Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Vom Charakter der deutschen Philosophie

Soviel ist gewiß, daß die Geistigkeit der Seele und alle daraus stammenden Gedanken bei den nordischen Nationen leicht einheimisch geworden sind, und daß unter diesen Nationen die Deutschen sich mehr als jedes andere Volk zur spekulativen Philosophie geneigt gezeigt haben. Leibniz ist ihr Bacon und Descartes. In diesem herrlichen Manne findet man alle Eigenschaften vereinigt, denen sich die deutschen Philosophen im allgemeinen zu nähern rühmen: unermeßliche Gelehrsamkeit, vollkommene Treuherzigkeit und ein unter strengen Formen verborgener Enthusiasmus. Gründlich hatte er die Theologie, die Rechtsgelehrsamkeit, die Geschichte, die Sprachen, die Mathematik, die Physik, die Chemie studiert; denn er war überzeugt, daß die Allgemeinheit der Kenntnisse notwendig sei, um in irgendeinem Fach hervorzuragen. Kurz, alles an ihm beurkundete diejenigen Tugenden, die mit den erhabensten Gedanken in Verbindung stehen und zugleich Bewunderung und Achtung verdienen.

Unter den Schriften Leibnizens nehmen die, welche man theologische nennen könnte, die erste Klasse ein. In der zweiten Klasse ist die Theorie des menschlichen Geistes enthalten. In jener handelt es sich um den Ursprung des Guten und Bösen und die göttliche Vorsehung, kurz um jene ursprünglichen Fragen, die über die menschliche Intelligenz hinausgehen. Ich mag, indem ich mich so ausdrücke, keineswegs die großen Männer tadeln, die von Pythagoras und Platon bis auf uns sich zu diesen hohen philosophischen Spekulationen hingezogen gefühlt haben. Das Genie setzt sich selbst erst dann Grenzen, wenn es lange gegen die harte Notwendigkeit gekämpft hat. Wer kann die Fähigkeit zu denken haben und sich nicht versucht fühlen, den Ursprung und Zweck der Dinge dieser Welt kennen zu lernen?

 

Alles, was auf Erden Leben hat, den Menschen allein ausgenommen, scheint sich selbst nicht zu kennen. Er allein weiß, dass er sterben wird, und diese furchtbare Wahrheit weckt sein Interesse für alle große Gedanken, die sich hieran knüpfen. Sobald man des Nachdenkens fähig ist, löst man, oder glaubt man wenigstens alle die philosophischen Fragen zu lösen, die das menschliche Geschick erklären; allein keinem ist es gestattet, es in seinem ganzen Umfange zu fassen. Jeder faßt davon eine andere Seite; jeder hat seine Philosophie, wie seine Poetik, wie seine Liebe. Diese Philosophie steht in Harmonie mit der besonderen Richtung seines Charakters und Geistes. Erhebt man sich bis zum Unendlichen, so können tausend Erklärungen gleich wahr sein, wie verschieden sie auch sind, weil grenzenlose Fragen Tausende von Ansichten darbieten, von denen eine einzige die ganze Dauer des Daseins ausfüllen kann.

 

Mit der Metaphysik geht es wie mit der Alchimie; indem man den Stein der Weisen sucht, indem man es auf Entdeckung des Unmöglichen anlegt, findet man auf seiner Bahn Wahrheiten, die sonst unbekannt geblieben wären. Außerdem kann man ein nachdenkliches Wesen nicht verhindern, sich eine Zeitlang mit übersinnlicher Philosophie zu beschäftigen; dieser Aufschwung der geistigen Natur kann nur dadurch bekämpft werden, daß man sie herabwürdigt.

 

Mit Erfolg hat man die vorher festgestellte Harmonie Leibnizens widerlegt, die er selbst für eine große Entdeckung hielt; er schmeichelte sich, das Verhältnis der Seele zu der Materie zu erklären, indem er beide als vorher gestimmte Instrumente betrachtete, die sich wiederholen, sich entsprechen, sich gegenseitig nachahmen. Seine Monaden, aus denen er einfache Elemente des Universums macht, sind eine ebenso unfruchtbare Hypothese, wie alle die, deren man sich zur Erklärung des Ursprungs der Dinge bedient hat. Bei dem allen befindet sich der menschliche Geist in einer seltsamen Verlegenheit. Unaufhörlich zu dem Geheimnis seines Wesens hingezogen, fühlt er, daß es ihm ebenso unmöglich ist, es zu entdecken und nicht immer daran zu denken.

Nach einer persischen Überlieferung fragte Zoroaster die Gottheit: wie die Welt angefangen habe, wann sie aufhören werde, und was der Ursprung des Guten und des Bösen sei? Und die Gottheit antwortete auf alle diese Fragen: Tue das Gute und gewinne die Unsterblichkeit! Was diese Antwort am meisten bewundernswürdig macht, ist, daß sie den Menschen nicht abschreckt von den erhabensten Grübeleien; sie lehrt ihn nur, daß er sich allein auf dem Wege des Gewissens und des Gefühls zu den tiefsten Konzeptionen der Philosophie erheben könne.

