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19.
Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Der Herr Staatspräsident hatte die Geduld verloren und den alten Trunkenbold hinausbringen lassen. Er schaute in einer bei seiner milden und frommen Gemütsart seltenen Anwandlung von Unmut zu dem Diener auf, der sich ihm wieder mit einer leisen Meldung genaht hatte.

»Ich kann Herrn Nottebohm nicht helfen, und wenn er, wie er melden läßt, vor Ungeduld Blut und Wasser schwitzt«, sagte er. »Er muß noch ein Weilchen verziehen! Bestellen Sie ihm das! Wo ist die Zeugin?« Er wandte sich an die magere, kleine Kellnerin aus Knolls Taverne, die inzwischen eingetreten war und die sich lässig, mit einem herausfordernden Wiegen der Schultern, in den Vordergrund schob. »Wie ist Ihr Familienname? Ihr Bräutigam weiß den nämlich nicht. Rübel? Also: Tilde Rübel – Ihre Personalien können wir ja später aufnehmen, wenn es überhaupt nötig ist. Erst erzählen Sie einmal, was Sie wissen und ob Sie überhaupt etwas wissen! Haben Sie den grauen Herrn gesehen?«

»Nu – wo werde ich den nich gesehen haben?« sagte die Tilde Rübel. Sie hatte etwas Dreistes und Dummes. »Der war groß und dick genug!«

»Dick?«

»Na – oder war der große graue Mantel, den er angehabt hat, so dick! Ich habe mir den Mann nicht so genau angekiekt! Was interessiert mich so 'n oller Mann!«

»Aber Sie können beschreiben, ob er einen Bart hatte oder ... «

»Einen kurzen grauen Vollbart hatte er und einen Schnurrbart im Gesichte. Das war blaß. Tranig hat er ausgesehen – so recht aufs Geld aus – recht so wie einer von die Reichen hat er ausgesehen. Seine fuffzig hat er gut und gerne auf dem Buckel gehabt. Er hat sich schon Zeit gelassen beim Gehen ... «

»Auf die Villa zu?«

»Na – wohin denn sonst? So 'n Großpapa kann doch nicht auf die Bäume klettern!«

Ich ergriff angesichts der christlichen Geduld des Herrn Staatspräsidenten das Wort.

»Benehmen Sie sich hier anständig«, donnerte ich die Person an, »wenn Sie auch offenbar gar keine Ahnung haben, wer der Herr da ist, mit dem Sie sprechen! Ich rate Ihnen: Lachen Sie nicht so frech! Sonst steckt man Sie ohne weiteres wegen Ungebühr ins Loch! Das sage ich Ihnen – ich – der Staatsanwalt! Mit dem haben Sie ja schon öfters Bekanntschaft gemacht!«

Das Frauenzimmer wurde etwas kleinlaut. Sie murrte:

»Also der graue Herr hat vor der Villa seinen Hausknochen 'rausgelangt und ist 'rein und hat das Tor nicht mal zugesperrt – der Dussel!« Und wieder voll Trotz wider Polizei und Obrigkeit in dem verbissenen, spitzen Gesicht:

»Was geht mich das ganze Geknalle an? Da drinnen haben sie dann geschossen! Mögen doch die Reichen aufeinander schießen! Meinen Segen haben sie! Je doller, je besser! Köppt die nur morgen früh!«

Das Frauenzimmer wurde als unverbesserlich hinausgeleitet. Ich wandte mich zu dem Dr.. Morell.

