Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Über die auf persönlichen Eigennutz gegründete Moral

Man kann das folgende Kapitel »Über die auf persönlichen Eigennutz gegründete Moral« nicht ohne tiefe Bewunderung lesen. Mit einer niederwerfenden Bündigkeit in den Schlußfolgen, mit einer gefühlvollen Beredsamkeit, die nur sie besitzt, zermalmt hier Frau von Staël die Lehre, die uns die Aufopferung unser selbst im Rahmen unseres eigenen Nutzens auferlegen will; die dem Feinde, dem Egoismus, die Bewachung der belagerten Festung anvertraut, und indem sie die letzte eigennützige Berechnung für die Triebfeder aller Handlungen ausgibt, das Laster ebenso sehr rechtfertigt, wie sie die Tugend herabwürdigt. Vergebens würde man alle Spitzfindigkeiten aufbieten, um ein solches Licht zu verdunkeln; man kann die Lesung dieses Abschnittes nicht genug empfehlen, der allein hinreicht, der Verfasserin einen Rang unter den ersten Moralisten zu sichern.

(Frau Necker-Saussure in ihren Erinnerungen an Frau von Staël).

Die französischen Schriftsteller haben vollkommen recht gehabt, wenn sie die auf den Vorteil gegründete Moral als eine Folge derjenigen Metaphysik betrachteten, die alle Ideen den Sinnen-Eindrücken zuschreibt. Denn, wenn in der Seele nichts weiter enthalten ist, als was Sinnen-Eindrücke darin niedergelegt haben: so muß das Angenehme und das Unangenehme die einzige Triebfeder unseres Willens sein.

Da der Wunsch der Menschen nach Wohlbefinden der allgemeinste und tätigste von allen ist: so hat man die Moral am besten zu begründen geglaubt, wenn man von ihr sagte: sie bestehe in dem wohlverstandenen persönlichen Vorteil. Diese Idee hat treuherzige Menschen verführt, und andere haben sich vorgenommen, sie zu mißbrauchen, ohne daß es ihnen damit gelungen wäre.

Jenen Argumenten, die dem Glück des Lasters und den Unfällen der Tugend entnommen sind, entgeht man dadurch, daß man das Wohlbefinden in die Zufriedenheit des Gewissens setzt; jedoch diese Zufriedenheit gehört einer durchaus religiösen Ordnung an und hat mit dem, was hienieden durch das Wort »Wohlsein« bezeichnet wird, nichts gemein. Aufopferung oder Selbstsucht, Laster oder Tugend, ein gut oder schlecht verstandenes persönliches Interesse nennen, heißt, die Kluft ausfüllen wollen, die den Schuldigen von dem Rechtschaffenen trennt, heißt, die Achtung zerstören, heißt den Unwillen schwächen; denn wenn die Moral nur ein guter Kalkül ist: so darf derjenige, der dagegen sündigt, nur des verbildeten Verstandes beschuldigt werden. Man könnte gegen den einen, weil er gut kalkuliert, nicht das edle Gefühl der Hochachtung, noch gegen den andern, weil er schlecht kalkuliert, eine kräftige Verachtung empfinden. Durch dieses System ist man also zu dem Hauptzweck aller schlechten Menschen gelangt, die das Gerechte und das Ungerechte auf die gleiche Waage bringen, wenigstens das eine wie das andere als eine schlecht gespielte Rolle betrachtet wissen wollen. Unbegreiflich würden in einem solchen System die Gewissensbisse sein.

Das Verhalten eines Menschen ist nur dann moralisch, wenn er die glücklichen oder unglücklichen Folgen seiner Handlungen, sobald diese von der Pflicht diktiert sind, für nichts achtet. Bei der Leitung der Angelegenheiten dieser Welt muß man zwar die Verkettung der Ursachen und Wirkungen, der Mittel und des Zwecks, stets vor Augen haben; aber diese Klugheit verhält sich zur Tugend, wie der gesunde Menschenverstand zum Genie: alles, was wahrhaft schön ist, ist eingegeben, so wie alles Uneigennützige religiös ist. Die Berechnung ist der Handarbeiter des Genies, der Diener der Seele; wird sie aber der Herr, dann ist nichts Großes und Edles mehr im Menschen. Als Führer ist die Berechnung im Leben zulässig, aber nie als Triebfeder unserer Handlungen. Sie ist ein gutes Vollziehungsmittel; allein die Quelle des Wollens muß von einer erhabenen Beschaffenheit sein; man muß ein inneres Gefühl in sich tragen, das uns zur Aufopferung unserer persönlichen Vorteile nötigt.