Leibniz war ein Idealist, der sein System nur auf Raisonnement gründete. Daher kommt es, daß er seine Abstraktionen zu weit getrieben und seine Theorie nicht genug auf innere Überzeugung gestützt hat, da diese doch die einzige wahre Grundlage für alles ist, was über den Verstand hinausgeht. In der Tat, man braucht nur über die Freiheit des Menschen zu raisonnieren, um nicht mehr daran zu glauben; und wiederum braucht man nur die Hand aufs Herz zu legen, um nicht länger daran zu zweifeln. Folgerung und Widerspruch, in dem Sinne, den wir mit beiden verbinden, gibt es gar nicht in der Sphäre der großen Fragen über die Freiheit des Menschen, über den Ursprung des Guten und des Bösen, über die göttliche Vorsehung usw. Bei diesen Fragen steht das Gefühl beinahe immer in Opposition gegen das Klügeln, damit der Mensch einsehen lernt, daß alles, was er in der Ordnung irdischer Dinge unglaublich nennt, vielleicht die höchste Wahrheit unter allgemeinen Beziehungen ist.

Die Theodizee Leibnizens handelt von der göttlichen Vorsehung und von der Ursache des Guten und des Bösen; eins von den gründlichsten und scharfsinnigsten Werken über die Theorie des Unendlichen. Bei dem allen wendet der Verfasser allzu oft auf das Grenzenlose eine Logik an, für die nur begrenzte Gegenstände empfänglich sind. Leibniz war ein höchst religiöser Mann, aber eben deswegen hielt er sich für berufen, die Glaubenswahrheiten auf mathematische Raisonnements zu gründen, um ihnen eine Grundlage zu verschaffen, die in dem Gebiete der Erfahrung zugelassen wird. In der Region intellektueller und religiöser Wahrheiten, wie Leibniz sie behandelt hat, muß man sich des Gewissens wie einer Demonstration bedienen. Indem Leibniz sich an abstrakte Raisonnements halten wollte, verlangt er von den Geistern eine Spannkraft, deren die wenigsten fähig sind. Metaphysische Werke, die weder auf die Erfahrung, noch auf das Gefühl gegründet sind, ermüden den Gedanken ungemein, und man kann sich dabei physisch und moralisch so übel befinden, daß man, um diese Empfindung zu besiegen, die Organe der Vernunft in seinem Kopfe zersprengen könnte.

Die Einwände, die ich mir über diejenigen Werke Leibnizens erlaubt habe, deren Gegenstand unauflösbare Fragen sind, finden keine Anwendung auf seine Schriften über die Bildung der Ideen im menschlichen Geiste. Diese haben eine glänzende Klarheit. Sie beziehen sich auf ein Geheimnis, das der Mensch bis auf einen gewissen Punkt ergründen kann; denn er weiß über sich selbst mehr, als über das Universum. Leibnizens Meinungen in dieser Hinsicht bezwecken moralische Vervollkommnung, wenn, wie einige deutsche Philosophen zu beweisen versucht haben, es ausgemacht ist, daß der freie Wille auf der Lehre beruht, die die Seele von den äußeren Gegenständen losreißt, und daß die Tugend nicht ohne die vollkommenste Unabhängigkeit des Wollens existieren kann.

Mit bewundernswürdiger Dialektik hat Leibniz das Lockesche System bekämpft, das alle unsere Ideen unseren Sinnen zuschreibt. Man hatte das bekannte Axiom aufgestellt, »daß in dem Verstande nichts sei, was nicht vorher in den Sinnen dagewesen«; und Leibniz fügte die erhabene Einschränkung hinzu: wofern es nicht der Verstand selbst ist. Aus diesem Prinzip ist die ganze neue Philosophie entstanden, die auf die Geister in Deutschland einen so beträchtlichen Einfluß hat. Diese Philosophie ist auch Erfahrungsphilosophie; denn sie geht darauf aus zu erkennen, was in uns vorgeht; sie bringt nur die Beobachtung des innersten Gefühls an die Stelle der Beobachtung äußerlicher Eindrücke.

Lockes Lehre hatte in Deutschland Anhänger, die, wie Bonnet und mehrere andere Philosophen in England, darauf ausgingen, diese Lehre mit den religiösen Gefühlen zu vereinbaren, zu denen sich Locke selbst standhaft bekannt hat. Leibnizens Genie sah alle Folgerungen dieser Metaphysik vorher; und was seinen Ruhm für immer begründet, ist, daß er in Deutschland die Philosophie der moralischen Freiheit gegen die des sensuellen Fatalismus aufrechtzuhalten verstand. Während das übrige Europa jene Prinzipien annahm, die die Seele als ein rein passives Wesen darstellen, war Leibniz der aufgeklärte Verteidiger der idealistischen Philosophie, wie sein Genie sie aufgefaßt hatte. Nicht die mindeste Ähnlichkeit hätte sie weder mit Berkeleys System, noch mit den Träumereien der griechischen Skeptiker über das Nicht-Dasein der Materie; allein sie verteidigte das moralische Sein in seiner Unabhängigkeit und in seinen Rechten.


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