sehen ja: Die Diele ist anheimelnd hell. Das Rauchzimmer auch. Es wäre ganz gemütlich ... wenn die Erinnerung nicht wäre ... «

Ich versetzte das in einem langsamen Ton. Ich gab Lisbeth Morells Arm frei. Die ganze Zeit hatte ich bemerkt, daß ihr Körper zitterte. Wir befanden uns in dem Rauchsalon. Ich fuhr fort:

»Nun zeigen Sie mir, bitte, an welchem von den beiden Fenstern Sie Leopold Sandner damals haben stehen sehen! Deswegen bemühte ich Sie hierher! An dem links? Danke!«

»Bitte!« sagte Frau Morell. Sie fand jetzt allmählich ihre Ruhe wieder.

»Später sahen Sie hinter dem Vorhang den Schatten eines Mannes sich bewegen. Das müßte also, von uns aus gesehen, nach rechts gewesen sein?«

»Ja.«

»In das dunkle Nebenzimmer dort hinein?«

»Ja, natürlich!« Lisbeth Morell fing an, sich zu erholen. Ihre Stimme klang nicht mehr ängstlich, sondern ärgerlich.

»Was ist das für ein Zimmer?«

»Ich weiß nicht! Ich habe so eine dunkle Erinnerung vom Sommer her, als ob da ein Salon gewesen wäre! Aber ich weiß es wirklich nicht!«

»Wir können ja einmal hineingehen und schauen! Mir liegt daran, festzustellen, ob von da eine Verbindung zu dem Garderobenraum hinter der Diele führt!«

»Ich habe keine blasse Ahnung!« meinte Lisbeth Morell schroff. Aber sie folgte mir. Ich sagte:

»Es ist leider dunkel da drinnen! Ich muß erst den Knipser suchen. Er soll an der Tür rechts sein. Aber wahrscheinlich an einer anderen Tür. Man muß sich hintasten!«

»Aber dann, bitte, Schluß!« hörte ich hinter mir Lisbeth Morells ungeduldige Stimme. »Immer wieder werde ich nach denselben Dingen gefragt, die ich schon hundertmal beantwortet habe! Ich habe es jetzt auch schon satt!«

»Da vor mir scheint die Tür zu sein!« versetzte ich. Ich stolperte. Ich wäre beinahe hingestürzt. Ein Stuhl fiel um. Lisbeth Morell hinter mir rief rasch und unwillkürlich:

»Passen Sie doch auf! Da ist doch eine Stufe!«

Ich fuhr herum:

»Woher wissen Sie denn das in dem Dunkel, gnädige Frau?«

Noch in meine Frage hinein drüben Frau Morell schnell:

»Warten Sie! Ich mach' Licht!«

Es wurde hell.

»Wieso haben Sie, gnädige Frau, im Dunkeln sofort den Knopf gefunden? Wieso wissen Sie denn hier Bescheid? Ich denke, Sie sind fast nie hiergewesen?«

Lisbeth Morell stand in der plötzlichen Helle schreckensstarr mit nachträglich zusammengebissenen Lippen. Dann stieß sie einen unterdrückten Angstruf aus und huschte an mir vorbei und verschwand wie ein dunkler Schatten in der Dämmerung der vor uns liegenden Zimmerflucht, offenbar dem Ausgang zu, von mir fort, nur fort ...

»Gnädige Frau – das hilft nichts! Das ist jetzt zu spät – jetzt haben Sie sich verschnappt!« rief ich. Ich folgte ihr. Es war kaum möglich, so sicher schlüpfte der undeutliche Umriß ihrer Gestalt eilig durch die Räume. Ich rief wieder hinter ihr her.

»Gnädige Frau! Sie müssen schon nachts in der Villa gewesen sein! Bleiben Sie doch stehen! Antworten Sie mir!«

Statt einer Erwiderung sah ich Lisbeth Morells Schattenriß schon im nächsten Gemach.

»Gnädige Frau! Sie finden sich ja hier zurecht wie eine Katze im Dunkeln!« rief ich nochmals durch das Dämmern. »Sie haben diese Villa schon sehr oft betreten. Sie wissen ja, wie die Möbel alle stehen. Sie weichen von selber dem großen Stehspiegel da aus. Sie sind von selber um die Bettkante gebogen, an die ich eben anrenne! Au! Verdammt!«

Ich mußte stehenbleiben. Ich griff nach dem schmerzenden Schienbein. Ich fuhr mit der Hand in die Hosentasche. Ich bekam endlich die kleine elektrische Taschenlaterne zu fassen, nach der ich schon die ganze Zeit vergeblich gefingert hatte. Ich knipste sie an. Schwere Eichenholzmöbel umgaben mich. Ich befand mich in Leopold Sandners Schlafzimmer.