Als man den hlg. Vincenz von Paula verhindern wollte, sich den größten Gefahren auszusetzen, um den Unglücklichen beizustehen, antwortete er: »Glaubt ihr, daß ich so niederträchtig bin, mein Leben mir selbst vorzuziehen?« Wenn die Anhänger der auf Eigennutz gegründeten Moral von diesem Eigennutz alles trennen wollen, was das irdische Dasein angeht, dann werden sie mit den religiösesten Menschen einverstanden sein; und selbst dann noch müßte man ihnen die schlechten Ausdrücke, derer sie sich bedienen, zum Vorwurf machen.

In der Tat, wird man sagen, es dreht sich hier alles um einen Wortstreit: was wir nützlich nennen, das nennt ihr tugendhaft, aber, wie ihr, sehen wir das wohlverstandene Interesse darin, daß man seine Leidenschaften seinen Pflichten zum Opfer bringt. – Wortstreite sind immer Sachstreite; denn alle aufrichtigen Menschen werden eingestehen, daß sie an dem und dem Worte nur aus Vorliebe für die und die Idee hängen. Wie könnten Worte, die in den ordinärsten Beziehungen gebraucht werden, edle Gefühle erwecken? Wenn man die Wörter: Eigennutz und Nützlichkeit ausspricht, wird man dann in dem Herzen dieselben Gedanken wecken, wie bei einer Beschwörung im Namen der Aufopferung und Tugend?

Als Thomas Morus lieber auf dem Schafott sterben, als den Gipfel menschlicher Größe mit Aufopferung eines Gewissensskrupels ersteigen wollte; als er, nach einem einjährigen Aufenthalt im Kerker von Leiden abgeschwächt, sich weigerte, seine Frau und seine Kinder wiederzusehen und sich von neuem den Beschäftigungen des Geistes zu überlassen, die dem Dasein zugleich Ruhe und Tätigkeit gewähren; als die bloße Ehre, diese weltliche Religion, einen alten König von Frankreich in die Kerker von England zurückführte, weil sein Sohn nicht das Versprechen gehalten hatte, dessen Folge seine Freiheit war; als die Christen in den Katakomben lebten, auf das Tageslicht verzichteten, und den Himmel nur in ihrer Seele fühlten: wenn damals jemand gesagt hätte, sie verstünden sich auf ihren Vorteil, um wie viel besser hätte ein gerührter Blick uns enthüllt, was in solchen Menschen erhaben ist!

Wahrlich, das Leben ist nicht so unfruchtbar, wie die Selbstsucht es uns gemacht hat. Nicht alles darin ist Klugheit, nicht alles Berechnung; und wenn eine erhabene Handlung alle Kräfte unseres Wesens erschüttert: so denken wir nicht, der sich selbst aufopfernde Mensch habe seinen persönlichen Vorteil gut verstanden. Wir denken vielmehr, er opfere zwar alle seine Freuden, alle Vorzüge dieser Welt, aber ein göttlicher Strahl sei in sein Herz gefallen, um ihm eine Art von Glückseligkeit zu gewähren, die sich zu allem, was wir so zu benennen pflegen, verhält, wie die Unsterblichkeit zum Leben.

Und doch gibt man sich nicht ohne Ursache so viel Mühe, die Moral auf den persönlichen Eigennutz zu gründen. Es sieht so aus, als verteidige man nur eine Theorie. Keiner, wie verderbt er auch sein möge, wird behaupten, daß es keiner Moral bedürfe; denn selbst derjenige, der die meiste Entschlossenheit hatte, sich darüber hinwegzusetzen, möchte noch mit Betrogenen zu tun haben, die sie beibehalten. Aber welche Geschicklichkeit, der Moral die Klugheit zur Grundlage gegeben zu haben! Welch ein Übermut ist dem Übergewicht der Macht, der Abfindung mit dem Gewissen und den beweglichen Ratschlägen der Ereignisse an die Hand gegeben!

Soll die Berechnung in allem den Vorsitz führen: so müssen die Handlungen der Menschen nach dem Erfolg beurteilt werden, so wird man den, dessen gute Gefühle ein Unglück verursacht haben, tadeln, und den Verkehrten, aber Gewandten, mit Lob überschütten; und da die einzelnen sich untereinander nur als Hindernisse oder als Werkzeuge betrachten: so werden sie sich als Hindernisse hassen und sich nur noch als Werkzeuge schätzen. Das Verbrechen selbst hat mehr Größe, wenn es aus der Unordnung entflammter Leidenschaften herrührt, als wenn es den persönlichen Vorteil zum Ziel hat. Wie kann man doch der Tugend etwas zum Prinzip geben, das selbst das Laster entehren würde!


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