Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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»Geniale Menschen aller Länder sind geeignet, einander zu verstehen«

Eine für ein Instrument gesetzte Musik läßt sich auf einem Instrument anderer Gattung nicht mit Erfolg spielen. Außerdem besteht die deutsche Literatur in ihrer ganzen Eigentümlichkeit eigentlich nur seit vierzig bis fünfzig Jahren, und die Franzosen sind seit den letzten zwanzig so sehr durch politische Ereignisse beschlagnahmt worden, daß sie alles Studium der Literatur bei Seite gestellt haben.

Man würde jedoch die Fragen nur höchst oberflächlich behandeln, wenn man bei der Behauptung stehen bliebe: die Franzosen seien darum ungerecht gegen die deutsche Literatur, weil sie sie nicht kennen. Sie haben allerdings Vorurteile gegen sie, aber diese Vorurteile gründen sich auf das dunkle Gefühl der entschiedenen Ungleichheit in der Art zu sehen und zu empfinden, die zwischen beiden Nationen vorhanden ist.

In Deutschland gibt es über nichts feste Geschmacksregeln, alles ist da unabhängig, alles individuell. Man urteilt über ein Werk immer nur nach dem Eindruck, den es macht, niemals nach Regeln, weil es keine allgemein geltenden gibt; jedem Autor steht es frei, sich eine neue Welt zu bilden. In Frankreich wollen die meisten Leser nie auf Kosten ihres literarischen Gewissens gerührt, nicht einmal unterhalten sein, dort hat der Skrupel sein Reich.

Ein deutscher Autor bildet sein Publikum, in Frankreich gebietet das Publikum den Autoren. Da in Frankreich die Zahl der Menschen von Geist (esprit) viel größer ist als in Deutschland, so imponiert dort auch das Publikum viel mehr, während deutsche Schriftsteller, unendlich hoch über ihren Richtern stehend, sie beherrschen, anstatt von ihnen Gesetze zu empfangen. Daher kommt es, daß diese Schriftsteller selten durch die Kritik vervollkommnet werden; keine Ungeduld von Lesern oder Zuschauern nötigt sie, schleppende Stellen aus ihren Werken zu streichen, und selten nur halten sie zur rechten Zeit inne. Franzosen denken und leben nur in andern, wenigstens was die Eigenliebe angeht, und man merkt es den meisten ihrer Werke an, daß ihr Hauptzweck nicht der Gegenstand ist, den sie behandeln, sondern die Wirkung, die sie hervorbringen. Der französische Schriftsteller sieht sich immer in der Gesellschaft, selbst wenn er schreibt, und verliert nie die Kritiken, die Spötteleien, den Modegeschmack, kurz die literarische Autorität aus den Augen, unter der er in der oder jener Epoche lebt.

In Frankreich liest man selten ein Buch aus anderem Grunde, als um darüber zu sprechen; in Deutschland will man, daß das Werk Gesellschaft leiste. Der Mensch in der Einsamkeit bedarf der Anregung des Innern, um die äußere Bewegung zu ersetzen, die ihm fehlt.

Klarheit gilt in Frankreich für eins der hauptsächlichsten schriftstellerischen Verdienste: es kommt vor allen Dingen darauf an, daß man bei einem Werke keine Mühe nötig hat und bei der Morgenlektüre aufhascht, womit man abends in der Gesellschaft glänzen kann. Die Deutschen sehen dagegen ein, daß Klarheit immer nur ein relatives Verdienst ist, und ein Buch bloß in Bezug auf seinen Inhalt und seine Leser klar genannt werden kann.

Allerdings ist es notwendig, Licht in die Tiefe zu bringen; aber wer sich bloß an die Grazien des Verstandes oder an ein Spiel mit Worten hält, kann viel sicherer darauf rechnen, verstanden zu werden; wer keinem Mysterium nahetritt, wie könnte der dunkel sein? Die Deutschen gefallen sich in Dunkelheiten; oft hüllen sie, was klar am Tage lag, in Nacht, bloß um den geraden Weg zu meiden; sie haben einen solchen Widerwillen gegen gewöhnliche Gedanken, daß, wenn sie sich genötigt sehen, sie niederzuschreiben, sie ihnen den Mantel einer abstrakten Metaphysik umhängen, die sie neu scheinen läßt, bis man sie erkennt.

