Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Goethe

Was Klopstock mangelte, war eine schöpferische Phantasie. Er verstand es, große Gedanken und edle Gefühle in schönen Versen auszusprechen, aber einen Künstler im eigentlichen Sinne kann man ihn nicht nennen. Seine Erfindungen sind schwach, und die Farben, die er ihnen leiht, haben fast nie die Fülle von Kraft, die man so gern in der Poesie und in allen den Künsten wiederfinden möchte, deren Bestimmung es ist, der Dichtung die Energie und die Eigentümlichkeit der Natur zu geben. Klopstock verliert sich im Ideal; Goethe behält immer festen Boden, wenn er sich auch zu den höchsten Gipfeln erhebt. Sein Geist hat eine Stärke, die unter seinem Gefühl nie leidet. Goethe könnte für den Repräsentanten der ganzen deutschen Literatur gelten; nicht, als ob sie nicht in mancher Beziehung Schriftsteller zählte, die noch über ihm stehen, sondern weil er in sich alles vereinigt, was den Geist der Deutschen von andern unterscheidet, und weil keiner so ausgezeichnet ist durch eine Gattung der Phantasie, von der weder die Italiener, noch die Engländer, noch die Franzosen sich einen Teil aneignen dürfen.

Goethe ist in der Unterhaltung ein Mann von bewunderungswürdigem Geiste, und man mag sagen, was man will, wer Geist hat, muß sprechen können. Es gibt wohl einzelne Beispiele von schweigsamen, hohen Naturen: Schüchternheit, Unglück, Verachtung und Langeweile sind oft davon die Ursache; im allgemeinen aber kann man behaupten, daß Fülle der Ideen und Wärme des Gemüts das Bedürfnis erzeugen müssen, sich andern mitzuteilen, und Menschen, die nicht nach dem beurteilt werden wollen, was sie sagen, dürften leicht kein größeres Interesse für das, was sie denken, verdienen. Wenn man die Kunst versteht, Goethe zum Sprechen zu bringen, ist er bewundernswert; seine Beredsamkeit wird von Gedanken erzeugt; sein Scherz ist zugleich voll Anmut und Philosophie, seine Phantasie durch äußere Gegenstände aufgeregt wie etwa die der Künstler im Altertum, und doch hat seine Vernunft nur zu sehr die Reife unserer Zeit. Nichts stört die Kraft seines Kopfes, und selbst die Inkonvenienzen seines Charakters, Launen, Verlegenheit, Zwang, ziehen wie Wolken hin am Fuße des Berges, auf dessen Gipfel sein Genie erhaben ruht.

Was man von Diderots Unterhaltung erzählt, dürfte vielleicht eine Idee von der Goethes geben; wenn man jene aber nach Diderots Schriften beurteilt, so erscheint der Abstand zwischen diesen beiden Männern unendlich groß. Diderot stand unter dem Joch seines Witzes; Goethe herrscht selbst über sein Talent; Diderot wird geziert aus dem Bestreben, Effekt zu machen; in Goethe geht die Verachtung des Erfolgs seiner Schriften bis zu einem Grade, der immer gefällt, selbst wenn man über seine Nachlässigkeit ungeduldig werden muß: Diderot sah sich genötigt, durch Philanthropismus die religiösen Gefühle zu ersetzen, die ihm fehlten; Goethe würde es vorziehen, lieber bitter als süßlich zu sein; was er aber vor allen Dingen ist, er ist natürlich, und wahrlich, was ist ohne diese Eigenschaft wohl in einem Menschen, was einen andern interessieren könnte?

Goethe besitzt nicht mehr diese hinreißende Glut, die ihm den Werther eingab, aber die Wärme seiner Gedanken reicht noch vollkommen hin, um alles zu beleben. Man möchte von ihm sagen, daß das Leben ihn selbst nicht berührt, und daß er es bloß darstellt, wie ein Maler; er setzt in die Gemälde, die er uns vor Augen bringt, einen höheren Wert, als in die Rührungen, die er empfindet; die Zeit hat ihn zum Zuschauer gebildet; als er noch eine tätige Rolle spielte auf der Bühne der Leidenschaften, als er selbst noch durch sein Herz litt, machten auch seine Schriften einen tieferen Eindruck.

