Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Einflüsse des Enthusiasmus auf das Glück

Es ist Zeit, von der Glückseligkeit zu reden! Ich habe dies Wort mit großer Besorgnis zurückgehalten, weil man besonders seit einem Jahrhundert die Glückseligkeit in so grobe Freuden, in ein so selbstisches Leben, in so beengte Berechnungen plaziert hat, daß selbst ihr Bild entweiht worden ist. Aber man kann dennoch mit Vertrauen sagen, von allen Gefühlen sei der Enthusiasmus dasjenige, was die meiste Glückseligkeit gewährt, das einzige, das sie wahrhaft gewährt, das einzige, das uns befähigt, das menschliche Geschick in allen Lagen zu ertragen, in die uns das Schicksal versetzen kann.

Vergebens will man sich auf materielle Genüsse beschränken; die Seele bricht allenthalben hervor. Stolz, Ehrgeiz, Eigenliebe, dies alles rührt noch von der Seele her, obwohl ein Gifthauch darin weht. Welches jammervolle Dasein, das diejenigen haben, die sich selbst beinahe ebensosehr, wie andere, belügend, alle großmütigen Bewegungen, die in ihrem Herzen aufkeimen, wie eine Krankheit der Einbildungskraft betrachten, die man in der freien Luft zerstreuen muß! Welche armselige Existenz, die so viele andere führen, die sich damit begnügen, nichts Böses zu tun, und die Quelle, aus der alle schönen Handlungen und alle großen Gedanken herstammen, als Narrheit behandeln! Aus Eitelkeit ziehen sie sich in eine träge Mittelmäßigkeit zurück, die sie dem Licht von außen hätten zugänglich machen können; sie verurteilen sich selbst zu jener Eintönigkeit der Ideen, zu einer Kälte des Gefühls, in der die Tage dahinschwinden, ohne Früchte, ohne Fortschritte, ohne Erinnerungen; und wenn die Zeit nicht ihre Züge furchte, welche Spuren würden ihnen von ihrem Vorüberwandeln geblieben sein? Müßte man nicht alt werden und sterben, welcher ernste Gedanke würde jemals durch ihren Kopf gehen?

Gewisse Schwätzer sagen, der Enthusiasmus mache das Alltagsleben unschmackhaft; und da man sich nicht immer in dieser Stimmung befinde, so sei es besser, sie niemals kennenzulernen. Wohlan, warum haben sie sich denn gefallen lassen, jung zu sein und selbst zu leben, da dies doch nicht immer dauern kann? Warum haben sie – wofern ihnen jemals dergleichen begegnet sein sollte – geliebt, da der Tod sie trennen konnte von den Gegenständen ihres Wohlwollens? Welche traurige Wirtschaft, die man mit der Seele treibt! Sie ist uns gegeben worden, damit sie entwickelt, vervollkommnet und zu einem edlen Zweck sogar verschwendet wird.

Je mehr man das Leben betäubt, je mehr man sich dem nur materiellen Dasein nähert, desto mehr, sagt man, werde die Macht zu leiden vermindert. Dies Argument verführt sehr viele Menschen. Eigentlich besteht die Kunst darin, so wenig als möglich zu leben. Indessen liegt selbst in der Herabsetzung ein Schmerz, über den man sich keine Rechenschaft ablegt und der unablässig im geheimen verfolgt. Die Langeweile, die Scham und selbst die Beschwerde, die er verursacht, werden durch die Eitelkeit in Frechheit und Verachtung verwandelt; aber sehr selten befindet man sich in dieser dürftigen und bornierten Lebensweise wohl, die alle Hilfsquellen abschneidet, wenn wir vom äußeren Glück verlassen werden. Der Mensch hat ein Bewußtsein für das Schöne wie für das Gute, und wenn die Abweichung von dem letztern ihm Gewissensbisse verursacht, so gibt der Verlust des erstern ihm das Gefühl der Leere.

Man beschuldigt den Enthusiasmus der Flüchtigkeit. Das Dasein würde freilich allzu viel Glückseligkeit in sich tragen, wenn man so schöne Rührungen festhalten könnte; aber weil sie sich leicht zerstreuen, so muß man sie zu erhalten suchen. Poesie und schöne Künste dienen im Menschen zur Entwickelung dieser Glückseligkeit edlen Ursprunges, die matte Herzen auffrischt und an die Stelle einer unruhigen Lebenssattheit das habituelle Gefühl der göttlichen Harmonie bringt, von der die Natur und wir einen Teil ausmachen. Jede Pflicht, jede Freude, jedes Gefühl erhält von dem Enthusiasmus, ich weiß nicht welchen Schein der Übereinstimmung mit dem reinen Zauber der Wahrheit.

