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14.
Eine Seite aus dem Tagebuch des Staatspräsidenten Dr. Philipp Nöldechen

Diese Zeilen aus meinem Tagebuch stelle ich hiermit Herrn Dr.. Sigrist zur Verfügung. Sie halten die entscheidende Wendung im Falle Sandner fest, die sich unmittelbar an die Enthüllung der Zeugin Heidebluth anschloß – nämlich das Auftauchen der Gestalt des grauen Herrn.

*

Der Briefträger und das Hausmädchen waren entlassen, mit dem Bedeuten, sich jederzeit als Zeugen zur Verfügung des Gerichts zu halten. Ein von der Rettungswache geholter Arzt meldete, die Heidebluth läge noch immer ohne Bewußtsein, und es dürfe noch eine gute Weile dauern, bis sie auch nur einigermaßen vernehmungsfähig sein würde. Er werde inzwischen bei ihr bleiben.

»Und wenn sie auch ohnmächtig ist – und wenn sie sogar hinterher sich noch ausschweigt«, rief, kaum daß der Arzt sich zurückgezogen hatte, in leidenschaftlicher Erregung der Verteidiger Morell. »Gerade wenn sie nicht sagen will, wo sie war, weiß man, wo sie war!«

» Fiat lux!« Er hob die gefalteten Hände, mit einem dankbaren Augenaufschlag zum Himmel. Es war keine forensische Schauspielerei, wie sie ihm der Neid nachzusagen pflegte. Dieser Mann war wirklich in diesem Augenblick von einer erdrückenden Last befreit. Er war freudig belebt. Seine schwarzen Augen leuchteten.

»Es werde Licht!« Er atmete aus tiefster Seele auf. »Ja – es wird Licht! Es beginnt schon zu dämmern im Fall Sandner. Wovon ich von jeher überzeugt war – wofür ich ständig vor Gericht eintrat – das muß jetzt jeder zu ahnen beginnen: daß Margot Sandner nicht der einzige lebende Mensch in der Villa war! Dann stürzt der ganze Turm der Anklage in sich zusammen!«

Diese triumphierenden Worte galten dem Staatsanwalt Sigrist, und der sagte in seiner gewohnten Ruhe:

»Wir sind ausnahmsweise einig – der Herr Verteidiger und ich. Die Anklage nur auf Mord wäre in einem solchen Fall nicht aufrechtzuerhalten. Es käme dann auch Totschlag im Affekt in Frage, beim Anblick der Nebenbuhlerin ... «

»Noch wissen wir die Zeugin Heidebluth nicht in der Villa«, sagte ich, »so stark auch – das muß ich zugeben – in dieser Hinsicht der Verdacht gegen sie spricht!«

»Der bloße Verdacht aber genügt«, schrie der Rechtsanwalt völlig außer sich, »um im Fall der bevorstehenden Vollstreckung des Urteils das Gespenst des Justizmordes riesengroß vor unseren Augen aufsteigen zu lassen! Herr Präsident – ich beschwöre Sie! Zögern Sie nicht länger! Gebrauchen Sie die Macht, die Gottes Wille und das Vertrauen des Volkes in Ihre Hand gelegt hat! Herr Präsident: In dieser Hand halten Sie Tod und Leben! Wählen Sie im Namen Gottes und der ewigen Gerechtigkeit!«

Ich war schon längst – sofort nach dem Schweigen der Zeugin Heidebluth – darüber klar, welchen Entschluß die Stunde von mir forderte. Ich wollte mich nur noch sammeln. Ich trennte mich von den beiden Herren. Ich trat nicht zum Fenster. Da unten auf dem Platz sank und stieg ein wirres Stimmengemurmel. Da mahnte und murrte das hundertköpfige Rätseltier, genannt die öffentliche Meinung, und diese hundert Köpfe knurrten gegeneinander und würden, wenn ich mich am Fenster zeigte, in einem mißtönigen Chorus zu mir emporschwellen.

Dieser Zerberus da unten – das wußte ich – würde bis zum Morgenrot meine Schwelle bewachen. Der wich und wankte nicht, bis alles entschieden war. Diesem hundertgestaltigen Ankläger und Schirmer Margot Sandners war ich keine Rechenschaft für mein Tun und Lassen schuldig. Nur meinem Gott.

Ich trat abseits in eine Ecke des Saals. Ich blieb da stehen. Man hätte mir nicht angesehen, daß ich betete. Ich hatte meine Hände nicht gefaltet, sondern auf dem Rücken verschränkt. Aber meine Seele betete. Ich dankte aus tiefstem Herzen meinem Schöpfer, daß er anfing, mich von der furchtbaren, blinden Verantwortung zu entlasten und durch die ersten Zeichen von außen meine Einsicht zu erhellen.

Und mein stummes, inständiges Gebet war, diese erste Warnung von oben mit der Zeugin Heidebluth möchte nicht die letzte gewesen sein, sondern nur der Vorbote weiterer und größerer Offenbarungen in diesem Dunkel.

Darum flehte ich mit aller Kraft meines Gemüts. Noch war ich mit meinem Notschrei nicht zu Ende und wußte nicht, daß meine Bitte an das Schicksal sich schon erfüllte, und war unwillig, als ich hinter mir jenes leise und respektvolle Räuspern vernahm, mit dem Untergebene ihren Vorgesetzten auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen pflegen.

Der junge Regierungsrat meines Ministeriums, der mit einem Blatt Papier vor mir stand, konnte mir freilich nicht anmerken, daß ich mit meinem Gott sprach. Er entschuldigte sich auch nicht. Man sah es seinem mit Mensurnarben bedeckten aufgeregten Antlitz an, daß er überzeugt war, seine Meldung, die er mir in Form jenes Blattes überreichte, dulde keine Minute Aufschub.

Ich nahm und las. Es war die Niederschrift eines soeben in dem Ministerium eingegangenen Fernspruchs aus unserer ein paar Eisenbahnstunden entfernten Hafenstadt. Er kam von der dortigen zuständigen Behörde. Er lautete:

 

»Von dem vor einer Viertelstunde hier aus New Castle eingelaufenen niederländischen Kohlendampfer ›De seven Provinzen‹ ist ein Schiffsheizer von Bord gegangen und hat sich hier sofort als Augenzeuge in Sachen Sandner gemeldet. Ohne vorgreifen zu wollen, erscheinen seine Bemerkungen von größter Wichtigkeit. Was soll mit ihm geschehen?«

 

»Wir haben eine mondhelle, windstille Frühlingsnacht!« sagte der Staatsanwalt Sigrist, dem ich ebenso wie dem Verteidiger die Aufzeichnung zur Einsicht gegeben hatte. »Wenn man den Mann dort in ein Flugzeug setzt, ist er in einer Stunde hier!«

Ich nickte. Der junge Regierungsrat verstand den Wink und eilte davon, um die nötigen Weisungen zu telephonieren. Ich gab ebenso den beiden anderen Herren durch eine Kopfneigung zu verstehen, daß sie sich bis zum Eintreffen dieses fliegenden Holländers als verabschiedet betrachten könnten. Allein geblieben, setzte ich mich an den Tisch und entwarf die Verfügung, kraft deren die Vollstreckung des Urteils gegen Margot Sandner vorläufig auszusetzen sei.


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