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35.
Zwischenbericht des Rechtsanwalts Dr. Paul Morell

Die kurzen folgenden Zeilen habe ich auf besonderen Wunsch des Herrn Dr.. Sigrist niedergeschrieben. Er sagt: was damals in mir vorgegangen sei, das müsse ich besser wissen als er! Er habe in jenen Minuten nicht in meiner Seele lesen können.

Und er hat es damals doch getan ...

Ich hatte, seit wir in dem Hause waren, das drückende Gefühl, daß er es tat. Oder daß sich ihm wenigstens irgendwelche Vermutungen aufdrängten – unbestimmte Vermutungen vielleicht. Aber ich lieferte ihm in meinem gegenwärtigen Zustand ja selber die Unterlagen dazu. Das fühlte ich in einer hilflosen, lähmenden Beklemmung.

Ich fürchtete mich förmlich vor diesem großen starken jovialen Mann mit seinem gesunden Menschenverstand und seinem forschenden Blick durch den Zwicker. Ich war gegen ihn in meiner augenblicklichen Nervenverfassung geradezu willenlos. Er hatte mich in den Klubsessel gesetzt. Da saß ich in der hell erleuchteten Diele, mit dem Gesicht gegen den Ausgang, nur zehn Schritte vor mir, und hatte nicht die Kraft aufzustehen.

Ich starrte vor mich hin und machte mir erbitterte Selbstvorwürfe, daß ich nicht besser gegenüber dem Staatsanwalt Sigrist mein Gesicht gewahrt hatte. Ich hätte keinen solchen Mangel an Courage zeigen dürfen! ... Ich hätte nicht so beflissen sein dürfen, das Haus zu verlassen. Ich hätte mich überhaupt nicht so aufgeregt benehmen sollen. Jedem, nicht nur dem mißtrauischen Staatsanwalt, mußte das ja auffallen ...

Ich begriff in meinem Brüten: Ich mußte dem Dr.. Sigrist nachträglich irgendwie mein Benehmen erklären – Ich mußte ihm zugeben, er habe recht! Meine Nerven seien total kaput. Der freudige Schrecken über die Entdeckung der Spuren des grauen Herrn habe ihnen den Rest gegeben. Ich sei weiteren Emotionen mit dem grauen Herrn heute nacht einfach nicht mehr gewachsen. Deswegen hätte ich vorhin wegwollen!

Ich brauchte nur aufzustehen und in das Nebenzimmer zu gehen und dem Dr. Sigrist das zu sagen. So sonderbar es klingt – es war mir wirklich eine Beruhigung, daß ich meinen Widersacher, daß ich Dr. Sigrist hier in meiner Nähe wußte – einen lebenden Menschen – und nicht nur irgendwo im Hause den grauen Herrn. Aber ich blieb tatenlos sitzen.

Ich hörte, wie Dr.. Sigrist im Rauchzimmer nebenan mit irgend etwas hantierte. Ich hatte nicht die Kraft, den Kopf dahin zu wenden. Dann war es wieder merkwürdig still. Dr. Sigrist schien mit irgend etwas sehr beschäftigt. Ich faßte einen Entschluß. Ich erhob mich. Ich erreichte auf den Fußspitzen mit drei Sprungschritten die Haustür und legte die Hand auf die Klinke – da hörte ich aus dem Rauchzimmer ein lautes, heiteres »Halt! Hiergeblieben! Sie Drückeberger!« und drehte mich unwillkürlich um und stieß einen Schreckensschrei aus: Drüben im Rauchzimmer, im vollen Licht, unter der Deckenampel, stand der graue Herr und winkte mir zu!

Er hatte den breiten grauen Hut, den großen grauen Mantel, den grauen Vollbart, so wie er von allen, die ihn gesehen, geschildert worden war. Und das Entsetzlichste war mir: der graue Herr lachte ...

Er lachte wirklich und winkte mir wieder, näherzukommen. Ich hatte keinen Willen mehr. Ich trat mit schleppenden Schritten heran. Als ich dicht vor ihm stand, merkte ich erst, daß es der Staatsanwalt Sigrist war, der sich die Attribute des grauen Herrn angelegt hatte. Er sah mich ganz merkwürdig an.


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