Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Lessing und Winkelmann

Die deutsche Literatur ist vielleicht die einzige, die mit der Kritik angefangen hat; in allen andern sind die Meisterwerke ihr vorangegangen, in Deutschland war sie es, die jene erzeugte. Verschiedene andere Nationen hatten sich seit mehreren Jahrhunderten in der schriftstellerischen Kunst ausgezeichnet, die Deutschen kamen später als alle anderen und glaubten eben nichts besseres zu tun zu haben, als auf der gebahnten Straße fortzuschreiten; die Kritik mußte daher zuerst die Nachahmung beseitigen und der Eigentümlichkeit Raum schaffen. Lessing schrieb eine Prosa, so rein und gedrungen, wie sie damals ganz unbekannt war: die Tiefe der Gedanken macht den Stil der Schriftsteller der neuen Schule oft etwas unsicher; Lessing bei nicht geringerer Tiefe hatte etwas Herbes in seinem Charakter, was ihn immer die schärfsten, beißendsten Ausdrücke finden ließ. Ihn beseelte in allen seinen Schriften ein feindseliges Gefühl gegen die Meinungen, die er bekämpfte, und der Zorn gibt den Ideen Schwung.

Er beschäftigte sich nach der Reihe mit der Bühne, der Philosophie, der Antike und der Theologie, die Wahrheit stets verfolgend wie ein Jäger, dem das Jagen noch größere Lust gewährt als die Beute. Sein Stil hat einige Ähnlichkeit mit dem durch lebendige und glänzende Kürze ausgezeichneten der Franzosen; er strebt danach, das Deutsche zu einer klassischen Sprache zu erheben. Die Schriftsteller der neuen Schule umfassen mehr Gedanken auf einmal, Lessing jedoch verdient allgemeinere Bewunderung; sein Geist war neu und kühn, und dessen ungeachtet jedem Menschen faßlich; seine Art zu sehen, war deutsch, seine Art sich auszudrücken, europäisch.

Ein geistreicher und in seinen Schlüssen beweiskräftiger Dialektiker, war er im Grund der Seele doch von Enthusiasmus für das Schöne erfüllt; eine Glut ohne Flamme war ihm eigentümlich und eine immer rege philosophische Heftigkeit, die durch wiederholte Schläge dauernde Wirkungen erzeugte.

Lessing analysierte das französische Theater, das damals allein in seinem Vaterlande das Feld beherrschte, und stellte die Behauptung auf, daß die größere Verwandtschaft zwischen dem Englischen und dem Geist seiner Landsleute vorhanden sei. In seinen Beurteilungen der Merope, Zaïre, Semiramis und Rodogune hebt er nicht etwa die oder jene besondere Unwahrscheinlichkeit heraus, sondern greift geradezu die Wahrheit der Gefühle und Charaktere an, indem er die in diesen Dichtungen handelnden Personen als wirkliche Wesen vor den Richterstuhl fordert. Um die Urteile Lessings über das System der dramatischen Kunst im allgemeinen mit Gerechtigkeit würdigen zu können, muß man die Hauptverschiedenheiten prüfen, die in den Ansichten der Franzosen und der Deutschen über diesen Gegenstand vorhanden sind. Bedeutend bleibt es aber immer für die Geschichte der Literatur, daß ein Deutscher den Mut hatte, einen großen französischen Schriftsteller zu kritisieren und voll Geist mit dem Fürsten der Spötter, Voltaire, selbst einen Scherz zu treiben.

Es war ein Großes für ein Volk, das unter dem Urteil, das ihm Geschmack und Anmut absprach, seufzte, zu hören, daß jedes Land einen Nationalgeschmack, eine natürliche Anmut besitzt, und der literarische Ruhm auf verschiedenen Wegen erworben werden kann. Lessings Schriften gaben einen neuen Anstoß; man fing an, Shakespeare zu lesen, man wagte in Deutschland, sich einen Deutschen zu nennen, und an die Stelle des Joches trat die Volkseigentümlichkeit in ihre Rechte.