Vielen Schriftstellern erscheinen die Arbeiten des Geistes als eine beinahe mechanische Beschäftigung, die ihr Leben ungefähr ebenso ausfüllt, wie jeder andere Beruf es ausfüllen würde; ja, der letztere hat wohl gar in ihren Augen den einen oder den andern Vorzug. Aber haben dergleichen Menschen eine Idee von dem erhabenen Glück des Gedankens, wenn der Enthusiasmus ihn belebt? Wissen sie, von welcher Hoffnung man sich durchdrungen fühlt, wenn man durch die Gabe der Beredsamkeit eine tiefe Wahrheit zu offenbaren glaubt, eine Wahrheit, die ein edles Band zwischen uns und allen den Seelen stiftet, die mit der unsrigen gleich empfinden?

Schriftsteller ohne Enthusiasmus kennen auf der literarischen Bahn nur Kritiken, Nebenbuhlereien, Eifersüchtelei, kurz alles, was die Ruhe bedroht, wenn man sich in die Leidenschaften der Menschen mischt. Dergleichen Angriffe und Ungerechtigkeiten tun bisweilen weh; aber wie könnte der wahre innige Genuß des Talents dadurch gestört werden? Wenn ein Buch erscheint – wie viel glückliche Augenblicke hat es dann schon demjenigen gewährt, der es nach seinem Herzen und als eine Handlung seines Gottesdienstes schrieb? Wie viel sanfte Tränen hat er nicht in der Einsamkeit über die Wunder des Lebens vergossen: über die Liebe, den Ruhm, die Religion? Und hat er nicht in seinen Träumereien die Luft genossen, wie der Vogel, die Wellen, wie ein lechzender Jäger, die Blüten, wie ein Liebender, der die Düfte einzusaugen glaubt, von denen seine Geliebte umgeben ist? In der Welt fühlt man sich oft niedergedrückt durch seine Fähigkeiten; man leidet durch den Gedanken, der einzige seiner Gattung unter so vielen zu sein, die so wohlfeil leben. Allein das schöpferische Talent reicht, wenigstens auf Augenblicke, für alle unsere Wünsche aus; es hat seine Reichtümer und seine Kronen; es bietet unseren Blicken die lichten und reinen Bilder der idealen Welt dar, und seine Macht reicht bisweilen so weit, daß es in unserem Herzen die Stimme eines geliebten Gegenstandes zum Erklingen bringt.

Glauben diejenigen, die nicht mit einer enthusiastischen Phantasie begabt sind, die Erde zu kennen? Glauben sie gereist zu sein? – Schlägt ihr Herz für das Echo der Berge? Hat die Luft des Südens sie mit ihrer holden Abspannung berauscht? Begreifen sie die Verschiedenheit der Länder, den Akzent und Charakter der fremden Sprachen? Enthüllen ihnen Volksgesänge und Nationaltänze die Sitten und den Genius der Gegend? Reicht eine einzige Sensation hin, um in ihnen eine Menge Erinnerungen zu wecken?

Kann die Natur von Menschen ohne Enthusiasmus gefühlt werden? – Haben sie jemals mit ihr von ihren frostigen Angelegenheiten, ihren elenden Wünschen reden können? Was würden Meer und Sterne den kleinlichen Eitelkeiten jenes Menschen für jeden Tag antworten? Aber wenn unsere Seele bewegt ist, wenn sie einen Gott im Universum sucht, wenn sie sogar noch Ruhm und Liebe will – dann sprechen die Wolken zu ihr, dann lassen reißende Wellen sich befragen, und das Gesäusel im Dornenstrauch teilt uns etwas von dem Objekt unserer Liebe mit.

