Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Andere Deutsche Philosophen

Der philosophische Geist kann, seiner Natur nach, nicht in irgendeinem Lande allgemein verbreitet sein. Indes gibt es in Deutschland eine solche Hinneigung zum Grübeln, daß die deutsche Nation in besonders starkem Maß als eine metaphysische Nation betrachtet werden kann. Sie hat einen solchen Überfluß an Menschen, die imstande sind, abstrakte Fragen zu begreifen, daß das Publikum selbst teilnimmt an den Argumenten, die in Erörterungen dieser Art angewandt werden.

Jeder Mensch von Verstand hat seine eigene Ansicht über philosophische Fragen. Schriftsteller der zweiten und dritten Ordnung haben in Deutschland noch Kenntnisse, die gründlich genug sind, daß sie anderwärts an die Spitze treten könnten. Die Rivalen hassen sich in diesem Lande, wie in jedem anderen; aber niemand würde in die Schranken zu treten wagen, ohne durch gründliche Studien seine aufrichtige Liebe für die Wissenschaft, die ihn beschäftigt, beurkundet zu haben. Es ist nicht genug, daß man den glücklichen Erfolg liebe; man muß ihn auch verdienen, um nur als Mitstreiter um denselben zugelassen zu werden. Wie nachsichtig die Deutschen auch sein mögen; wenn bloß von dem möglichen Mangel an Form hinsichtlich eines Werkes die Rede ist: so sind sie doch unerbittlich bezüglich des reellen Werts desselben, und wenn sie bemerken, daß im Verstand, im Gemüt, oder in dem Wissen eines Schriftstellers etwas oberflächlich ist, so nehmen sie sogar den französischen Spott an, um das Leichtfertige lächerlich zu machen.

Leibnizens Gedanken waren groß; aber seine Schüler, und Wolf an ihrer Spitze, kommentierten sie mit logischen und metaphysischen Formen. Leibniz hatte behauptet, die Begriffe, die uns durch die Sinne zuteil würden, seien verworren und nur diejenigen, die den unmittelbaren Perzeptionen des Gemüts angehörten, allein klar. Unstreitig wollte er dadurch beweisen, daß die unsichtbaren Wahrheiten gewisser sind, und mit unserem moralischen Sein mehr übereinstimmen, als alles, was wir durch das Zeugnis der Sinne in uns aufnehmen. Hieraus zogen Wolf und dessen Schüler die Folgerung, daß alles, was unseren Geist beschäftigen kann, auf abstrakte Ideen zurückgeführt werden müsse. In diesen Idealismus ohne Leben brachte Kant Interesse und Wärme; er gab der Erfahrung ihren gerechten Teil, wie den angeborenen Ideen, und die Kunst, womit er seine Theorie auf alles anwandte, was den Menschen interessiert, ich meine die Moral, die Poesie und die schönen Künste, vermehrte seinen Einfluß.

In der Religion war Lessing nicht orthodox. Als Gefühl war das Christentum ihm nicht notwendig; dennoch wußte er es philosophisch zu bewundern. Er begriff seine Verhältnisse zu den menschlichen Herzen, und alle Arten von Ansichten betrachtete er immer aus einem universalen Gesichtspunkte. In seinen Schriften findet man nichts Ausschließendes, nichts Unduldsames. Stellt man sich in den Mittelpunkt der Ideen: so hat man immer Redlichkeit, Tiefe und Umfang; denn das Ungerechte, Eitle und Begrenzte rührt immer von dem Bedürfnis her, alles auf einige partielle Ansichten zu beziehen, die man sich angeeignet hat, und aus denen man einen Gegenstand der Selbstliebe macht. Mit einem schneidenden und positiven Stil drückt Lessing Meinungen voll Wärme aus.

Jacobi hat sich als ein Gegner Kants gezeigt; aber er greift die Kantische Philosophie nicht als Verfechter der empirischen Philosophie an. Im Gegenteil macht er dem Königsberger Philosophen den Vorwurf, sich nicht genug auf die Religion zu stützen, die in allen übersinnlichen Wahrheiten als die einzig mögliche Philosophie gedacht werden muß.

