Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Enthusiasmus und Aufklärung

Dies Kapitel ist in mancher Hinsicht das Hauptkapitel meines ganzen Werks; denn da der Enthusiasmus die unterscheidende Eigenschaft der deutschen Nation ist, so kann man aus dem Einfluß, den er auf die Aufklärung ausübt, über die Fortschritte des menschlichen Geistes in Deutschland ein Urteil gewinnen. Der Enthusiasmus gibt dem Unsichtbaren Leben, und dem, was nicht unmittelbar auf unser Wohlsein in dieser Welt hinzielt, Interesse. Es gibt also kein Gefühl, das zur Auffindung abstrakter Wahrheiten geeigneter wäre. Auch werden diese in Deutschland mit bemerkenswerter Liebe und Rechtlichkeit kultiviert.

Die Philosophen, die der Enthusiasmus begeistert, sind vielleicht von allen die, welche in ihren Arbeiten die meiste Genauigkeit und Geduld zeigen; zu gleicher Zeit die, die am wenigsten glänzen wollen. Um ihrer selbst willen lieben sie die Wissenschaft und rechnen sich für nichts, sobald von der Materie ihrer Verehrung die Rede ist. Die physische Natur verfolgt auf unveränderliche Weise ihre Bahn durch die Zerstörung der Individuen; der Gedanke des Menschen nimmt einen erhabenen Charakter an, wenn er dahin gelangt, sich selbst aus einem universellen Gesichtspunkte zu betrachten. Schweigend dient dann der Mensch den Triumphen der Wahrheit, und die Wahrheit ist wie die Natur: eine Kraft, die nur in fortschreitender und regelmäßiger Entwickelung wirkt.

Mit Recht kann man sagen, daß der Enthusiasmus zum System-Geiste führt. Hängt man sehr an seinen Ideen, so möchte man alles an sie anknüpfen; aber im allgemeinen ist es leichter, mit aufrichtigen Meinungen, als mit solchen zu tun zu haben, die von Eitelkeit angenommen wurden. Hätte man in den gesellschaftlichen Verhältnissen immer nur mit dem zu schaffen was die Menschen wirklich denken, so würde man sich leicht verstehen können. Nur das, was sie zu denken vorgeben, führt die Zwietracht herbei.

Oft hat man den Enthusiasmus beschuldigt, daß er zum Irrtum führe. Aber ein oberflächliches Interesse betrügt weit mehr; denn zum Eindringen in das Wesen der Dinge bedarf es eines Antriebs, der uns anregt, uns eifrig damit zu beschäftigen. Faßt man außerdem das menschliche Geschick allgemeiner auf, so glaube ich behaupten zu können, daß wir dem Wahren nur durch Erhebung der Seele begegnen. Alles, was darauf hinzielt, uns herabzusetzen, ist Lüge, und, was man auch dagegen sagen möge, nur auf Seiten vulgärer Gesinnung ist der Irrtum.

Der Enthusiasmus – ich wiederhole es – hat mit dem Fanatismus nichts gemein und kann nicht, wie dieser, in die Irre führen. Der Enthusiasmus ist duldsam, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil er dazu führt, daß wir das Anziehende und Schöne in allen Dingen fühlen. Die Vernunft gewährt kein Glück an der Stelle dessen, was sie nimmt; der Enthusiasmus findet in der Träumerei des Herzens und in dem Umfang des Gedankens, was Fanatismus und Leidenschaft in eine einzige Idee oder in einen einzigen Gegenstand einschließen. Durch seine Allgemeinheit ist dies Gefühl dem Gedanken und der Phantasie höchst günstig.

Die Gesellschaft entwickelt den Verstand, aber nur die Beschaulichkeit bildet das Genie. Die Eigenliebe ist die Triebfeder der Länder, wo die Gesellschaft herrscht und der Egoismus führt notwendigerweise zu der Spötterei, die allen Enthusiasmus zerstört.

Leugnen läßt sich nicht, daß es sehr ergötzlich ist, das Lächerliche zu registrieren und mit Anmut und Fröhlichkeit zu malen. Vielleicht würde man besser daran tun, sich dieses Vergnügen zu versagen; indessen ist diese Art von Spötterei nicht die, deren Folgen am meisten zu fürchten sind: die, welche sich an Ideen und Gefühle hängt, ist die schädlichste von allen; denn sie schleicht sich in die Quelle starker und hochherziger Gesinnungen. Der Mensch übt eine große Herrschaft über den Menschen, und von allen Übeln, die er seinem Nächsten zufügen kann, ist das größte vielleicht, wenn er das Phantom des Lächerlichen zwischen großmütige Bewegungen und die Handlungen stellt, welche jene inspirieren.