Die deutschen Schriftsteller genieren sich nicht mit ihren Lesern; da ihre Werke wie Orakelsprüche aufgenommen und ausgelegt werden, so können sie sie in so viel Wolken hüllen, wie es ihnen gefällt. Die Geduld, dies Gewölk zu zerstreuen, fehlt niemals, aber am Ende muß sich dahinter doch eine Gottheit zeigen, denn, was die Deutschen am wenigsten dulden, ist getäuschte Erwartung: ihre Anstrengung und Ausdauer machen ihnen große Resultate zum Bedürfnis. Sind in einem deutschen Werk nicht starke und neue Gedanken, so wird es bald der Verachtung preisgegeben, und wenn das Talent auch alles verzeihlich macht, so haben in Deutschland doch die verschiedenartigen Künste, durch die man Talent zu ersetzen sucht, keinen Wert.

Die dramatische Kunst bietet ein auffallendes Beispiel der bestimmten Eigenschaften beider Völker dar. Was Handlung, Intrige, Interesse der Begebenheiten betrifft, da verstehen die Franzosen tausendfach besser aufzufassen und zu verbinden. Die Entwicklung von Herzenseindrücken und die geheimen Stürme starker Leidenschaften werden dagegen von den Deutschen viel tiefer ergründet. Wenn die vorzüglichen Menschen beider Länder den höchsten Grad der Vollkommenheit erreichen sollten, müßten die Franzosen religiös, die Deutschen ein wenig weltlich werden. Die Frömmigkeit arbeitet der Seelenzerstreuung entgegen, die zugleich der Hauptfehler und das Angenehmste der Franzosen ist, und die Kenntnis der Menschen und der Gesellschaft würde den Deutschen in literarischer Hinsicht den Geschmack und die Gewandtheit, die ihnen fehlt, geben. Die Schriftsteller beider Länder sind ungerecht gegeneinander.

Bei ausgebreiteten Kenntnissen läßt man so viel verschiedene Arten, die Dinge zu sehn, an sich vorübergehen, daß der Geist dadurch die Duldung gewinnt, die eine Frucht der Universalität ist.

Die Franzosen würden indessen mehr dabei gewinnen, wenn sie das Genie der Deutschen begreifen lernten, als die Deutschen bei der Unterwerfung unter den französischen Geschmack. Alle neueren Versuche, die französische Regelmäßigkeit mit etwas fremder Würze zu versetzen, sind mit rauschendem Beifall aufgenommen worden. J. J. Rousseau, Bernardin de Saint Pierre, Chateaubriand sind in einigen ihrer Werke, selbst ohne es zu wissen, mit der deutschen Schule verwandt, das heißt, sie schöpfen ihr Talent nur aus der Tiefe ihrer Seele. Wollte man dagegen die deutschen Schriftsteller nach den französischen Verbotsgesetzen regeln, so würden sie nicht wissen, wie durch alle diese Klippen zu steuern sei, sich nach dem offenen Meer zurücksehnen und ihren Geist eher verwirrt als belehrt finden. Es folgt hieraus nicht, daß sie alles wagen sollen und zuweilen nicht wohl täten, sich Grenzen zu setzen, aber es kommt hier darauf an, daß man ihnen nach ihren eigenen Ansichten den Platz anweist. Man muß, um sie dahin zu bringen, gewisse Beschränkungen anzunehmen, auf den Grund dieser Beschränkungen zurückgehen, ohne sich jedoch der Autorität des Lächerlichen zu bedienen, gegen die sie durchaus rebellisch sind.

Geniale Menschen aller Länder sind geeignet, sich zu verstehen und zu schätzen, aber die Mehrzahl der deutschen und französischen Schriftsteller und Leser erinnert an Lafontaines Fabel von dem Storch, der nicht aus der Schüssel, und dem Fuchs, der nicht aus der Flasche essen kann.


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