Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Wetteifer der Empfindsamkeit

Die englischen Philosophen haben die Tugend auf das Gefühl, oder vielmehr auf den moralischen Sinn gegründet. Aber dieses System hat nichts zu schaffen mit der sentimentalen Moral, von der hier die Rede ist; eine Moral, deren Benennung und Idee nur in Deutschland anzutreffen ist und nichts Philosophisches in sich schließt. Sie macht nur die Empfindsamkeit zur Pflicht und führt zur Mißachtung derer, die sie nicht haben.

Zweifellos ist die Fähigkeit zu lieben der Moral und der Religion sehr nah verwandt; und so ist es möglich, daß unsere Abneigung gegen kalte und harte Gemüter ein erhabener Instinkt ist, der uns vorhersagt, daß Wesen dieser Art, selbst wenn ihr Verhalten achtungswert ist, nur mechanisch und aus Berechnung handeln, ohne daß zwischen ihnen und uns jemals irgendeine Sympathie vorhanden sein könne. In Deutschland nun, wo man alle Eindrücke auf Vorschriften zurückführen will, hat man als unmoralisch betrachtet, was nicht empfindsam und sogar romanhaft war. Werther hatte die exaltierten Gefühle so sehr in Mode gebracht, daß beinahe niemand gewagt hätte, sich trocken und kalt zu zeigen, selbst wenn dies sein natürlicher Charakter gewesen wäre. Daher der erzwungene Enthusiasmus für den Mond, die Wälder, die Fluren und die Einsamkeit; daher die Nervenverstimmungen, die erkünstelten Töne der Stimme, die Blicke, die gesehen sein wollen, und mit einem Wort, die ganze Rüstkammer von Empfindsamkeit, die starke und aufrichtige Seelen verschmähen.

Der Schöpfer von Werthers Leiden hat zuerst über diese Affektationen gespottet. Freilich, da es einmal in allen Ländern Lächerlichkeiten geben muß, ist es vielleicht besser, daß sie in einer etwas einfältigen Übertreibung dessen, was gut ist, als in einer eleganten Bevorzugung des Bösen bestehen. Der Wunsch nach glücklichem Erfolg ist unüberwindlich in Männern, er ist es noch mehr in Frauen; und deshalb sind die Ansprüche der Mittelmäßigkeit ein zuverlässiges Kennzeichen des zu gewissen Zeiten und in gewissen Gesellschaften herrschenden Geschmacks. Dieselben Personen, die in Deutschland für empfindsam gelten wollten, würden sich anderwärts leichtsinnig und hochmütig gezeigt haben.

Die ungemeine Empfindlichkeit des Charakters der Deutschen ist eine der großen Ursachen der Wichtigkeit, die sie auf die unbedeutendsten Abstufungen des Gefühls legen; und diese Empfindlichkeit steht oft mit der Wahrheit der Erregungen in genauer Verbindung. Es ist nicht schwer, fest zu sein, wenn man nicht gefühlvoll ist; die einzige Eigenschaft, deren es alsdann bedarf, ist der Mut; denn die wohlgeordnete Strenge muß bei sich selbst anfangen.

Man tut Unrecht, wenn man die positiven Ideen, die wir vom Guten und vom Bösen haben, auf die Zartheiten der Empfindsamkeit anwendet. Einem Charakter einen Vorwurf daraus machen, daß ihm in dieser Hinsicht etwas fehlt, ist gerade so, als wenn man jemand verklagen wollte, daß er kein Dichter ist. Die natürliche Empfindsamkeit derer, die mehr denken als handeln, kann sie ungerecht machen gegen Personen von einem anderen Schlag. Es bedarf der Phantasie, um zu erraten, welche Leiden das Herz zufügen kann, und die besten Menschen von der Welt sind in dieser Hinsicht oft plump und einfältig; sie gehen über Empfindungen weg, als ob sie über Blumen gingen, sich wundernd, daß sie sie welken lassen. Gibt es nicht Menschen, die den Raphael nicht bewundern, die die Musik ohne Rührung hören, denen der Ozean und die Himmel nur eintönig scheinen? Wie sollten doch sie die Stürme der Seele begreifen?

Werden selbst die allergefühlvollsten Charaktere in ihren Hoffnungen nicht mutlos gemacht? Können sie nicht von einer Art innerer Dürre ergriffen werden, als ob die Gottheit sich von ihnen zurückgezogen hätte? Sie bleiben ihren Gefühlen deshalb nicht minder treu; aber es gibt keinen Weihrauch mehr in dem Tempel, keine Musik mehr im Heiligtum, keine Rührung mehr im Herzen. Bisweilen gebietet auch das Unglück, die Stimme des Gefühls in sich zum Schweigen zu bringen; diese Stimme, die, je nachdem sie zum Verhängnis paßt oder nicht paßt, harmonisch oder dissonant ist. Es ist also unmöglich, aus der Empfindsamkeit eine Pflicht zu machen; denn die, welche sie haben, leiden daran genug, um nicht sehr oft das Recht und den Wunsch zu haben, sie zu beschränken.

Glühende Nationen sprechen von der Empfindsamkeit nur mit Schrecken; friedliche und sinnige Nationen hingegen glauben sie ohne Furcht empfehlen zu können. Übrigens ist dies ein Gegenstand, über den nie mit voller Wahrheit geschrieben worden ist. Die Frauen machen daraus einen Roman und die Männer eine Geschichte; aber das menschliche Herz ist noch weit davon entfernt, in seinen innigsten Beziehungen ergründet zu sein. Einmal wird vielleicht jemand alles aufrichtig sagen, was er gefühlt hat, und dann wird man darüber erstaunen, daß die meisten Maximen und Beobachtungen irrig sind, und daß im Innern der Seele, die man beschreibt, noch eine unbekannte Seele ist.