Die Menschen ohne Enthusiasmus glauben die Freuden zu fühlen, welche die Künste gewähren. Sie lieben die Eleganz des Luxus; sie wollen Musik und Malerei verstehen, um darüber mit Anmut, mit Geschmack und selbst mit dem Ton der Überlegenheit zu sprechen, die dem Weltmann zukommt, wenn von der Phantasie oder der Natur die Rede ist. Allein was bedeuten alle diese dürftigen Freuden neben dem wahren Enthusiasmus? Betrachtet man den Blick der Niobe, dieses ruhigen und fürchterlichen Schmerzes, der die Götter der Eifersucht über das Glück einer Mutter anzuklagen scheint – welche Bewegung erhebt sich in unserer Brust! Welchen Trost läßt nicht der Anblick der Schönheit empfinden; denn auch Schönheit ist Gemüt, und die Bewunderung, die sie einflößt, ist edel und rein! Bedarf es, um den Apollo zu bewundern, nicht des Gefühls eines Stolzes, der alle Schlangen der Erde unter die Füße tritt? Muß man nicht Christ sein, um die Gesichtsbildung der Jungfrauen Raphaels und des H. Hieronymus von Dominichino zu durchdringen? Um denselben Ausdruck in der bezaubernden Anmut und in einem niedergeschlagenen Gesicht, in der strahlenden Jugend und in den entstellten Zügen wiederzufinden? Denselben Ausdruck, der von der Seele ausgeht und gleich einem himmlischen Strahl die Morgenröte des Lebens und die Finsternisse des vorgeschrittenen Alters durchläuft?

Gibt es Musik für die, die des Enthusiasmus unfähig sind? Eine gewisse Gewohnheit macht ihnen die harmonischen Töne notwendig, und sie genießen sie, wie den Saft der Früchte und die Ausschmückung der Farben. Aber erklang ihr ganzes Wesen, wie eine Leier, wenn in der Mitternacht das Schweigen plötzlich durch Gesänge, oder durch jene Instrumente unterbrochen wird, die der menschlichen Stimme gleichen? Haben sie das Geheimnis unseres Daseins empfunden in jener Rührung, die unsere beiden Naturen vereinigt, und die Sinne und das Gemüt in dieselbe Freude verschmilzt? Haben ihre Herzensschläge den Rhythmus der Musik begleitet? Hat eine zaubervolle Bewegung sie jene Tränen gelehrt, die nichts Persönliches haben, die kein Mitleid fordern, wohl aber uns befreien von dem unruhigen Schmerz, den das Bedürfnis, zu bewundern und zu lieben, in uns anregt?

Die Freude an Schauspielen ist allgemein; denn die meisten Menschen haben mehr Einbildungskraft, als sie glauben, und was sie als reizendes Vergnügen betrachten, – als eine Art von Schwachheit, die mit der Kindlichkeit in Verbindung steht – ist oft das Beste in ihnen; in Gegenwart der Dichtungen sind sie wahr, natürlich, gerührt, während sie in der Welt von Verstellung, Berechnung und Eitelkeit in Worten, Gefühlen und Handlungen geleitet werden. Aber glauben denn diese Menschen, für die die Darstellung der tiefsten Gefühle nichts weiter ist, als eine belustigende Zerstreuung – glauben denn diese alles, was eine wahrhaft schöne Tragödie einflößt, empfunden zu haben? Haben sie auch nur eine Ahnung von der köstlichen Unruhe, in die Leidenschaften führen, die durch die Poesie geläutert sind? Ach, wie viel Freuden gewähren uns Dichtungen! Sie ziehen uns an, ohne in uns weder Gewissensbisse noch Furcht anzuregen, und die Empfindsamkeit, die sie entwickeln, hat nicht jene schmerzhafte Herbheit, die von allen wahren Empfindungen beinahe unzertrennlich ist!

Welche Magie borgt nicht die Sprache der Liebe von der Poesie und den schönen Künsten? Wie schön ist es, mit dem Herzen und mit dem Gedanken zu lieben und so auf tausendfache Art ein Gefühl zu verändern, das sich durch ein Wort ausdrücken läßt, und gegen das alle Worte der Welt doch nur eine Erbärmlichkeit sind! Sie zu durchdringen mit den Meisterstücken der Einbildungskraft, die sämtlich die Liebe loben, und in den Wundern der Natur und des Genies einige Ausdrücke mehr zur Offenbarung des eigenen Herzens zu finden!

