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40.
Niederschrift des Regierungsassessors Dr. Fabri

Ich saß unten mit Frau Morell in dem Wagen. Der Wagen war innen dunkel. Ich saß ihr gegenüber. Ich sah sie nur undeutlich in der Ecke drüben. Sie rührte sich kaum. Sie atmete nur manchmal tief auf. Es war für mich eine eigentümliche Situation. Es erforderte da Takt, sich passend zu benehmen. Sie war doch eine Dame der Gesellschaft. Ich war oft bei ihr im Hause gewesen, hatte Gesellschaften bei ihr mitgemacht, ihr zu Neujahr und zum Geburtstag Blumen gebracht. Nun sollte ich sie auf einmal bewachen. Warum, das wußte ich nicht einmal. Aber ich sagte mir, daß mein hoher Chef schon seine triftigen Gründe zu solch einer Aufsehen erregenden Maßnahme haben würde.

Ich fühlte die Verpflichtung, mich um Frau Morell in ihrer peinlichen Lage ein bißchen zu kümmern. Ich fragte sie, ob sie nicht eine zweite Decke über ihre Knie haben wollte. Sie lehnte mit einer leisen Handbewegung ab. Ich saß wieder eine Weile stumm. Dann fragte ich sie, ob ich vielleicht das Deckenlicht im Wagen anknipsen sollte. Sie wehrte sich dagegen erst recht mit einem heftigen Kopfschütteln.

Nun fiel mir nichts mehr ein. Aber ich wollte doch höflich sein. Also sagte ich endlich:

»Gnädige Frau – kann ich sonst vielleicht etwas für Sie tun?«

Nun sprach sie zum erstenmal, in ganz ruhigem Ton. Sie war ja überhaupt im Leben eine ganz ruhige Frau.

»Lieber Herr Assessor!« sagte sie. »Tun Sie mir einen einzigen Gefallen: ich möchte so gern ein bißchen allein hier im Wagen sein und meinen Gedanken nachhängen können, die, das begreifen Sie – ja nicht gerade rosiger Natur sind!«

Dann setzte sie noch hinzu:

»Haben Sie keine Angst! Ich laufe Ihnen ja nicht davon! Ich bin viel zu matt dazu! So müde – ach so müde! Sie können ja dicht vor dem Wagen stehen und ihn im Auge behalten!«

Gut. Das war kein gewöhnlicher Häftling, den man im grünen Wagen in die Polizei einschafft. Einer Dame wie Frau Lisbeth Morell, noch dazu der Frau des Verteidigers, war man Rücksicht schuldig.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl, gnädige Fran!« versetzte ich mit einer gewissen Ritterlichkeit, die der Wohlerzogene nie außer acht lassen sollte. Ich habe es böse bereut. Von da ab datierte der schwere Knax in meiner Karriere, der sich erst allmählich im Lauf der Jahre, dank meiner Tüchtigkeit, wieder einrenkte.

Ich stand auf dem Bürgersteig vor dem Wagen. Der Chauffeur saß am Steuer und war wach. Ich konnte innen im Wagen undeutlich im Dunkel Frau Morell sehen. Ich bemerkte, daß sie jetzt, allein im Wagen, geschäftiger war, nach irgend etwas kramte und sich dann vorbeugte und mehr als bisher bewegte. Was das bedeutete, wußte ich nicht und legte auch keinen Wert darauf. Denn es konnte ja eigentlich nichts geschehen.

Es bauerte so etwa zehn Minuten. Da öffnete sich das Tor und ein Wachtmeister steckte den Kopf heraus und richtete mir von dem Herrn Staatsanwalt aus, ich möchte mit der Dame hinaufkommen.

Ich machte den Wagenschlag auf. Ich sagte:

»Bitte, gnädige Frau – steigen Sie aus!«

Frau Morell antwortete nicht. Ich wiederholte meine höfliche Aufforderung. Sie antwortete wieder nicht. Ein drittes Mal nicht. Ich sagte:

»Gnädige Frau: Mit passiver Resistenz erschweren Sie uns nur diese heikle Situation! Kommen Sie! Geben Sie mir Ihre Hand, damit ich Ihnen heraushelfe!«

Ich bekam ihre rechte Hand zu fassen. Sie war ohne Handschuh etwas kühl und fest zu einer Faust geballt. Sie überließ mir die Hand ganz willenlos. Sie regte sich nicht und saß still in der Ecke.

Gutes Zureden half nichts. Also zog ich vorsichtig und schonend ein bißchen an ihrem Arm, um ihr ein wenig den Ernst der Lage klar zu machen, sie in Bewegung zu bringen. Schon klappte sie um. Sie fiel, dem Zug meiner Hand folgend, einfach seitlings und mir direkt gegen die Schulter – wie eine Gliederpuppe – direkt wie eine Puppe ...

Das war unheimlich. Ich setzte sie im Dunkel wieder aufrecht. Sie blieb stocksteif sitzen. Ich rief sie an. Ich bekam keine Antwort. Ich machte den Wagenschlag zu. Ich sagte zu dem Chauffeur: »Stellen Sie sich davor und lassen Sie niemand hinein und heraus!« Ich rannte und [Druckfehler: Zeile fehlt. Re] nach dem Gefängnisarzt. Wir liefen alle hinunter nach dem Wagen. Als wir den aufmachten, schnupperte der Doktor und fragte:

»Haben Sie denn das nicht gleich gemerkt?«

»Das strenge Parfüm – freilich!« sagte ich. »Ich dachte, Frau Morell brauchte das zur Beruhigung ihrer Nerven!«

»Hat sich was mit Parfüm!« brummte der Doktor. »Bitterer Mandelgeruch liegt in der Luft! Den kennen wir! Damit gehts zu fix! Da kommt unsere Gelehrsamkeit jedesmal eine Poststunde zu spät!«

Er ließ Frau Morell in das Gebäude tragen. Er untersuchte sie in der Pförtnerloge. Er kam zurück.

»Die Dame ist tot!« sagte er. »Blausäure!«

Wir standen erschüttert. Der Doktor brachte ein Stück Papier zum Vorschein und reichte es dem Herrn Staatsanwalt Sigrist.

»Ich habe ihr vorsichtig die krampfhaft geballte rechte Hand aufgemacht, ehe die Totenstarre eintritt!« sagte er. »Sie hielt diesen Zettel umschlossen. Sie hat ihn offenbar jetzt eben noch im Wagen im Dunkeln mit Bleistift vollgekritzelt. Man sieht es an den kreuz und quer stehenden Buchstaben und den schieflaufenden Linien. Aber entziffern läßt es sich doch! Es ist jedenfalls für die Untersuchung von Wert!«


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