Da sich jeder Dichter eine Poetik nach seinem Talent bildet, so stellt Goethe jetzt die Behauptung auf, der Schriftsteller müsse ruhig sein, auch wenn er ein leidenschaftliches Werk erzeuge, und der Künstler sein kaltes Blut bewahren, um stärker auf die Phantasie der Leser zu wirken. Vielleicht hätte er in seiner früheren Jugend die gleiche Meinung nicht gehegt, vielleicht beherrschte ihn damals sein Genie, wie er jetzt dessen Meister ist, vielleicht endlich fühlte er damals, daß, da das Erhabene und Göttliche nur auf Augenblicke im Herzen des Menschen wohnen, der Dichter unter der Begeisterung steht, die ihn belebt, und nicht über sie urteilen kann, ohne sie einzubüßen.

Im ersten Augenblicke staunt man, in dem Dichter Werthers Kälte, ja selbst eine Art von Steifheit zu finden; aber kann man es über ihn gewinnen, daß er es sich bequem macht, so verscheucht die Beweglichkeit seiner Phantasie bald gänzlich den früher empfundenen Zwang; er ist ein Mann von universellem Geiste, und unparteiisch, eben weil er universell ist: denn in seiner Unparteilichkeit liegt keine Gleichgültigkeit, es ist vielmehr ein doppeltes Dasein, eine Doppelkraft, ein Doppellicht, die bei allen Gegenständen zu gleicher Zeit beide Seiten einer Frage beleuchten. Sein Denken hält nichts in seinem Laufe auf, nicht sein Jahrhundert, nicht seine Gewohnheiten, nicht seine Verhältnisse; senkrecht trifft sein Adlerblick die Gegenstände, die er ins Auge faßt: hätte er eine politische Laufbahn gehabt, hätte sich seine Seele in Taten entwickelt, so wäre sein Charakter entschiedener, fester, patriotischer geworden, aber sein Geist würde nicht so frei über allen Gattungen von Ansichten schweben; Leidenschaften und Interesse zeichneten ihm dann einen positiven Weg vor.

Goethe liebt es, in seinen Schriften wie in seinen Gesprächen Fäden zu zerreißen, die er selbst gewebt hat, mit Rührungen zu spielen, die er selbst erregt, Statuen umzustürzen, die er zur Bewunderung aufgestellt hat. Kaum hat er in seinen Dichtungen Interesse für einen Charakter erzeugt, so zeigt er in ihm Inkonsequenzen. Er schaltet mit der poetischen, wie ein Eroberer mit der reellen Welt und fühlt Kraft genug, wie die Natur Zerstörung in sein eigenes Werk zu bringen. Wäre er nicht ein achtenswerter Mann, man müßte vor dieser Art Superiorität Furcht bekommen, die über alles sich erhebt, die niederdrückt und aufrichtet, erweicht und darüber spottet, wechselweise in einem Glauben befestigt und wieder daran zweifeln macht, und alles immer mit demselben Glück.

Ich habe gesagt, daß sich in Goethe alle Hauptzüge des deutschen Genius finden; ich setze hinzu, alle in einem ausgezeichneten Grade: eine große Tiefe der Ideen, eine Anmut, die in der Phantasie ihre Quelle hat und viel eigentümlicher ist als die durch den Geist des Umgangs gebildete, endlich eine zuweilen an das Phantastische streifende Empfindung, die aber eben aus diesem Grunde geeigneter ist, Leser zu interessieren, die sich zu den Büchern wenden, um Wechsel in ihr einförmiges Dasein zu bringen und von der Poesie fordern, daß sie ihnen die Stelle wahrer Ereignisse vertreten soll. Wäre Goethe ein Franzose, so ließe man ihn nur sprechen: alle schriftstellerischen Zeitgenossen Diderots gingen zu ihm, um Ideen aus seiner Unterredung zu schöpfen, und bereiteten ihm einen dauernden Genuß in der Bewunderung, die er einflößte. In Deutschland versteht man die Kunst nicht, sein Talent in der Unterhaltung auszugeben, und wenige Menschen, selbst unter den Ausgezeichnetsten, haben die Fertigkeit, zu fragen und zu antworten.