Was können die Männer empfunden haben, die die Frau, die sie liebten, nicht zugleich bewunderten, deren Gefühl nicht ein Hymnus des Herzens war, für die Anmut und Schönheit nicht das himmlische Bild der rührendsten Zuneigungen waren? Was das Weib, das in dem Gegenstand ihrer Wahl nicht einen überlegenen Beschützer, einen starken und sanften Führer, erkannte, dessen Blick zugleich gebietet und fleht, und der auf seinen Knien das Recht empfängt, über unser Schicksal zu verfügen? Welch unsägliche Entzückungen mischen nicht ernste Gedanken in die allerlebhaftesten Eindrücke! Die Zärtlichkeit des Freundes, dem unser Glück anvertraut ist, soll uns am Rande des Grabes wie in den schönen Tagen der Jugend beseligen; und alles, was das Dasein Feierliches hat, verwandelt sich in köstliche Rührung, wenn die Liebe, wie bei den Vorfahren, die Flamme des Lebens anzuzünden und auszulöschen berufen ist.

Wenn der Enthusiasmus die Seele mit Seligkeit berauscht, so stärkt er durch eigentümliche Wunderkraft auch im Unglück; er läßt, ich weiß nicht welche lichte und tiefe Spur zurück, die selbst der Trennung nicht gestattet, uns aus dem Herzen unserer Freunde zu reißen. Uns selbst dient er zum Zufluchtsort gegen die bittersten Leiden, und von allen Gefühlen ist er das einzige, das beruhigt, ohne zu erkälten.

Die einfachsten Neigungen, die, welche die Herzen empfinden zu können glauben, die mütterliche Liebe, die kindliche Liebe – kann man sich wohl einbilden, sie in ihrer ganzen Fülle erkannt zu haben, wenn sie ohne einen Zusatz von Enthusiasmus geblieben sind? Wie kann man den Sohn lieben, ohne zu denken, er werde edel und stolz sein, ohne ihm den Ruhm zu wünschen, der sein Leben vervielfältigen, der denselben Namen, den unser Herz wiederholt, von allen Seiten her ertönen lassen wird? Warum sollte man nicht die Talente eines Sohnes, den Zauber einer Tochter mit Entzücken genießen? Welche auffallende Undankbarkeit gegen die Gottheit würde in der Gleichgültigkeit gegen ihre Gaben liegen! Stammen sie denn nicht vom Himmel, da sie es uns leichter machen, dem von uns geliebten Gegenstande zu gefallen?

Und wenn irgendein Unglück unserem Kinde solche Vorzüge raubte, so würde dasselbe Gefühl eine andere Gestalt annehmen; es würde in uns das Mitleid, die Sympathie, das Glück, notwendig zu sein, erhöhen. Unter allen Umständen beseelt und tröstet der Enthusiasmus; und selbst dann, wenn der grausamste Streich uns trifft, wenn wir den verlieren, den uns das Leben gegeben hat, den, den wir als unseren Schutzengel liebten und der uns zugleich Achtung ohne Furcht und ein grenzenloses Vertrauen einflößte – selbst dann kommt uns der Enthusiasmus zu Hilfe; er sammelt in unserer Brust einige Feuer der Seele, die zum Himmel entflohen ist; wir leben in ihrer Gegenwart und nehmen uns vor, einst die Geschichte seines Lebens zu schreiben. Niemals, glauben wir, niemals werde uns seine väterliche Hand ganz in dieser Welt verlassen.

Endlich, wenn der große Kampf sich einstellt, wenn nun auch wir mit dem Tode ringen müssen: dann schmerzt ohne Zweifel die Kraftlosigkeit unserer Fähigkeiten, der Verlust unserer Hoffnungen, dies sich verfinsternde, bisher so stark gefühlte Leben, diese Menge von Gefühlen und Ideen, die in unserem Herzen wohnten, und die nun das dunkle Grab umschließen soll, diese Angelegenheiten, die Zuneigungen, diese Existenz, die sich vor ihrem Verschwinden in ein Phantom verändert – alles das, sag' ich, schmerzt, und der gewöhnliche Sterbliche scheint beim letzten Atemzuge weniger zu sterben. Aber Gott sei gelobt für die Hilfe, die er uns auch in diesem Augenblick angedeihen läßt! Unsere Worte werden ungewiß sein, unsere Augen nicht mehr das Licht schauen, unsere Gedanken, sonst in Klarheit verbunden, vereinzelt auf verworrenen Spuren umherirren: aber der Enthusiasmus wird uns nicht verlassen; seine glänzenden Fittiche werden über unserem Sterbebette schweben, er selbst wird uns des Todes Schleier lüften, und uns die Augenblicke zurückrufen, wo wir, voll Lebenskraft, gefühlt haben, daß unser Herz unvergänglich sei, und unsere letzten Seufzer werden vielleicht wie ein edler Gedanke sein, der zum Himmel aufsteigt.

 


 


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