Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Dramatische Kunst

Die Verschiedenheit der französischen und der deutschen Bühne läßt sich zwar durch die Verschiedenheit im Charakter beider Nationen erklären; aber an diese natürliche Eigenschaft schließen sich noch systematische Scheidewände, deren Grund wir entdecken müssen. Die aus der Fabel geschöpften Tragödien sind ganz anderer Natur, als die historischen; die mythischen Gegenstände waren so bekannt, von so allgemeinem Interesse, daß man sie nur angeben durfte, um die Phantasie im voraus in Anspruch zu nehmen. Das ausgezeichnete Poetische in den griechischen Trauerspielen, die Dazwischenkunft der Götter, die Einwirkung des Fatums, macht ihren Gang leichter. Das Detail der Motive, die Entwicklung der Charaktere, die Verschiedenheit der Tatsachen ist weniger notwendig, wo das Ereignis sich durch eine übernatürliche Macht erklärt; ein Wunder kürzt alles ab. Eben deswegen ist auch die tragische Handlung bei den Griechen bewundernswürdig einfach; die darin vorkommenden Begebenheiten werden meistens in der ersten Szene vorausgesehen, ja vorher verkündigt. Eine griechische Tragödie ist eine religiöse Zeremonie. Das Schauspiel wurde den Göttern zu Ehren gegeben; Hymnen, vom Dialog und von Erzählungen unterbrochen, zeigten die Götter bald gnädig, bald strafend und das Schicksal beständig über dem Leben der Menschen waltend.

Als aber diese Mythen auf die französische Bühne gebracht wurden, gaben unsere großen Dichter ihnen mehr Mannigfaltigkeit, vermehrten die Zwischenfälle, bereiteten die Überraschungen vor, schürzten den Knoten fester. Freilich mußte auf irgendeine Weise das religiöse Nationalinteresse ersetzt werden, das die Griechen an ihre Stücke fesselte, und wir mit ihnen nicht teilen konnten. Hierin gingen wir aber zu weit; damit nicht zufrieden, die griechischen Stücke lebendiger zu machen, liehen wir den Personen des Altertums unsere Sitten, unsere Gefühle, die neuere Politik, die neuere Liebeskunst. Eben deshalb können so viele Ausländer die Bewunderung nicht begreifen, die wir unsern tragischen Meisterwerken zollen. Und in der Tat, sobald man sie in einer fremden Sprache wiederholen hört, sobald sie von der magischen Schönheit des Stils entblößt sind, muß man sich wundern, wie wenig Rührung sie hervorbringen, und so manchen Übelstand tadeln, der in ihnen liegt; denn was sich weder mit den Sitten der laufenden Zeit, noch mit den Nationalsitten derer, die man darstellt, verträgt, gehört doch wohl zu den Übelständen?

Die Trauerspiele griechischen Ursprungs verlieren nichts dabei, daß man sie der Strenge der französischen Regeln unterwirft. Wollten wir aber in Frankreich wie in England ein historisches Theater haben, wollten wir an unseren Erinnerungen Interesse, in unserer Region Rührung finden, wie wäre es dann noch möglich, sich einerseits streng an die drei Einheiten zu binden und andererseits den Prunk zu pflegen, den man sich in unseren Tragödien zum Gesetz gemacht hat?

Die Frage der drei Einheiten ist so abgenutzt, daß man kaum noch ein Wort darüber verlieren darf; dennoch ist von diesen drei Einheiten nur die eine wesentlich, die der Handlung: die beiden andern sind ihr untergeordnet. Wenn aber die Wahrheit der Handlung unter der kindischen Notwendigkeit leidet, sich an den Ort und an die Zeit von vierundzwanzig Stunden zu binden, so heißt diese Notwendigkeit auferlegen nichts mehr und nichts weniger, als dem dramatischen Genie einen Zwang auflegen, demjenigen gleich, der den Dichter verdammen wird, alles in Akrostichen zu schreiben: ein Zwang, der in beiden Gattungen das Wesen der Kunst der Form opfert.