Die Liebe, das Genie, das Talent, der Schmerz sogar – alle diese heiligen Dinge sind der Ironie ausgesetzt, und es läßt sich nie berechnen, wie weit die Herrschaft der Ironie sich erstrecken kann. In der Bosheit liegt etwas Reizendes; so wie in der Güte etwas Schwaches liegt. Die Bewunderung für das Große kann durch die Spötterei außer Fassung gebracht werden, und wer nichts wichtig nimmt, gerät in den Verdacht, als sei er über alles erhaben. Verteidigt also der Enthusiasmus weder unser Herz noch unseren Geist, so lassen sie sich durch diese Anschwärzung des Schönen einnehmen, welche die Unverschämtheit mit der Fröhlichkeit vereinigt.

Der Gesellschaftsgeist ist so geartet, daß man sich bisweilen zum Lachen zwingt, und daß man sich noch weit öfter schämt zu weinen. Woher das? Daher, daß die Eigenliebe sich weit mehr in der Spötterei als in der Rührung gesichert glaubt. Man muß schon sehr auf seinen Geist rechnen, wenn man gegen einen Spott ernsthaft zu bleiben wagen will; es gehört viel Kraft dazu, um Gefühle zu zeigen, die ins Lächerliche gezogen werden können. Fontenelle sagte: »Ich bin achtzig Jahre alt, ich bin Franzose, aber mein ganzes Leben hindurch habe ich nie die unbedeutendste Tugend auf irgendeine Weise lächerlich gemacht.« Fontenelle war kein gefühlvoller Mann, aber er hatte viel Verstand; und sooft man mit irgendeiner Überlegenheit ausgerüstet ist, fühlt man das Bedürfnis des Ernstes in der menschlichen Natur. Nur die Mittelmäßigen möchten, daß der Grund von allem Sand wäre, damit niemand auf Erden eine dauerhaftere Spur zurücklassen möge, als die ihre ist.

Bei sich selbst haben die Deutschen nicht mit den Feinden des Enthusiasmus zu kämpfen; und dies ist ein Hindernis weniger für ausgezeichnete Männer. Der Geist wird schärfer im Kampf; aber das Talent bedarf des Vertrauens. Glauben muß man an Bewunderung, an Ruhm, an Unsterblichkeit, um die Eingebung des Genies zu erfahren; und was den Unterschied der Jahrhunderte bildet, ist nicht sowohl die Natur, die immer gleich verschwenderisch mit ihren Gaben ist, als vielmehr die herrschende Meinung in den Zeiten, in denen man lebt. Geht die Tendenz dieser Meinung auf Enthusiasmus, so erheben sich große Männer von allen Seiten; wird hingegen die Mutlosigkeit proklamiert, wie man sonst zu edlen Anstrengungen anregte, so bleibt von der Literatur nichts weiter übrig, als Urteile über Vergangenheit.

Die furchtbaren Begebenheiten, deren Zeugen wir gewesen sind, haben die Seelen zugrunde gerichtet, und alles, was Gedanke heißt, ist verwittert und verbleicht neben der Allmacht des Handelns. Die verschiedensten Umstände haben die Geister bestimmt, alle Seiten derselben Fragen zu verteidigen, und das Ergebnis war, daß man nicht mehr an Ideen glaubte, oder daß man sie höchstens als Mittel zum Zweck betrachtet. Die Überzeugung scheint nicht mit ein Zeichen unserer Zeit zu sein, und wenn jemand sagt, er sei der oder der Meinung, so deutet man dies so, als gebe er auf eine zarte Weise an, daß er dies oder das Interesse habe.

Die ehrlichsten Menschen schaffen sich dann ein System, das ihre Trägheit in Würde verwandelt; sie sagen, daß man gegen nichts nichts ausrichten kann; sie wiederholen mit dem Einsiedler von Prag im Shakespeare, daß das, was ist, ist, und daß die Theorien keinen Einfluß auf die Welt besitzen. Zuletzt machen sie wahr, was sie sagen; denn mit einer solchen Denkweise kann man nicht auf andere wirken, und wenn der Verstand allein darin bestünde, das Für und Wider von allem zu sehen, so würden die Gegenstände um uns her uns bald so umtanzen, daß es unmöglich wäre, sicheren Schritts auf einem wankenden Boden zu gehen.

Man tut zweifellos denjenigen, die von edlen Wünschen erfüllt sind, sehr weh, wenn man ihnen unablässig alle die Argumente entgegenstellt, die selbst die vertrauensvollste Hoffnung verwirren möchten. Indessen der gute Glaube läßt sich nicht ermüden, denn er beschäftigt sich nicht mit dem, was die Dinge scheinen, sondern mit dem, was sie sind. Von welcher Atmosphäre man auch umgeben sei, nie ist ein aufrichtiges Wort verlorengegangen, und wenn es für den glücklichen Erfolg nur einen Tag gibt, so gibt es Jahrhunderte für das Gute, das die Wahrheit wirken kann.

Die Einwohner von Mexiko tragen, indem sie die Landstraße entlang gehen, jeder einen kleinen Stein zu der großen Pyramide, die sie mitten in ihrer Gegend errichten. Keiner wird ihr seinen Namen geben; aber alle werden zu diesem Denkmal beigetragen haben, das sie alle überleben soll.


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