Goethes Einfluß ist trotzdem nicht minder außerordentlich. Es gibt unter den Deutschen gewiß eine große Menge Menschen, die Genie unter der Aufschrift eines Briefes finden würden, wenn er sie geschrieben hätte. Die Bewunderung Goethes bildeten eine Art von Bruderschaft, deren Losungsworte die Eingeweihten einer dem andern kenntlich machen. Wenn Ausländer ihn auch bewundern wollen, aber einige Einschränkungen darauf hindeuten, daß sie sich erlaubt haben, seine Werke näher zu untersuchen, so werden sie mit Verachtung zurückgewiesen; und doch gewinnen diese Werke bei der Prüfung so sehr. Man kann einen solchen Fanatismus nicht erregen, ohne große Eigenschaften, im Guten oder Bösen, zu besitzen: denn nur die Macht wird, in welcher Gattung es auch sei, von den Menschen so gefürchtet, um sie auf diese Weise lieben zu können.

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Das Schauspiel »Götz von Berlichingen« ist eines der Lieblingsstücke in Deutschland; die Nationalsitten und das Gefühl der alten Ritterzeit sind darin auf das treueste und nach dem Leben dargestellt; und alles, was an jene Zeit erinnert, ist dem Herzen der Deutschen teuer. Goethe, überzeugt, daß er sein Publikum nach seinem Willen lenkt und regiert, hat sich nicht einmal die Mühe gegeben, sein Stück in Versen zu schreiben. Götz ist die Skizze eines großen Gemäldes, aber eine kaum vollendete Skizze. Der Verfasser hat eine solche Ungeduld des Genies, einen solchen Widerwillen gegen alles, was nach Künstelei aussieht, daß er sogar dasjenige verschmäht, was in der Kunst notwendig ist. Es gibt in seinem Drama eine Menge Züge und Blitze des Genies, wie die Pinselstriche in einem Gemälde von Michelangelo; aber das Ganze ist ein Werk, das noch viel zu erwarten oder vielmehr zu wünschen übrig läßt. Die Regierung Kaiser Maximilians, unter der die Begebenheit spielt, ist nicht hinlänglich charakterisiert. Goethe hat es allerdings nicht gewollt; es war Plan und System bei ihm, sein Drama sollte die Sache selbst sein.

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Unter allen Trauerspielen Goethes scheint mir »Egmont« das schönste zu sein. Er schrieb es ohne Zweifel zur gleichen Zeit, als er seinen Werther schrieb; in beiden Werken liegt dasselbe Feuer, dieselbe Wärme. Das Stück beginnt mit der Sendung des Grafen Alba, um Margarete von Parma, deren Verwaltung Philipp II. zu sanft schien, in der Regierung der Niederlande zu ersetzen. Der König hat Argwohn wegen der Volksliebe geschöpft, die Oranien und Egmont zu gewinnen gewußt haben; er verdächtigt sie, geheime Anhänger der Reformation zu sein. Alles vereinigt sich in Egmont, ihn zum anziehendsten, unwiderstehlichsten Menschen zu machen. Seine Soldaten, die unter ihm so viele Siege erfochten, beten ihn an wie einen Gott. Die spanische Regentin baut auf seine Treue, obwohl sie weiß, wie sehr er die Strenge gegen die Protestanten mißbilligt. Die Einwohner von Brüssel sehen in ihm den Verfechter ihrer Freiheiten beim Thron; selbst der Prinz von Oranien, dessen tiefe Politik, dessen verschwiegene Klugheit ihn in der Geschichte so berühmt gemacht haben, und der ihn vergebens beschwört, vor Albas Ankunft mit ihm zu fliehen, hebt durch diesen Kontrast die edle, sichere Unbefangenheit des Grafen.