Lessing hat theatralische und philosophische Werke geschrieben, die beide besonders geprüft zu werden verdienen; man muß die deutschen Schriftsteller jederzeit unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Da sie durch die Kraft des Denkens noch mehr glänzen als durch Talent, so widmen sie sich nicht ausschließlich einer Gattung, und das Nachdenken führt sie nach und nach auf verschiedene Bahnen.

Unter Lessings Schriften ist Laokoon eine der merkwürdigsten; es werden darin die Gegenstände, die sich zu Vorwürfen der Poesie und der Malerei eignen, mit ebensoviel Philosophie in den Grundsätzen als Scharfsinn in der Wahl der Beispiele beleuchtet; doch bleibt Winkelmann immer derjenige, von dem in Deutschland eine wahre Revolution in der Art, die Kunst und durch die Kunst die Literatur zu betrachten, ausging. Dieser Mann, der anfänglich das Altertum nur aus Büchern kannte, wollte selbst hingehen, dessen hohe Überbleibsel zu schauen: eine innere Glut zog ihn nach dem Süden, wie man denn häufig in der Einbildungskraft der Deutschen Spuren jener Liebe zur Sonne findet, die aus den Beschwerlichkeiten des Nordens entspringt.

Ein schöner Himmelsstrich erzeugt Gefühle, die der Vaterlandsliebe ähnlich sind. Als Winkelmann nach einem langen Aufenthalt in Italien von dort nach Deutschland zurückkam, erfüllte ihn der Anblick des Schnees, der spitzen Dächer, die er bedeckt, und der durchräucherten Häuser mit Traurigkeit. Es schien ihm, daß er den Geschmack an den Künsten verliere, sowie er die Luft nicht mehr einatmete, die ihnen das Dasein gab. Welch eine kontemplative Beredsamkeit ist in allem, was er über den Apoll von Belvedere, über den Laokoon sagt! Sein Stil ist ruhig und majestätisch wie die Gegenstände, denen er seine Betrachtung widmet. Er weiß seiner Kunst, sie zu schildern, die imposante Würde der Kunstdenkmäler selbst zu geben, und seine Beschreibungen machen denselben Eindruck wie die Statuen. Niemand hatte es vordem verstanden, genaue und tiefe Bemerkungen mit so lebendiger Bewunderung zu vereinigen, und doch ist dies die einzige Art, die Kunst zu ergründen. Die Achtung gegen sie muß aus der Liebe zu ihr fließen, und in den Meisterstücken des Talentes müssen, wie in den Zügen eines geliebten Wesens, sich tausend Reize enthüllen.

Dichter hatten vor Winkelmann griechische Tragiker studiert, um ihre Werke unseren Bühnen anzupassen. Gelehrte gab es, die man wie Bücher zu Rate ziehen konnte; niemand aber hatte wie Winkelmann sich sozusagen selbst zum Heiden gemacht, um ganz in das Altertum einzudringen. Winkelmann hat die Fehler wie die Vorzüge eines kunstliebenden Griechen, und man fühlt in seinen Schriften eine Anbetung der Schönheit, wie sie sich bei einem Volke finden mußte, wo ihr so häufig die Ehre der Apotheose zuteil wurde.

Einbildungskraft und Gelehrsamkeit gaben beide Winkelmann ihr Licht; vor seiner Zeit hatte man die Überzeugung, daß sie einander ausschlössen. Er zeigte, daß, um die Antike zu enträtseln, das eine so nötig wie das andere sei. Gegenständen der Kunst kann man nur Leben geben durch die genaue Kenntnis des Landes und der Zeit, in denen sie vorhanden waren. Schwankende Züge fesseln das Interesse nicht. Sollen Erzählungen und Dichtungen, die in entfernten Jahrhunderten spielen, belebt erscheinen, so muß die Gelehrsamkeit selbst der Phantasie zu Hilfe kommen und sie, wenn es möglich ist, zum Zeugen dessen, was sie darstellt, zum Zeitgenossen dessen, was sie erzählt, machen.