Man möchte sagen, es käme in unseren Tagen darauf an, über die moralische Natur des Menschen ins Reine zu kommen, und die Rechnung ein für allemal abzuschließen, damit hinterher nicht mehr davon gesprochen zu werden braucht. In der Metaphysik vor allem hat man so entschieden, daß man seit Condillacs Zeiten keinen Schritt vorwärts tun könne, ohne sich zu verirren. Nur den Naturwissenschaften gestattet man noch einige Fortschritte, weil man sie nicht ableugnen kann, jedoch in der philosophischen und literarischen Bahn möchte man den menschlichen Geist zwingen, immer in demselben Zirkel in den Ring der Eitelkeit zu treten.

Wahrlich, dadurch vereinfacht man das System des Universums nicht, daß man an jener Erfahrungs-Philosophie klebt, die eine Art von Evidenz gibt, die in dem Prinzip falsch, wenn auch in der Form scheinbar richtig ist. Wenn man alles, was über die Kenntnis der Sinnenberührungen hinausgeht, als nicht vorhanden betrachtet: so ist nichts leichter, als Klarheit in ein System zu bringen, dessen Umkreis die Willkür gezogen hat. Aber ist denn das, was über diese Grenzen hinausreicht, minder vorhanden, weil man es nicht rechnet? Die nicht vollendete Wahrheit der spekulativen Philosophie nähert sich dem Wesen der Dinge unendlich mehr, als jene scheinbare Klarheit, die in der Kunst besteht, gewisse Schwierigkeiten zu beseitigen.

Fichte konstruiert das ganze Universum aus der Tätigkeit der Seele. Von ihr rührt alles her, was gedacht, alles, was ersonnen werden kann. Um dieses Systemes willen ist er des Unglaubens bezichtigt worden. Man hörte ihn sagen: in der folgenden Vorlesung wolle er Gott konstruieren, und mit Recht stieß man sich an diesem Ausdruck. Im Grunde wollte er nur sagen, daß er zeigen werde, wie die Idee der Gottheit entstünde und sich in der Seele des Menschen entwickelte. Das Hauptverdienst der Fichteschen Philosophie ist – die unglaubliche Kraft der Aufmerksamkeit, die sie voraussetzt. Denn er begnügt sich nicht damit, alles auf die innere Natur des Menschen zu beziehen – auf das Ich, das die Grundlage aller Dinge ausmacht; sondern er unterscheidet in dem Ich auch noch das Vorübergehende und das Dauerhafte.

Die äußere Welt betrachtet Fichte nur als einen Markstein unseres Daseins, auf dem unser Gedanke arbeitet. In seinem System ist dieser Markstein von der Seele selbst geschaffen, deren fortdauernde Tätigkeit sich an dem von ihr gebildeten Gewebe übt. Was Fichte über das metaphysische Ich schreibt, gleicht ein wenig dem Erwachen der Bildsäule Pygmalions, die, indem sie abwechselnd sich selbst und den Stein befühlt, auf dem sie aufgestellt ist, ausruft: das bin ich, das bin ich nicht. Aber, als sie, Pygmalions Hand fassend, ausruft: auch das bin ich! da kommt es schon auf ein Gefühl an, das über den Kreis abstrakter Ideen hinausgeht. Auch vom Gefühl entkleidet, hat der Idealismus den Vorzug, die Tätigkeit des Geistes im höchstem Grade anzuregen; aber Natur und Liebe verlieren durch dies System ihren ganzen Zauber. Denn wenn die Gegenstände, die wir sehen, und die Wesen, die wir lieben, nichts weiter sind als das Werk unserer Ideen: so muß der Mensch selbst als der große Ehelose der Welt betrachtet werden.

Anerkennen muß man gleichwohl zwei große Vorzüge der Fichteschen Lehre. Der eine ist seine stoische Moral, die keine Entschuldigung zuläßt; denn da alles vom Ich herrührt, so muß auch dies Ich den Gebrauch verantworten, den es von seinem Willen macht. Der andere ist die Übung des Denkens, die so stark und so fein ist, daß der, welcher dies System begriffen hat, selbst dann, wenn er es nicht zu dem seinigen machen sollte, eine solche Schärfe der Zergliederung erworben haben würde, daß er beide hinterher spielend auf jedes andere Studium anwenden könnte.

