Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Literarische Theorie

Die neue Philosophie flößt das Bedürfnis ein, sich zu Gedanken und Gefühlen zu erheben, die keine Grenzen haben. Dieser Antrieb kann dem Genie günstig sein; aber er ist auch nur ihm günstig, und oft veranlaßt er den Genielosen zu höchst lächerlichen Aussprüchen. In Frankreich spottet die Mittelmäßigkeit über den Enthusiasmus; in Deutschland verschmäht sie eine gewisse Art von Vernunft. Ein Schriftsteller kann sich nicht genug anstrengen, um deutschen Lesern die Überzeugung beizubringen, daß er nicht oberflächlich sei, und daß er sich vor allen Dingen mit dem Unsterblichen und Ewigen beschäftige. Aber da die Fähigkeiten des Geistes nicht immer so ungemessenen Forderungen entsprechen: so geschieht es nicht selten, daß gigantische Anstrengungen nur zu gewöhnlichen Resultaten führen. Nichtsdestoweniger ist diese allgemeine Anlage des Geistes günstig, und es ist in literarischen Dingen leichter, Grenzen zu setzen, als Nacheiferung zu wecken.

Die Deutschen betrachten nicht, wie es in der Regel geschieht, die Nachahmung der Natur als den Hauptgegenstand der Kunst; nur die ideale Schönheit erscheint ihnen als das Prinzip aller Meisterwerke, und ihre poetische Theorie stimmt in dieser Hinsicht vollkommen mit ihrer Philosophie überein. Der Eindruck, den die schönen Künste machen, hat nichts gemein mit dem Vergnügen, das eine gelungene Nachahmung gewährt; der Mensch hat in seiner Seele angeborene Gefühle, die reale Gegenstände nie befriedigen werden, und gerade diesen Gefühlen gibt die Einbildungskraft der Maler und Dichter Gestalt und Leben. Die Musik, diese erste von allen Künsten, was ahmt sie denn nach? Und doch ist sie von allen göttlichen Gaben die köstlichste, denn sie scheint, sozusagen, überflüssig. Die Sonne erleuchtet uns, wir atmen die Luft eines reinen Himmels, alle Schönheiten der Natur dienen auf irgendeine Weise dem Menschen; die Musik allein ist von einer edlen Unnützlichkeit und gerade deshalb bewegt sie uns so tief. Je weiter sie von jedem Zwecke entfernt ist, desto mehr nähert sie sich der verborgensten Quelle unserer Gedanken.

Die literarische Theorie der Deutschen unterscheidet sich von allen anderen dadurch, daß sie die Schriftsteller nicht tyrannischen Gebräuchen und Beschränkungen unterwirft. Es ist eine durchaus schöpferische Theorie, eine Philosophie der schönen Künste, die, weit entfernt von allem Zwang, wie Prometheus, das himmlische Feuer zu entwenden sucht, um den Dichtern ein Geschenk damit zu machen. Homer, Dante, Shakespeare – wird man sagen – wußten nichts davon, brauchten sie die Metaphysik, um große Schriftsteller zu werden? Zweifellos hat die Natur die Philosophie nicht erwartet, was eben soviel sagen will, als daß die Tatsache der Beobachtung ihr vorangegangen ist; nachdem wir aber einmal in die Epoche der Theorien geraten sind – müssen wir uns nun nicht wenigstens vor solchen in acht nehmen, die das Talent ersticken können?

Bekennen muß man dennoch, daß aus diesen, auf die schönen Künste angewendeten philosophischen Systemen einige wesentliche Nachteile hervorgehen. Die deutschen Leser, die gewohnt sind, Kant, Fichte usw. zu lesen, betrachten einen geringeren Grad von Dunkelheit als die Klarheit selbst, und die Schriftsteller geben den Kunstwerken nicht immer die auffallende Lichthelle, die ihnen notwendig ist. Man kann, man darf sogar eine gleichmäßig angestrengte Aufmerksamkeit fordern, wenn es auf abstrakte Ideen ankommt; aber die Bewegungen des Herzens sind unwillkürlich. Der philosophische Geist kann die Erforschung in Anspruch nehmen, aber das poetische Talent muß mitreißen.

Bei dem allen ist es, wie es mir scheint, viel besser für die Literatur eines Landes, daß seine Poetik auf philosophische Ideen, selbst wenn sie ein wenig abstrakt sein sollten, gegründet ist, als auf bloße äußerliche Regeln; denn diese Regeln sind immer nur Leitbänder, um die Kinder am Fallen zu verhindern.

Die Nachahmung der Antike hat bei den Deutschen eine ganz andere Richtung genommen als im übrigen Europa. Der gewissenhafte Charakter, von dem sie sich niemals trennen, hat sie dahin geführt, den modernen Genius nicht mit dem antiken zu vermengen; sie behandeln manchmal die Fiktionen als Wahrheit, denn sie finden das Mittel, den Gewissenszweifel einzumischen, sie wenden auch dieselbe Methode auf die genaue und tiefe Kenntnis der Denkmäler an, die uns von längst vergangenen Zeiten übriggeblieben sind. In Deutschland vereinigt das Studium des Altertums, wie das der Wissenschaften und der Philosophie, die geteilten Zweige des menschlichen Geistes.


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