Winkelmanns Urteil über die Kunst geht den Weg genauer Menschenkenntnis. Er untersucht die Gesichtszüge einer Bildsäule wie die eines lebenden Wesens. Mit großer Genauigkeit faßt er die geringfügig erscheinenden Beobachtungen auf, um daraus höchst überraschende Schlüsse zu ziehen. Bald ist es eine Physiognomie, bald ein Attribut, bald ein Kleidungsstück, was plötzlich eine ganz unerwartete Helle über lang erforschte Gegenstände verbreitet. Ceres' Haare sind mit einer Zwanglosigkeit aufgesteckt, wie sie für Minerva nicht paßt; die Mutter Proserpinas zeigt auch im Äußeren den ewigen Schmerz über ihren Verlust. Minos, Sohn und Schüler Jupiters, trägt auf den alten Münzen die Züge seines Vaters; dennoch bezeichnet die ruhige Größe des einen und der strenge Ausdruck in dem Bild des anderen bei jenem den Fürsten der Götter, bei diesem den Richter der Menschen. Der Torso ist ein Fragment des gottgewordenen Herkules, wie er von Hebe den Becher der Unsterblichkeit empfängt, während der farnesische Herkules nur noch die Attribute eines Sterblichen trägt; die Umrisse des Torso, zwar ebenso kräftig, aber gerundeter als bei jenem, bezeichnen die Kraft des Helden, doch eines Helden, der, in den Himmel versetzt, nun losgesprochen ist von den schweren irdischen Arbeiten. Alles ist symbolisch in der Kunst, und die Natur erscheint unter tausendfältig verschiedenen Gestalten in jenen Statuen, Gemälden und Gedichten, in denen die Unbeweglichkeit die Bewegung andeuten, das Äußere der Seele Innerstes enthüllen, das Dasein des Augenblicks zu einer Ewigkeit werden soll.

Winkelmann hat in Europa die Vermischung des antiken und des modernen Geschmacks in der Kunst beseitigt. In Deutschland zeigte sich sein Einfluß auf die Literatur noch deutlicher als auf die Kunst. Er zeigte, worin der antike Geschmack in der Kunst besteht; die Neueren mochten nun fühlen, was sie in dieser Hinsicht anzunehmen oder zu verwerfen hatten. Wenn ein Mann von Talent uns die Geheimnisse einer antiken oder fremden Natur enthüllt, so tut er das Seinige durch den gegebenen Anstoß; die dadurch hervorgebrachte Regung muß sich aber in uns selbst gestalten, und je wahrhafter sie ist, diese Anregung, desto weniger wird sie sklavische Nachahmung aufkommen lassen. Winkelmann verdankt man die Entwicklung der jetzt in die Kunstlehre aufgenommenen wahren Grundsätze über das Ideal, diese Vervollkommnung der Natur, dessen Urbild in unserer Phantasie liegt, nicht außer uns. Die Anwendung dieser Grundsätze auf die Literatur ist besonders ergiebig.

Die Poetik aller Künste ist in Winkelmanns Schriften unter einen einzigen Gesichtspunkt gebracht, und zwar zum Vorteil aller. Man hat die Poesie durch die Skulptur, die Skulptur durch die Poesie besser verstehen gelernt und durch die Kunst der Griechen den Weg zu ihrer Philosophie gefunden. Die idealistische Metaphysik hat bei den Deutschen sowohl als bei den Griechen keinen anderen Ursprung als den Dienst des höchsten Schönen, das unsre Seele allein aufzufassen und zu erkennen vermag; dieses wundervolle Schöne ist eine Erinnerung des Himmels, unseres ursprünglichen Vaterlandes. Phidias' Meisterwerke, Sophokles Tragödien und Platons Lehre, alle vereinen sich, um uns davon denselben Begriff zu geben, wenn auch unter verschiedenen Formen.