Was wahrhaft bewundernswert in der deutschen Philosophie ist, besteht in der Erforschung, die sie an uns selbst vollziehen läßt. Sie steigt auf bis zum Ursprung des Willens, bis zur unbekannten Quelle des Stromes unseres Lebens; und hier, die innersten Geheimnisse des Schmerzes und des Glaubens ergründend, klärt sie uns auf und kräftigt uns.

In Deutschland beschränken sich vorzügliche Köpfe selten auf eine Bahn. Goethe macht Entdeckungen in den Wissenschaften, Schelling ist ein vortrefflicher Kenner der Literaturen, Friedrich Schlegel ein Dichter voll Originalität. Man kann vielleicht nicht viele verschiedene Talente in sich vereinigen; aber der Verstandesblick muß alles umfassen.

Die neueste deutsche Philosophie ist der Erweiterung des Geistesumfanges notwendig günstiger als jede andere; denn indem sie alles auf den Brennpunkt der Seele bezieht und die Welt selbst von Gesetzen regiert betrachtet, deren Typus in uns ist: so kann und darf sie nicht das Vorurteil zulassen, das jeden Menschen ausschließlich zu dem und dem Zweige der Studien bestimmt. Die idealistischen Philosophen glauben, daß eine Kunst, eine Wissenschaft, irgendein besonderer Teil, nicht begriffen werden kann ohne allgemeine Kenntnisse, und daß von dem geringsten Phänomen bis zum größten nichts gründlich untersucht oder poetisch dargestellt wird ohne jene Höhe des Geistes, die das Ganze überschaut, indem sie das Einzelne beschreibt.

Diese Philosophie schafft für alle Arten von Studien einen besonderen Anreiz. Die Entdeckungen, die man in sich selbst macht, sind immer interessant; jedoch, wenn es wahr ist, daß sie uns selbst über die Geheimnisse der nach unserem Bilde geschaffenen Welt Aufschlüsse geben müssen: welche Neugier erregen sie dann nicht! Die Unterhaltung mit deutschen Philosophen, wie die ich genannt habe, erinnert an Platons Gespräche; und wenn man einen von diesen Männern über irgendeinen Gegenstand befragt, so verbreitet er darüber soviel Licht, daß man zum ersten Male zu denken glaubt, wenn denken, wie Spinoza sagt, soviel ist, als sich durch den Verstand mit der Natur identifizieren und mit ihr eins werden.

Die Fehler, die man den Deutschen in der Unterhaltung gewöhnlich zum Vorwurf macht – Langsamkeit und Pedanterie – sind den Zöglingen der neuen Schule am wenigsten eigen. Erstrangige Personen haben sich in Deutschland meistenteils nach den guten französischen Manieren gebildet; aber zur Zeit zeigt sich unter den Philosophen, die zugleich Schriftsteller sind, eine Erziehung, die, obgleich in einer ganz anderen Art, sehr geschmackvoll ist. Man betrachtet in ihr die wahre Eleganz als unzertrennlich von der poetischen Einbildungskraft und dem Reiz der schönen Künste und die Höflichkeit als gegründet auf die Kenntnis und Würdigung der Talente und des Verdienstes.

Die Philosophie lehrt den Menschen, nicht die Menschen kennen. Die Gewohnheit des Umgangs gibt uns allein Aufschlüsse über das Verhältnis unseres Geistes zu dem Geiste anderer. Erst veranlaßt die Aufrichtigkeit, dann der Stolz ernste und treuherzige Philosophen zum Unwillen gegen die, welche nicht eben so denken und empfinden, wie sie. Gewissenhaft erforschen die Deutschen das Wahre; aber es steckt in ihnen ein glühender Sektengeist für die Lehre, zu der sie sich einmal bekennen. Denn in dem Herzen des Menschen verwandelt sich alles in Leidenschaft.

Indessen, trotz der Verschiedenheit in den Meinungen, die in Deutschland mehrere, einander entgegengesetzte Schulen bilden, zielen doch alle darauf ab, die Tätigkeit der Seele zu entwickeln. Auch gibt es kein Land, wo jeder sich selbst höher bringt, wenigstens in Beziehung auf intellektuelle Arbeiten.


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