Der Prinz von Oranien ist ein würdiger, ein weiser Charakter; nur eine heldenmütige, aber zugleich unbedachte Aufopferung seiner selbst kann seinem Rat Widerstand leisten. Der Graf Egmont will die Bürger von Brüssel nicht verlassen; er rechnet auf sein Glück, weil seine Siege ihn an die Begünstigungen der Glücksgöttin gewöhnt haben und er in die öffentlichen Geschäfte alles überträgt, was seine kriegerische Laufbahn so auszeichnete. Seine schönen, aber gefährlichen Geistesgaben nehmen für sein Schicksal ein; man fühlt für ihn Besorgnisse, die in seiner unerschrockenen Seele nie aufsteigen konnten. Das Ganze seines Charakters ist mit großer Kunst durch die Eindrücke gezeichnet, die die Gefahren, in denen er schwebt, auf seine Umgebung machen. Es ist nicht schwer, von den Helden eines Stückes ein geistreiches Gemälde zu entwerfen; weit schwerer und talentvoller ist's, ihn dieser Schilderung gemäß sprechen und handeln zu lassen; am schwersten, ihn durch die Bewunderung, die er den Soldaten, dem Volk, den Großen, kurz allen, die ihn umgeben und mit ihm in Verbindung stehen, einflößt, zu schildern.

Das Ende des Trauerspiels »Egmont« steht mit dem Ganzen nicht in Harmonie; der Graf schläft einige Augenblicke vor seiner Abführung zum Schafott ein. Klärchen erscheint ihm nach ihrem Tode im Traum, verklärt, umgeben von himmlischem Glanz, und deutet ihm an, sein Tod werde den Provinzen die Freiheit verschaffen: doch dieses Wunderbare in der Entwicklung paßt nicht zu einem historischen Stück.

Die Deutschen sind überhaupt verlegen, wann und wie sie schließen sollen; man könnte das chinesische Sprichwort auf sie anwenden: »Wenn man zehn Schritte zu machen hat, so sind neun die Hälfte des Weges«. Die erforderliche Geisteskraft, um, sei es, was es wolle, zu Ende zu bringen, erforderte eine gewisse Gewandtheit, ein gewisses Augenmaß, die sich nur selten mit der schwankenden und unbestimmten Phantasie vertragen, deren Spuren die deutschen Werke allgemein tragen. Überdies bedarf es der Kunst, und sehr großer Kunst, um eine gute Entwicklung zu finden. Die Kenntnis der Bühne allein lehrt, wie man die Grenzen der Hauptbegebenheit abstecken und die Nebenumstände zweckvoll mitwirken lassen soll. Allein, Wirkungen künstlich zusammenstellen, ist in den Augen der Deutschen beinahe eine Heuchelei, und die Berechnung im Bereich der Phantasie scheint ihnen unvereinbar mit der Begeisterung zu sein. Dennoch wäre Goethe unter allen ihren Schriftstellern gerade der, dem die meisten Mittel zu Gebote stehen würden, die Gewandtheit des Geistes mit kühnem Flug der Gedanken zu verbinden; aber Goethe hält es unter seiner Würde, die dramatischen Lagen so zu handhaben, daß er sie zu theatralischen macht. Wenn sie nur schön sind, so genügt ihm dies, und er kümmert sich nicht weiter um das andere. Das deutsche Publikum in Weimar ist sein Zuschauer, und dieses Publikum ist zufrieden, wenn es ihm nur entgegenkommen, ihn erraten kann; es ist ebenso geduldig, ebenso einsichtsvoll, wie der griechische Chor; anstatt es wie die Souveräne zu machen, sie mögen Fürsten oder Volk sein, anstatt zu verlangen, daß man es belustigt, trägt es selbst zu seinem Vergnügen dadurch bei, daß es erklärt und zergliedert, was ihm nicht gleich auffiel: ein solches Publikum ist in seinen Urteilen selbst Künstler.

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Man gab in Deutschland bürgerliche Dramen, Melodramen, eigentliche Schauspiele, d. i. Spektakelstücke mit Pferden und Ritteraufzügen. Goethe nahm sich vor, die Literatur seiner Landsleute zur Strenge des Altertums zurückzuführen, und schrieb seine »Iphigenie auf Tauris«, das Meisterwerk der klassischen Poesie in Deutschland.