Lessings Schauspiele

Lessing machte von der natürlichen Tätigkeit seines Charakters Gebrauch, um seine Landsleute mit einem Nationaltheater zu beschenken, und schrieb eine Zeitschrift unter dem Titel Dramaturgie, in der er aus dem Französischen übersetzte Stücke kritisch beleuchtet: die Richtigkeit seiner Rezensionen beweist, daß er noch mehr Philosoph als Theaterkenner war.

Lessing dachte überhaupt wie Diderot über die dramatische Kunst nach. Er war der Meinung, die strenge Regelmäßigkeit der französischen Tragödie sei ein großes Hindernis zur Behandlung einfacher rührender Gegenstände; und um die Lücke auszufüllen, blieb nichts übrig als das Drama. Mit dem Unterschied, daß Diderot in seinen Stücken die Ziererei der Natürlichkeit an die Stelle des Redezwangs der Herkömmlichkeit setzte, und daß Lessings Talent wirklich einfach und natürlich ist.

Er ist der erste, der den Deutschen den ehrenvollen Auftrag gab, mit eigenem Genie für das Theater zu schreiben. Die Originalität seines Gemütes zeigt sich in seinen Stücken. Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise verdienen von allen Dramen Lessings eine nähere Auseinandersetzung.

Ein edelmütiger, verabschiedeter Stabsoffizier, der im Kriege mehrere Wunden erhielt, wird zuletzt durch einen ungerechten Prozeß in seiner Ehre gekränkt und will seine Geliebte opfern, um sie nicht in sein Unglück zu ziehen. Dies ist der ganze Inhalt des Stücks »Minna von Barnhelm«. Mit so einfachen Mitteln hat Lessing das Interesse zu erwecken gewußt; der Dialog ist voller Geist und Reiz, der Stil überaus rein und alle Charaktere so entwickelt und klar, daß jede Schattierung ihrer Gefühle den Zuschauer so lebhaft anspricht wie das anvertraute Geheimnis eines Freundes. Die Rolle eines alten Wachtmeisters, der seinem unterdrückten Major mit Leib und Seele ergeben ist, enthält eine angenehme Mischung von Lustigkeit und Empfindsamkeit; eine Gattung, die auf allen Bühnen Glück macht, denn die Lustigkeit gefällt mehr, wenn man sie für keine Folge der Gefühllosigkeit hält, und die Empfindsamkeit scheint natürlicher, wenn sie nur von Zeit zu Zeit durchbricht.

»Emilia Galotti« ist die römische Virginia, einer neueren ähnlichen Begebenheit angepaßt; nur sind die Gefühle für den Rahmen des Gemäldes zu stark; die Handlung ist an sich zu kraftvoll, um sie auf einen unbekannten Namen übertragen zu können. Lessing wollte ohne Zweifel seine republikanische üble Laune gegen die Klasse der Höflinge loslassen; er malt con amore und mit stark aufgetragenen Farben einen von ihnen, der seinem Herrn ein unschuldiges Mädchen verführen hilft; aber sein Marinelli ist beinahe zu schlecht und zu verworfen, um Wahrscheinlichkeit zu besitzen; seine Niederträchtigkeit ist nicht originell genug. Man sieht, daß Lessing ihn in feindseliger Absicht so darstellte, und nichts ist für die Schönheit einer Dichtung nachteiliger, als irgendeine fremde Absicht, die diese Schönheit selbst nicht zum Ziel hat.

Der Charakter des Prinzen wird vom Verfasser mit größerer Feinheit durchgeführt; in seiner ganzen Lebensführung scheinen die heftigen Leidenschaften und der Leichtsinn des Gemüts durch, die, als Ganzes vereint, so gefährlich, so verderblich werden können. Ein alter Rat legt dem Prinzen Papiere zur Unterschrift vor; es befindet sich ein Todesurteil darunter; in seiner Ungeduld, die geliebte Emilia zu sehen, ist der Prinz im Begriff zu unterschreiben, ohne gelesen zu haben. Jetzt findet der alte Rat einen Vorwand, ihm das Papier vorzuenthalten, und schaudert bei dem Gedanken an den unüberlegten Mißbrauch einer solchen Macht. Die Rolle der Gräfin Orsina, die der Prinz vorher liebte und wegen Emilia verließ, ist mit dem größten Talent durchgeführt. Die Orsina ist ein Gemisch von Leichtsinn und Heftigkeit, ein Charakter, wie man ihn leicht bei einer Italienerin, die an einem Hof lebt, finden kann; man entdeckt zugleich in ihr, was die große Welt aus ihr gemacht hat, und was die große Welt in ihr nicht ersticken konnte. Die Natur des Südens mit der ganzen Künstlichkeit des Hoflebens verbunden, Stolz mit dem Laster, Eitelkeit mit Empfindelei; ein seltsames Gemisch!