Ich war allein. Ich hörte draußen schon das Haustor quietschen, durch das Lisbeth Morell flüchtete. Ich eilte hinterher. Gott sei Dank: Mein Assessor Fabri war auf dem Posten. Er hatte sich auf dem Bürgersteig Frau Morell in den Weg gestellt. Ich hörte, wie er kurzatmig keuchte:

»Nein, gnädige Frau! ... Wenn Sie in solcher Verfassung aus dem Haus gestürzt kommen ... das gibt es nicht! Ich habe Sie hier hinausgebracht, ich bin für Sie verantwortlich. Ich lasse Sie nicht allein in die Nacht hinauslaufen, ehe nicht der Herr Staatsanwalt da ist und Sie entläßt!«

Ich war schon da. Ich sagte zu Lisbeth Morell:

»Da hat mir das Glück noch geholfen! Ich wollte eigentlich drinnen im Hause nur aus Ihrem Benehmen einige bestimmte Schlüsse ziehen – ebenso wie bei Ihrem Gatten. Sie haben mir bei der Gelegenheit durch Ihre Unvorsichtigkeit mehr verraten, als ich erwarten konnte!«

»So? Was denn?« stieß Frau Morell hervor. Sie brachte es immer noch fertig, eine gewisse Fassung zu bewahren.

»... daß Sie Sandners Geliebte waren!« sagte ich. Ich stand mit ihr etwas abseits. Der Assessor Fabri hörte uns nicht.

Es war immerhin merkwürdig, wieviel Willenskraft in dieser Frau war. Sie gab sich nicht geschlagen. Sie warf den Kopf ins Genick. Sie fragte empört:

»Wie kommen Sie dazu, mich derart zu verdächtigen?«

»... weil Sie einen Meineid geschworen haben! Und mich das als Staatsanwalt interessiert!« versetzte ich. »Bitte – kollern Sie nicht erst auf! Sie sind doch eine Dame. Also bewahren Sie Haltung! Kommen Sie doch, bitte, rasch einmal mit mir die fünfzig Schritte die Straße hinunter bis zu der Stelle am Parkgitter, wo Sie damals gestanden haben, nachdem sich Frau Sandner von Ihnen getrennt hatte, um die Villa zu betreten!«

Frau Morell wagte keinen Widerstand. Wir waren an Ort und Stelle. Ich begann:

»Das verhängnisvolle Rauchzimmer drüben ist hell wie in jener Nacht, wo Sie Leopold Sandner, noch ehe es elf Uhr schlug, am Fenster gesehen haben!«

»Ja.«

» ... ehe es elf Uhr schlug – wohlgemerkt!«

»Ja doch!«

»Leopold Sandner hat aber zu Ihrem Unglück die Villa erst fünf Minuten, nachdem es elf Uhr geschlagen hatte, betreten. Das weiß ich seit etwa einer Stunde ganz genau. Das kann ich jederzeit mit vollkommener Sicherheit nachweisen! Es stand also ein anderer Mann am Fenster als er! Wer war das?«

»Ich habe Sandner gesehen!« sagte Lisbeth Morell.

»Nein. Sie haben nicht den gleich darauf Erwarteten gesehen, sondern seinen Mörder! Der auf ihn wartete! Wer war das?«

»Ich habe Sandner gesehen!« wiederholte Frau Morell hartnäckig.

»Das ist unmöglich – sage ich Ihnen doch!«

»Jedenfalls glaube ich, ihn gesehen zu haben!«

»Das ist ausgeschlossen!«

»Wieso? Der Mensch kann sich doch täuschen!«

»In diesem Fall nicht. Der Unbekannte stand im hellen Licht des Fensters. Draußen war voller Mondschein. Sie haben selbst bekundet, daß Sie nicht kurzsichtig sind – daß kein Schleier vor dem Gesicht Sie behinderte ... Frau Morell: Sprechen Sie die Wahrheit! Wer war das?«

»Vielleicht überhaupt niemand!«

»Und wegen eines Niemand belasten Sie vor Gericht Ihr Gewissen mit einem völlig überflüssigen Meineid? Frau Morell – das glauben Sie ja selber nicht, daß ich Ihnen das glaube!«

Lisbeth Morell schwieg. Sie hatte etwas seltsam Versteinertes an sich.

»Frau Morell, gestehen Sie: Wer war der Mann, der nach dem Schuß aus der Villa geflüchtet sein muß und dessen Nichtvorhandensein Sie vor Gericht beschworen?«

»Ich habe niemanden gesehen!«

»Diese Antwort beweist mir, wie nahe Ihnen dieser Mann gestanden haben muß oder noch steht! Sie haben Sandner geliebt – das leugnen Sie ja auch gar nicht mehr. – Er hat Sandner, Ihren Geliebten, ermordet. Trotzdem decken Sie seine Tat durch Meineid!«

»Ich weiß von nichts!«

»Frau Morell – damit kommen Sie doch nicht weiter! Ich will Ihnen helfen: Es gibt nur einen einzigen Mann auf der Welt, den Sie in Ihrer Lage schonen wollten oder schonen mußten ...«

»Ich kenne keinen!«

»Sein Name liegt so gut auf Ihren Lippen wie auf meinen. Ich darf ihn nicht aussprechen, um Sie nicht zu beeinflussen. Nennen Sie ihn jetzt endlich!«

Lisbeth Morell stand stumm. Ich legte ihr leicht die Hand auf die Schulter.

»Ich muß Sie zu meinem Bedauern bitten, sich als verhaftet zu betrachten, gnädige Frau! Bitte – kommen Sie mit zu dem Wagen!«


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