Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Vom Stil und der Verskunst in der deutschen Sprache

Wenn man die Prosodie einer Sprache erlernt, so dringt man dadurch tiefer in den Geist der Nation, die sie spricht, als durch jegliches andere Studium. Daher kommt es, daß man Vergnügen findet, fremde Worte auszusprechen, man hört sich selbst, als hörte man einen dritten sprechen; nichts aber ist so zart, nichts so schwer zu ergreifen, als der Akzent, man lernt tausendmal leichter die verwickelteste Arie, als die Aussprache einer einzigen Silbe. Nur eine lange Reihe von Jahren, oder die ersten Eindrücke der Kindheit, geben die Fähigkeit, eine Aussprache zu erlernen, die mit dem Feinsten und Unerklärlichsten in der Einbildungskraft und im National-Charakter zusammenhängt.

Die deutschen Dialekte haben ihren Ursprung in einer Muttersprache, aus der sie alle schöpfen. Diese gemeinschaftliche Quelle erneuert und vervielfältigt die Ausdrücke auf eine dem Genius der Völker stets angemessene Weise.

Die Luft, die man atmet, hat großen Einfluß auf die Töne, die man hervorbringt; Verschiedenheit des Bodens und des Klimas erzeugen in derselben Sprache die verschiedensten Arten der Aussprache. Näher zum Meere hin werden die Worte sanfter, das Klima ist dort gemäßigter; vielleicht auch stimmt das fortwährende Schauspiel dieses Bildes der Unendlichkeit zur Schwärmerei und gibt der Aussprache mehr Weichheit und Langsamkeit. Erhebt man sich dagegen in die Gebirge, so wird der Akzent kräftiger, als ob die Bewohner dieser erhabenen Gegenden sich dem Rest der Welt von der Höhe ihrer natürlichen Rednerbühnen verständlich machen wollten. In den deutschen Dialekten findet man die Spuren der eben von mir angedeuteten Einflüsse.

Das Deutsche ist an und für sich selbst eine eben so ursprüngliche Sprache, und hat fast einen eben so gelehrten Bau, wie das Griechische. Die Forscher, welche über die großen Völkerfamilien Untersuchungen angestellt haben, glaubten historische Gründe für diese Ähnlichkeit zu finden; wahr bleibt es immer, daß man im Deutschen eine grammatikalische Ähnlichkeit mit dem Griechischen findet, mit dem es die Schwierigkeit teilt, ohne dessen Reiz zu besitzen: da die Menge der Konsonanten, aus denen die Wörter dieser Sprache bestehen, sie mehr harttönend, als wohlklingend machen. Man möchte sagen, daß diese Wörter stärker sind, als das, was sie ausdrücken sollen, und dies gibt zuweilen dem Stil eine Eintönigkeit von Energie.

Jean Jacques Rousseau sagt: die südlichen Sprachen seien Töchter der Freude, die des Nordens Töchter der Notwendigkeit. Das Italienische und das Spanische haben Modulationen wie ein harmonischer Gesang, das Französische ist zur Unterhaltung geeignet; das Deutsche dagegen ist eine Wissenschaft. Die deutsche Periode umspannt den Gedanken wie eine Schere, die sich bald öffnet und bald wieder schließt, um ihn zu fassen. Ein fast antiker Bau der Phrasen hat in dieser Sprache leichter Platz gefunden, als in irgendeiner anderen europäischen Sprache; aber Inversionen passen kaum für neuere Sprachen. Die auffallenden Endungen der griechischen und lateinischen Wörter ließen leicht erkennen, welche unter ihnen bestimmt waren, sich mit einander zu verbinden, selbst wenn sie getrennt dastanden: die Deklinationszeichen bei den Deutschen sind so dumpf, daß man unter diesen eintönigen Zeichen Mühe hat, diejenigen Wörter herauszufinden, die von einander abhängen.

Wenn Ausländer sich über die Mühe beschweren, die ihnen das Studium der deutschen Sprache macht, so antwortet man ihnen gewöhnlich, daß es sehr leicht sei, in dieser Sprache mit der Einfachheit der französischen Grammatik zu schreiben, daß es dagegen im Französischen unmöglich wäre, den deutschen Periodenbau anzunehmen. Das Deutsche ist vielleicht die einzige Sprache, in welcher Verse leichter als Prosa zu verstehen sind, da die poetische Phrase, die notwendigerweise durch das Versmaß zerschnitten wird, über dasselbe hinaus nicht verlängert werden kann.

Die Kunst des Übersetzens ist in Deutschland weiter gediehen, als in irgendeiner andern europäischen Sprache. Voß hat griechische und römische Dichter mit bewunderungswürdiger Treue, und August Wilhelm Schlegel englische, italienische und spanische mit einer Wahrheit des Kolorits in die deutsche Sprache übertragen, wovon es zuvor kein Beispiel gab. Bei Übersetzungen aus dem Englischen verliert das Deutsche seinen natürlichen Charakter nicht, weil diese Sprachen beide germanischen Ursprungs sind; aber wie verdienstlich auch Vossens Übersetzung des Homer sein möge, so macht sie doch aus der Ilias und der Odyssee nur Gedichte in griechischem Stil, wenn auch mit deutschen Worten. Die Altertumskunde gewinnt hierbei, aber die der Sprache einer jeden Nation eigene Eigentümlichkeit muß notwendigerweise dabei verlieren. Es scheint ein Widerspruch zu sein, wenn man die deutsche Sprache zu gleicher Zeit einer zu großen Biegsamkeit und Rauhigkeit beschuldigt; was sich aber im Charakter mit einander verträgt, das kann es auch in der Sprache: und häufig schützen die Unannehmlichkeiten der Rauhigkeit in einem und dem nämlichen Menschen nicht gegen die der zu großen Weichheit.

Diese Fehler fallen viel seltener in Versen als in der Prosa, in Original-Werken viel weniger als in Übersetzungen auf; ich glaube mithin mit Wahrheit sagen zu dürfen, daß es heutzutage keine frappantere und mannigfaltigere Poesie gibt, als die deutsche.


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