Von unsern großen tragischen Dichtern ist Voltaire derjenige, der häufig moderne Stoffe bearbeitet hat. Um den Zuschauer zu rühren, nahm er seinen Stoff aus der Geschichte des Christentums und der Ritterzeit, und will man ehrlich sein, so wird man zugeben müssen, daß bei den Vorstellungen von Alzire, Tancred, Zaïre mehr geweint wird, als bei allen griechischen und römischen Meisterstücken unserer Bühne.

Die Franzosen halten die Einheit des Orts und die Zeit für eine unerläßliche Bedingung der theatralischen Täuschung: die übrigen Nationen zerlegen diese Täuschung in die Schilderung der Charaktere, in die Wahrheit der Sprache, in die genaue Beobachtung der Sitten, der Zeit und des Landes, die sie darzustellen haben. Man muß vor allen Dingen das, was man Täuschung in den Künsten nennt, verstehen lernen, und da wir gefällig genug sind zu glauben, daß Schauspieler auf erhöhten Brettern in einiger Entfernung griechische Helden sind, die vor dreitausend Jahren lebten und starben, so ist wohl klar, daß man unter Täuschung sich nicht denken darf: was man sehe, sei wirklich da; eine Tragödie kann nur durch die Rührung, die sie in uns hervorbringt, Wahrheit erlangen. Wenn nun als Folge der dargestellten Umstände die Rührung durch die Veränderung des Orts, durch die Verlängerung der Zeiten gewinnt, so gewinnt ja auch die Täuschung an Stärke.

In den Begebenheiten, die Nationen interessieren, ist alles Trauerspiel; und das unermeßliche Drama, das seit den ältesten Zeiten vom Menschengeschlecht aufgeführt wird, würde dem Theater unzählige reichhaltige Stoffe liefern, sobald der dramatischen Kunst mehr Freiheit erlaubt wäre. Die Regeln sind der bloße Wegweiser des Genies; sie sagen ihm bloß: hier sind Corneille, Racine, Voltaire durchgekommen. Wozu aber, wenn man nur das Ziel erreicht, über die Wege klügeln? Und ist dieses Ziel nicht die Rührung des Gemüts durch Veredelung?

Die Neugier ist eines der großen Triebräder der Bühne. Dennoch bleibt das Interesse, das die Tiefe des Affekts hervorbringt, das einzig Unerschöpfliche. Man gewinnt Sinn für die Poesie, die den Menschen dem Menschen offenbart; man sieht mit Teilnahme, wie das Geschöpf nach unserem Bild gegen das Leiden ankämpft, unterliegt, den Sieg davonträgt, unter der Gewalt des Schicksals dahinsinkt und wieder emporsteigt. In einigen unserer Trauerspiele stößt man auf ebenso gewaltsame Lagen wie in englischen oder deutschen; nur sind diese Lagen nicht in ihrer ganzen Stärke dargestellt; oft hat man mit Bedacht, aus Affektion, die Wirkung einer Situation gemildert oder, besser zu sagen, vermischt. Höchst selten trennt man sich von der konventionellen Tendenz, die das Recht zu haben glaubt, die Sitten der Alten, wie die Sitten der Neueren mit denselben Farben auszumalen, das Verbrechen wie die Tugend, den Mord wie die Galanterie zu behandeln. Diese Tendenz wird am Ende zur Last; und das Bedürfnis, sich in tiefere Geheimnisse zu stürzen, muß das Genie unwiderstehlich ergreifen.

Indem ich hier ein Theater bekannter mache, dessen Grundsätze von den unsrigen wesentlich abweichen, liegt es mir fern, behaupten zu wollen, diese Grundsätze seien die besseren, und noch weniger, man müsse sie in Frankreich befolgen; nur so viel ist ausgemacht: fremde Kombinationen können zu neuen Ideen Anlaß geben; und wenn man sieht, von welcher Dürre unsere Literatur bedroht wird, ist der Wunsch ziemlich natürlich, daß es unseren Literatoren gefallen möge, die Grenze ihrer Laufbahn etwas weiter abzustecken und auch ihrerseits in dem Gebiete der Phantasie Eroberungen zu machen. Sollte es den Franzosen schwer fallen, einem Rate, wie diesem, Gehör zu geben?


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