Diese Tragödie erinnert an das Gefühl, das uns beim Anblick griechischer Statuen ergreift; die Handlung ist ehrwürdig und so ruhig, daß selbst bei veränderter Lage der Personen eine Beständigkeit der Würde bei ihnen zurückbleibt. Der Inhalt der »Iphigenie auf Tauris« war so bekannt, daß es unendlich schwer sein mußte, ihn auf eine neue Art zu behandeln; Goethe ist es besonders dadurch gelungen, daß er seiner Heldin einen wahrhaft bewundernswerten Charakter gegeben hat. Die Antigone des Sophokles ist eine Heilige, wie sie uns eine jüngere Religion als die der Alten zeigen würde. Goethes Iphigenie hat nicht weniger Ehrfurcht vor der Wahrheit, als die Antigone; sie verbindet aber die Ruhe des philosophischen Geistes mit der Inbrunst einer Priesterin; der keusche Dienst der Diana und die geweihte Schutzwehr eines Tempels füllen die träumende Existenz aus, die ihr die Sehnsucht nach ihrem fernen Vaterland übrig läßt.

Kein neueres Werk schildert, dünkt mich, besser, als Goethes Iphigenie, das Schicksal, das auf Tantalus' Geschlecht lastet, und die Würde aller dieses Geschlecht verfolgenden und von einem unüberwindlichen Fatum herbeigeführten Leiden. Eine religiöse Furcht faßt den Zeugen bei dieser ganzen Geschichte, und die Personen selbst, die auftreten, scheinen eine prophetische Sprache zu führen und nur von der allmächtigen Hand der Götter geleitet zu handeln.

Der Plan dieses Stücks kann nicht gediegener und edler sein, und es wäre zu wünschen, daß man es soweit brächte, die Zuschauer bloß durch die Darstellung einer zarten Bedenklichkeit zu rühren; allein von der Bühne läßt sich das schwer erwarten, und daher kommt es, daß man das Stück lieber liest, als aufführen sieht.

In dieser Tragödie ist die Bewunderung, nicht der Affekt, die Triebfeder; man glaubt einen Gesang aus einem epischen Gedicht zu hören; die Ruhe, die im Ganzen vorwaltet, ist so ansteckend, daß sie beinahe auf Orests Gemüt wirkt. Die Erkennungsszene zwischen Bruder und Schwester ist vielleicht nicht so lebhaft, aber gewiß poetischer als jede ähnliche. Die Schicksale der Familie Agamemnons sind bewundernswürdig dargestellt, und man glaubt, eine Reihe von Gemälden vor Augen zu haben, mit denen Geschichte und Fabel das Altertum bereicherten. Eine so erhabene Poesie gibt der Seele eine edle Anschauung und macht ihr die Bewegung und Abwechslungen des dramatischen Lebens beinahe entbehrlich.

Die Bewunderung, die man der »Iphigenie auf Tauris« unmöglich versagen kann, steht keineswegs im Widerspruch zu dem, was ich von dem lebhaften Interesse, von der innigeren Rührung gesagt habe, die man bei neueren Stoffen und Darstellungen empfinden kann. Die Sitten und Religionen, deren Spur Jahrhunderte verwischt haben, stellen den Menschen als ein Ideal auf, das die Erde, auf der es sich bewegt, kaum berührt; aber in Zeitabschnitten und historischen Begebenheiten, deren Einfluß sich bis zu uns erstreckt, fühlen wir die Wärme unserer eigenen Existenz und verlangen eben die Effekte von außen, die wir in uns empfinden. Es scheint mir aus diesem Grunde, als hätte Goethe in seinem »Torquato Tasso« nicht eben die Einfalt der Handlung, nicht eben die Ruhe der Rede ausdrücken wollen, die sich für seine Iphigenie schickte. In einem so modernen Stoff könnte diese Einfalt und Ruhe leicht für Kälte und Mangel an Natürlichkeit gehalten werden; denn daß der persönliche Charakter des Tasso und das Leben am Hofe zu Ferrara nicht in jeder Hinsicht zur neuen Geschichte gehören, wird man mir nicht einwenden wollen.