Der Auftritt, in dem die Gräfin Orsina Emilias Vater aufreizt, den Fürsten zu ermorden, um seine Tochter der Schande, die auf sie wartet, zu entreißen, ist außerordentlich schön. Das Laster gibt der Tugend die Waffen in die Hand; man hört die Leidenschaft alles sagen, was die strengste Moral sagen könnte, um die gekränkte Ehre eines alten Vaters zu entflammen. Man sieht das menschliche Herz in einer neuen Lage enthüllt; und eben in solchen Schöpfungen zeigt sich das wahre dramatische Genie. Der Vater empfängt den Dolch von der Gräfin; und da er den Prinzen nicht durchbohren kann, ersticht er die Tochter. Ohne es selbst zu wissen, ist die Orsina die Urheberin des Mordes: sie hat ihre vorübergehende Wut in ein tiefes Gemüt eingegraben; auf die unsinnigen Klagen ihrer strafbaren Liebe floß das unschuldige Blut.

Man stößt in den Hauptrollen der Stücke Lessings auf gewisse Familienzüge, aus denen man den Schluß ziehen möchte, er selbst habe sich in diesen Rollen zeichnen wollen: der Major Tellheim in »Minna von Barnhelm«, Odoardo in »Emilia Galotti«, der Templer in »Nathan der Weise« treten alle drei mit einer stolzen Empfindlichkeit auf, über der ein Hauch von Menschenhaß liegt.

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Lessings Meisterstück ist »Nathan der Weise«. Es ist unmöglich, die religiöse Toleranz mit mehr Natur und Würde handelnd darzustellen und auf die Bühne zu bringen. Ein Muselmann, ein Tempelherr und ein Jude sind die Hauptpersonen des Dramas, dessen erster Gedanke aus der Erzählung des Boccaccio von den drei Ringen entnommen ist: die ganze Anordnung stammt von Lessing. Der Muselmann ist der Sultan Saladin, den die Geschichte so groß schildert, der junge Tempelherr trägt im Herzen die ganze Strenge seines Ordens, der Jude ist ein Greis, der als Handelsherr reich geworden ist, aber durch Aufklärung und Wohltun sich ein edles Wesen zu eigen gemacht hat. Ihm ist alles, was im verschiedenen Glauben der Menschen aufrichtig ist, wahr; im Herzen jedes Tugendhaften sieht er das Bild der Gottheit.

Dieser Charakter ist von bewunderungswürdiger Schlichtheit. Man wundert sich über die Rührung, die er hervorbringt, obschon er weder von lebhaften Leidenschaften, noch von hinreißenden Umständen bestimmt wird. Da man dem weisen Nathan ein Mädchen entreißen will, dem er Vater geworden ist, die er seit Kindheit mit Sorgfalt gepflegt hat, übermannt ihn der Schmerz, sich von ihr zu trennen; und, von dem Gefühl der Ungerechtigkeit überwältigt, erzählt er, wie er in den Besitz des Mädchens gekommen ist: In einer Nacht erschlugen die Christen alle Juden in Gaza; unter ihnen befand sich Nathans Frau mit sieben hoffnungsvollen Söhnen. Drei Tage und Nächte hatte Nathan in Staub und Asche vor Gott gelegen und der Christenheit unversöhnlichen Haß geschworen; doch nun kam die Vernunft allmählich wieder. Er rief aus: »Doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das!« – Inzwischen kam ein Klosterbruder, überreichte ihm ein christliches Waisenkind, bat ihn, sich desselben anzunehmen. Nathan nahm es und schluchzte: »Gott! Auf sieben doch nun schon eines wieder!« Nathans Rührung bei dieser Erzählung ist um so ergreifender, als er sich ihrer zu erwehren strebt und als Greis sich schämt, was in ihm vorgeht, zu verraten. Seine erhabene Geduld wird nicht müde; und obwohl man seinem Glauben und seinem Stolz tiefe Wunden schlägt, obwohl man es ihm vorwirft, seine Recha in der jüdischen Religion erzogen zu haben, so hat doch seine Rechtfertigung keinen andern Zweck, als ihm das Recht zu verschaffen, diesem angenommenen Kind fernerhin Gutes zu tun.

