Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Herder

In Deutschland sind die Gelehrten in vieler Hinsicht die respektabelste Vereinigung der aufgeklärten Welt, und unter diesen Männern verdient Herder noch einen besonderen Platz. Sein Gemüt, sein Genie und seine Sittlichkeit haben sein Leben verherrlicht. Seine Schriften können unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden: Geschichte, Literatur und Theologie. Er hatte sich mit dem Altertum im allgemeinen, und mit den orientalischen Sprachen insbesondere beschäftigt. Seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sind von allen deutschen Büchern vielleicht dasjenige, was mit dem meisten Zauber geschrieben ist. Man findet darin nicht dieselbe Tiefe politischer Bemerkungen, die Montesquieus Werke über die Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer auszeichnet; allein da Herder darauf ausging, den Genius der entferntesten Jahrhunderte zu ergründen, so diente seine Phantasie – eine Eigenschaft, die er im höchsten Grade besaß – vielleicht mehr, als jede andere, dazu, ihn damit bekannt zu machen. Es bedarf einer solchen Fackel, um durch die Dunkelheit zu wandeln, und die verschiedenen Kapitel Herders über Persepolis und Babylon, über die Hebräer und Ägypter, sind eine köstliche Lektüre. Man glaubt, an der Seite eines historischen Dichters durch die alte Welt zu gehen; eines Zauberers, der die Trümmer mit seinem Stab berührt und eingesunkene Gebäude vor unsern Augen wieder errichtet.

Selbst an Männer mit größtem Talent stellt man in Deutschland die Forderung, daß sie eine umfangreiche Gelehrsamkeit besitzen sollen, und Kritiker haben diese bei Herder wenigstens insofern vermißt, als sie ihm die Gründlichkeit abgesprochen haben. Doch was uns auffallen könnte, ist die große Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse. Er kannte alle Sprachen, und sein Versuch über die hebräische Poesie ist unter allen seinen Werken dasjenige, in dem man am besten erkennt, wieweit sein Takt über fremde Nationen reichte. Niemals hat man den Genius eines prophetischen Volks, für das die poetische Begeisterung eine innige Beziehung mit der Gottheit bildete, glücklicher ausgedrückt. Die Irrsale dieses Volks, seine Sitten, die Gedanken, deren es fähig war, die Bilder, die ihm geläufig waren, sind von Herder mit erstaunlichem Scharfsinn angedeutet. Mit Hilfe der gelungensten Vergleiche sucht er uns eine Idee von der Symmetrie des hebräischen Verses zu machen – von der Wiederkehr desselben Gefühls oder desselben Bildes in verschiedenen Ausdrücken, wovon jede Stanze ein Beispiel gibt. Bisweilen vergleicht er diese glänzende Regelmäßigkeit mit zwei Perlenschnüren, die den Haarwuchs einer schönen Frau umwinden. »Die Kunst und die Natur«, sagt er, »behalten immer eine gebietende Gleichförmigkeit mitten im Überfluß.« Liest man die Psalmen der Hebräer nicht in der Ursprache, so ist es unmöglich, ihren Zauber noch stärker zu empfinden, als in dem, was Herder darüber sagt. Seine Einbildungskraft fühlte sich in der abendländischen Welt beengt; mit Lust atmet er die Düfte Asiens, mit gleicher Lust verbreitete er durch seine Schriften den Weihrauch, den sein Gemüt dort gesammelt hatte.

Er zuerst machte die spanischen und portugiesischen Poesien in Deutschland bekannt, die seitdem durch A. Wilh. Schlegels Übersetzungen dahin verpflanzt worden sind. Herder hat eine Sammlung, »Volkslieder« betitelt, herausgegeben; und diese Sammlung enthält die Romanzen und vereinzelten Poesien, in denen sich der Nationalcharakter und die Einbildungskraft der Völker abgebildet hat. Hierin kann man die natürliche Poesie studieren; ich meine die, die der Aufklärung vorangeht. Die angebaute Literatur wird in so kurzer Zeit eine gemachte, künstliche, daß es gut ist, bisweilen zu dem Ursprung aller Poesie, d. h. zu dem Eindruck der Natur auf den Menschen, ehe er das Universum und sich selbst zergliedert hatte, zurückzukehren. Die Biegsamkeit der deutschen Sprache verträgt sich vielleicht allein mit einer Übersetzung dieser Naivitäten aus den Sprachen aller Länder, ohne die man keinen Eindruck von den Volkspoesien erhält. In diesen Poesien haben die Wörter durch sich selbst eine gewisse Anmut, die uns rührt wie eine Blume, die wir in unserer Kindheit gesehen, oder wie eine Gesangsweise, die wir in früheren Jahren gehört haben. Und diese seltsamen Eindrücke enthalten nicht nur die Geheimnisse der Kunst, sondern selbst die der Seele, aus der die Kunst sie geschöpft hat. Die Deutschen zergliedern in ihrer Literatur selbst die zarten Abstufungen, die sich dem Worte versagen, und man könnte ihnen den Vorwurf machen, daß sie es in allen Dingen darauf anlegen, das Unaussprechliche begreiflich zu machen.

Ein Mann von Genie, der so aufrichtig war wie Herder, mußte die Religion allen Gedanken, und alle Gedanken der Religion beimischen. Man hat gesagt: seine Schriften hätten große Ähnlichkeit mit einer belebten Unterhaltung. Wahr ist, daß er seinen Werken nicht die methodische Form gegeben hat, die man den Büchern in der Regel gibt. In den Säulengängen und in den Gärten der Akademie erklärte Plato seinen Schülern das System der intellektuellen Welt; und in Herder findet man jene edle Nachlässigkeit des Talents, die mit Ungeduld zu neuen Ideen übergeht. Ein gut konstruiertes Buch ist eine moderne Erfindung. Die Entdeckung der Buchdruckerei hat die Abteilungen, die Rekapitulationen und das ganze Gepränge der Logik notwendig gemacht; die meisten philosophischen Werke der Alten sind Abhandlungen oder Gespräche, die man sich als geschriebene Unterhaltungen denkt. Auch Montaigne überließ sich einem natürlichen Gedankenlauf. Es ist wahr, zu einem solchen Sichgehenlassen gehört eine entschiedene Überlegenheit; die Ordnung ergänzt den Reichtum, und wenn die Mittelmäßigkeit sich dem Zufall überlassen wollte, so würde sie gewöhnlich uns auf denselben Punkt zurückbringen, so daß die Mühe umsonst wäre. Aber ein Mann von Genie interessiert am meisten, wenn er zeigt, wie er ist, und wenn seine Bücher mehr improvisiert als komponiert scheinen.

Herders Unterhaltung war, wie man sagt, bewundernswert; und in seinen Werken fühlt man, daß dem so sein mußte. Auch das fühlt man darin, daß es, wie alle seine Freunde bezeugen, keinen besseren Mann gab. Wenn das literarische Talent denen, die uns noch nicht kennen, Zuneigung für uns einflößen kann, so ist es von allen Geschenken des Himmels das, von dem wir die süßesten Früchte auf Erden einsammeln.


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