»Ich beglückwünsche Sie zu Tilde Rübel und dem Pipel-Ede!« sagte ich. »Solche Zeugen habe ich mir schon lange gewünscht!«

»Ich gebe zu, es ist ein brüchiges Material ... « Das Gesicht des Verteidigers schattete düster. Ich fuhr fort:

»Und was Ihren Hauptzeugen betrifft, so haben wir uns telephonisch mit dem Kapitän der »Sieben Provinzen« im Hafen in Verbindung gesetzt. Er gibt an, daß der Schiffsheizer Willem de Poorter schon öfters, soviel er wisse, wegen Körperverletzung und sonstigen Roheitsdelikten mit den Strafgesetzen in Holland, England und wahrscheinlich auch in anderen Ländern in Konflikt geraten sei! Viel Staat ist mit dieser mitternächtigen Löffelgarde von Zeugen wirklich nicht zu machen, Herr Doktor!«

Dr.. Morell antwortete nicht. Er war aufgesprungen. Er schritt schnell und unruhig in dem großen Saal auf und nieder. Man sah, wie der ehrgeizige und wahrscheinlich auch verliebte Mann mit dem erneuten Sinken seiner Hoffnung, Margot Sandner zu retten, kämpfte. Der greise Staatspräsident Dr.. Philipp Nöldechen folgte ihm mit seinen merkwürdig alterstrüben und doch wieder hellsichtigen großen Augen und sagte in seiner leisen, abgeklärten Art:

»Ich fürchte ja auch, wir werden diese Schattengestalt des grauen Herrn nicht zum Leben erwecken. Sie hat etwas entmutigend Unbestimmtes. Sie existiert nur in einigen höchst zweifelhaften Köpfen. Die Frage ist nur: Wie kämen diese Leute dazu, sich diese Erscheinung des grauen Herrn, so wie sie sie übereinstimmend merkwürdig genau schildern, bei hellem Mondschein, auf zehn Schritte Entfernung, einzubilden? Sie haben ja nicht das geringste Interesse daran? Sie haben ja nur Scherereien bei der Polizei und Vernehmungen davon! Weiter nichts!«

Der Präsident rückte die goldene Brille auf der für seinen zarten Körperbau so mächtigen Stirne zurecht und schaute etwas befremdet nach der Tür.

»Das ist ja die neueste Art, mir jemanden unangemeldet hereinzuführen!« sprach er. »Da möchte ich doch sehr bitten ... «

Aber der junge Regierungsrat mit den vielen Schmissen, der eingetreten war, wußte, was er tat. Er strahlte vor Pflichteifer. Er schob einen blühenden, kräftigen jungen Mann aus dem Volk in der ersten Hälfte der Dreißig vor sich her, dessen freimütiges, schnurrbärtiges Gesicht, seine ungezwungene straffe Haltung, sein ganzes bescheidenes, aber bestimmtes und selbstsicheres Wesen den günstigsten Eindruck machten – zumal nach den unerquicklichen Dünsten, die die drei üblen Geister von vorhin im Saal hinterlassen hatten.

»Ich bringe den Gänsehändler Otto Witzel!« verkündete der Regierungsrat stolz. »Es war ein glücklicher Zufall! Herr Witzel hatte gerade geschäftlich in der Stadt zu tun. Er hatte bisher in seinem weit entlegenen Dorf von dem ganzen Prozeß Sandner noch nichts gehört. Nun mischte er sich aus Neugier in die Menge, die hier auf dem Platz das Ministerium belagert und in der übrigens, wie ich außerdem bei dieser Gelegenheit melden möchte, die eben vernommenen drei Zeugen Gruppen um sich sammeln und mit ihren aufgeregten Berichten von dem grauen Herrn, den sie gesehen haben wollen, die Leute aufreizen und noch verrückter machen, als sie so schon heute sind. In diesem Geschrei hörte Herr Witzel seinen Namen rufen. Es wurde von der Polizei gefragt, ob zufällig jemand etwas von dem Gänsehändler Witzel und seinem Wohnort, unter dem man ihn erreichen könnte, wisse! Daraufhin hat er sich sofort gemeldet!«

»Das trifft sich in der Tat sehr gut, Herr Witzel!« sagte der Herr Präsident. »Sind Sie bereit, auszusagen? Dann fangen Sie, bitte, gleich an!«


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