In der Ehe ist die Empfindsamkeit eine Pflicht. In jedem anderen Verhältnis mag die Tugend ausreichen; jedoch in diesem, wo die Schicksale ineinander verflochten sind, wo ein und derselbe Antrieb sozusagen zwei Herzen schlagen macht, scheint ein tiefes Gefühl beinahe ein notwendiges Band zu sein.

Ein Freund, an dessen Seite man leben und sterben soll; ein Freund, dessen sämtliche Angelegenheiten die unsrigen sind, dessen Aussichten ohne Ausnahme (so daß selbst das Grab darin inbegriffen ist) auf uns übergehen: dies ist das Gefühl, das das ganze Schicksal enthält. Es ist wahr, bisweilen werden unsere Kinder, noch öfter unsere Eltern, unsere Gefährten durchs Leben; aber dieser seltene und erhabene Genuß wird von den Gesetzen der Natur bekämpft, während die Verbindung durch die Ehe mit dem ganzen menschlichen Dasein übereinstimmt.

Woher kommt es denn, daß diese so heilige Verbindung so oft verunheiligt wird? Ich will den Mut haben, es zu sagen. Von der seltsamen Ungleichheit kommt es, die die Meinung der Gesellschaft in die Pflichten der beiden Gatten hineinträgt; und an diese muß man sich halten. Das Christentum hat die Frauen aus einem Zustande gerissen, der der Sklaverei glich. Da die Gleichheit vor Gott die Grundlage dieser bewundernswürdigen Religion ist: so strebt sie auch dahin, die Gleichheit der Rechte auf Erden beizubehalten; die göttliche Gerechtigkeit, die allein vollkommen ist, gestattet keine Art von Privilegium, am wenigsten das der Stärke. Wie ungerecht ist der Tausch, den sich die Lebensgefährtin nach dem Willen des Mannes gefallen lassen soll!

»Ich werde dich«, sagt er, »zwei oder drei Jahre mit Leidenschaft lieben, und nach Verlauf dieser Zeit vernünftig mit dir reden.« (Und was sie Vernunft nennen, ist die Entzauberung des Lebens.) »Ich werde in meinem Hause Kälte und Langeweile gelten lassen; ich werde anderweitig zu gefallen suchen. Aber du, die du in der Regel mehr Einbildungskraft und Empfindsamkeit hast, als ich; du, für die es weder eine Laufbahn, noch Zerstreuung gibt, während die Welt mir von allen Seiten dergleichen darbietet; du, die du nur für mich vorhanden bist, während ich tausend andere Gedanken habe – du sollst dich begnügen mit der untergeordneten, erkalteten und geteilten Zuneigung, die ich für gut befinden werde, dir zuzuwenden, und dabei sollst du alle die Huldigungen verschmähen, die stärkere und zärtlichere Gefühle ausdrücken würden.«

Welch ein ungerechter Vertrag! Alle menschlichen Gefühle fehlen ihm. Es existiert ein seltsamer Kontrast zwischen den Formen der Hochachtung, die der Geist des Rittertums in Beziehung auf die Frauen in Europa eingeführt hat, und der tyrannischen Freiheit, die die Männer sich zugesprochen haben. Dieser Kontrast schafft alle Verirrungen der Gefühle: die unerlaubten Zuneigungen, den Meineid, die Verlassenheit, die Verzweiflung.

Wenn die Schätze unserer jungen Jahre vergeblich geopfert sind, wenn wir für das Ende unseres Lebens keinen Widerschein der ersten Strahlen mehr hoffen, wenn die Abenddämmerung nichts in sich trägt, was an die Morgenröte erinnert und bleich und farblos ist, wie ein Gespenst, das die Nacht verkündet – dann empört sich unser Herz, dann kommt es uns vor, als seien wir der Gaben Gottes hienieden beraubt worden; und wenn wir noch immer denjenigen lieben, der uns wie eine Sklavin behandelt, weil er uns nicht angehört und doch über uns verfügt: so bemächtigt sich die Verzweiflung aller unserer Fähigkeiten, und das Gewissen selbst verwirrt sich in Kraft des Unglücks. Die Frauen könnten dem Gatten, der ihre Bestimmung leichtsinnig behandelt, die beiden Verse aus einer Fabel zurufen:

Ja wohl, ein Spiel für dich;
Doch ach! der Tod für mich.

Und so lange in diesen Ideen nicht eine Umwälzung entsteht, die die Meinung der Männer über die Beständigkeit der Ehe verändert, wird zwischen den beiden Geschlechtern immer Krieg sein – ein geheimer, ewiger, listiger, meineidiger Krieg, bei welchem die Moral beider leidet.

Die Reinheit der Liebe und der Moral ist die erste Glorie des Weibes. Welch ein entwürdigtes Wesen wäre sie ohne die eine und die andere! Allein das allgemeine Glück und die Würde des menschlichen Geschlechts würden nichtsdestoweniger durch die eheliche Treue der Männer gewinnen.

Den Frauen wird die Treue durch tausend verschiedene Betrachtungen geboten: sie können die Gefahren und Demütigungen fürchten, die die unvermeidlichen Folgen einer Verirrung sind. Dagegen ist die Stimme des Gewissens die einzige, die sich für den Mann vernehmen läßt: er weiß, welche Leiden er verursacht; er weiß, daß er durch die Unbeständigkeit ein Gefühl zum Welken bringt, das bis zum Tode vorhalten soll.


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