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Goethe wollte in seinem »Torquato Tasso« den zwischen dem poetischen und dem geselligen Leben bestehenden Gegensatz malen; er wollte einen Dichter und einen Weltmann gegeneinanderstellen. Er hat den Nachteil bewiesen, der aus dem Schutz eines Fürsten für die zarte Einbildungskraft eines Dichters entsteht, selbst wenn dieser Fürst überzeugt ist, er liebe Wissenschaft und Kunst, oder wenigstens seinen Stolz darein setzt, sie zu bewundern. Die schwärmende, von der Poesie ausgebildete Natur im Gegensatz zu der von der Politik abgekühlten und gezügelten zu zeigen, ist eine Idee, aus der tausend Gedanken entstehen.

Ein Genie, an den Hof berufen, muß sich anfangs glücklich schätzen, muß aber mit der Länge der Zeit manche der Widerwärtigkeiten empfinden, die Tassos Leben so ungemein verbitterten. Ein Talent, das sich durch das Hofleben bändigen und einschnüren ließe, würde aufhören, Talent zu sein. Dennoch ist es äußerst selten, daß Fürsten die Rechte der Phantasie anerkennen und sich zugleich darauf verstehen, diese Geistesgabe zu achten und schonend mit ihr umzugehen. Man konnte keinen glücklicheren Stoff wählen als Torquato Tasso in Ferrara, um zugleich die verschiedenen Charaktere eines Dichters, eines Hofmanns, einer Prinzessin, eines Prinzen in den Vordergrund zu stellen und in einen engen Rahmen zu bannen, wo jeder von ihnen mit eben der zähen Eigenliebe wirkt, mit der andere versuchen würden, die Welt aus den Angeln zu heben. Tassos kränkelnde Empfindlichkeit ist bekannt, ebenso wie die rauhe, abstoßende Höflichkeit seines Gönners Antonio, der bei allen Beteuerungen der hohen Bewunderung, die er für seine Schriften hegt, ihn dennoch ins Irrenhaus sperren ließ; als wenn das Genie, das aus der Seele stammt, wie ein mechanisches Talent behandelt werden könnte, aus dem man Nutzen zieht und das man schätzen kann, ohne den Besitzer zu achten!

Goethe selbst sagt in seinem Tasso: die beiden Personen, die er kontrastieren lasse, der Politiker und der Dichter, seien die beiden Hälften des Menschen. Nur kann zwischen diesen beiden Hälften keine Sympathie bestehen, weil Tassos Charakter ohne Klugheit, wie der Antonios ohne Empfindung ist.

Die krankhafte Empfindlichkeit, der gereizte Argwohn der Schriftsteller und Dichter hat sich in Rousseau, im Tasso gezeigt und zeigt sich noch häufiger in der deutschen Gelehrtenrepublik. Die französischen Autoren sind weniger empfänglich. Wer viel mit sich selbst und in der Einsamkeit lebt, verträgt die äußere Weltluft nicht gut. Die Gesellschaft schafft, wie die Luft, manches Rauhe für den, der an sie nicht von Jugend auf gewöhnt ist; Ironie und der Spott der Welt sind für einen talentvollen Mann verderblicher als für jeden andern; der Geistvolle allein weiß sich ihrer zur erwehren. Goethe hätte Rousseaus Leben zum Text oder Muster jenes Kampfes wählen können zwischen der Gesellschaft, wie sie ist, und der Gesellschaft, wie ein poetischer Kopf sie sucht oder wünscht; aber Rousseaus Situation hätte seiner Phantasie weit weniger Stoff dargeboten als Tassos Geschichte. Rousseau hat sich mit einem großen Genie durch niedere Verhältnisse bewegen und schleppen müssen. Tasso dagegen, brav wie seine Ritter, verliebt, geliebt, verfolgt, gekrönt, und noch jung am Vorabend seines Triumphes dahinsterbend – Tasso ist ein Beispiel des größten Glanzes und des größten Mißgeschicks, das dem Genie zuteil werden kann.