Das Stück »Nathan der Weise« ist durch die Charakterschilderungen anziehender, als durch die Handlung. Der Tempelherr zeigt im Charakter Rauheit aus Furcht, zu viel Empfindung zu verraten. Die orientalische Verschwendung Saladins steht mit der edlen Sparsamkeit Nathans im Widerspruch. Als jenen sein Schatzmeister, ein alter strenger Derwisch, warnt, sein Schatz sei leer, gibt Saladin zur Antwort: »Nun schlägst du meine Freudigkeit auf einmal nieder. Mir, für mich, fehlt nichts: Ein Kleid, ein Schwert, ein Pferd und einen Gott! Was brauch' ich mehr. Aber dem Schatze fehlt's, und in ihm uns allen.« –

Nathan ist ein Menschenfreund. Jeder Auftritt entwickelt mit Feinheit und Witz neue Schönheiten in diesen verschiedenen Charakteren; nur greifen sie nicht tief und lebhaft genug ineinander, um das Ganze zu einem großen, rührenden Gemälde zu machen.

Ganz zuletzt zeigt es sich, daß der Tempelherr und Nathans an Kindes Statt angenommene Tochter, Bruder und Schwester und Saladins Bruderkinder sind. Die Absicht des Verfassers war zweifellos, in seiner dramatischen Familie das Beispiel einer ausgebreiteten Religionsverwandtschaft zu geben. Dieser philosophische Zweck, auf den das ganze Stück hindeutet, schwächt allerdings das theatralische Interesse. Ein Drama, dessen Ziel es ist, eine allgemeine Idee zu entwickeln, muß notwendigerweise, so schön und erhaben diese Idee an sich sein mag, kühl sein und verirrt sich in das Gebiet der Fabel. Es stellt seine Personen nicht um ihrer selbst willen auf, sondern bloß der Belehrung, der Aufklärung wegen. Freilich gibt es keine Dichtung, nicht einmal einen wirklichen Vorfall, aus dem sich nicht eine Idee entwickeln ließe; nur muß die Begebenheit der Sittenlehre, nicht die Sittenlehre der Begebenheit als Anlaß dienen. In den schönen Künsten gebührt der Phantasie der Vortritt.

Lessing kann nicht in die erste Reihe der dramatischen Dichter gestellt werden; sein Geist hat sich mit zu vielen und verschiedenartigen Gegenständen beschäftigt, um in einem einzelnen Fach ein hervorstechendes Talent entwickeln zu können. Der Geist ist überall, ist universell; aber die natürliche Fähigkeit zu einer der schönen Künste ist notwendig auf ein Fach beschränkt. Lessing war vor allem ein starker Logiker; Logik ist ein Hindernis der dramatischen Beredsamkeit. Die Empfindung verschmäht die Übergänge, die Abstufungen, die Motive; sie ist eine ständige unwillkürliche Begeisterung, die sich keine Rechenschaft über sich ablegen kann. Lessing war nichts weniger als ein trockener Philosoph, hatte aber in seinem Charakter mehr Lebhaftigkeit als Tiefgefühl; das dramatische Genie ist unberechenbarer, als es ein Mann sein konnte, der den größten Teil seines Lebens der Betrachtung und dem Nachforschen gewidmet hatte.


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