Wie mich dünkt, sind die Farben des Südens in Torquato Tasso nicht ausgesprochen genug; vielleicht ist es schwer, mit deutschen Worten italienisch zu sprechen und italienische Gefühle auszudrücken. Gleichwohl sind es noch mehr die Charaktere, in denen sich die deutsche Natur stärker als die italienische entwickelt. Leonore von Este ist hier eine deutsche Fürstin. Die Entwicklung und Untersuchung ihres Charakters und ihrer Gefühle, mit denen sie sich unaufhörlich beschäftigt, liegt nicht in der Art des Südens. Im Süden zieht sich die Phantasie nicht auf sich selbst zurück; sie schreitet beständig vor, ohne rückwärts zu schauen; sie forscht der Quelle eines Ereignisses nicht nach; sie widersteht dem Geschehenen oder überläßt sich ihm, ohne nach dem Grund davon zu suchen.

Die Person des Tasso ist ebenfalls die eines deutschen Dichters. Jene Unfähigkeit, mit der Goethe ihn gezeichnet hat, sich in den gewöhnlichsten Umständen des Alltagslebens aus der Sache zu ziehen, ist ein Charakterzug der Schriftsteller des Nordens und ihrer zurückgezogenen Lebensweise. Die südlichen Dichter haben diese Unbeholfenheit gewöhnlich nicht; sie haben mehr außer dem Hause und sozusagen auf öffentlichen Plätzen gelebt: sie sind mit den Dingen und noch mehr mit den Menschen vertrauter.

Tassos Sprache ist in dem Goetheschen Stück oft zu metaphysisch. Seine Schwermut stammte keineswegs aus dem Mißbrauch philosophischer Betrachtungen oder aus dem tiefen Nachforschen über das, was in seinem Herzen vorging; sie war nur eine Folge des zu lebhaften Eindrucks der äußeren Dinge, des Rausches der Liebe und des Eigendünkels; er bediente sich der Sprache bloß als eines harmonischen Gesangs. Das Geheimnis seiner Seele lag nicht in seinen Reden, nicht in seinen Schriften; er hatte sich hie selbst beobachtet; wie hätte er sich andern offenbaren können? überdies war die Dichtung in seinen Augen eine glänzende Kunst, nicht ein leises Zulispeln der Empfindungen des Herzens. Es scheint mir aus seiner italienischen Natur, aus seinem Leben, aus seinen Briefen, aus den Gedichten selbst, die er während seiner Verhaftung schrieb, hervorzugehen, daß die Heftigkeit seiner Leidenschaften nicht in der Tiefe seiner Gedanken begründet war. In seinem Charakter lag nicht, wie in dem der deutschen Dichter, jenes gewohnte Gemisch von Nachdenken und Tätigkeit, von Nachforschung und Enthusiasmus.

Die Eleganz und Würde des dichterischen Stils sind im »Torquato Tasso« über alles Lob erhaben; Goethe hat sich in diesem Stück als Deutschlands Racine gezeigt. Hat man aber Racine den Mangel an Interesse in Berenice zum Vorwurf gemacht, so könnte man mit größerem Recht Goethe die dramatische Kälte seines Tasso vorwerfen. Die Absicht des Verfassers war, die Charaktere tief zu begründen und die Lagen, in die er sie versetzt hat, nur leicht zu entwerfen; ist dies aber möglich? Die langen, sinnreichen Reden voller Phantasie, die er seine Personen abwechselnd halten läßt, sind sie aus der Natur geschöpft und aus welcher? Wer spricht so über sich selbst und über alles? Wer erschöpft bis auf diesen Punkt, was sich sagen läßt, ohne daß sich etwas tun läßt? Sobald sich das Stück nur einigermaßen bewegt, wird einem leicht zu Mut; man erholt sich von der beständigen Spannung, mit welcher man die Ideen verfolgen mußte. Die Duellszene zwischen dem Dichter und dem Hofmann interessiert lebhaft; des einen Aufwallung, des andern kalte Gewandtheit entwickeln das Verhältnis beider mit großer Lebendigkeit. Von den Lesern oder Zuschauern verlangen, daß sie dem Interesse an der Handlung entsagen, um sich bloß an die Gemälde und an die Ideen zu halten, hieße zu viel fordern.


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