Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Immanuel Kant

Kant hat ein sehr hohes Alter erreicht, und ist nie aus Königsberg herausgekommen. Unter den Eisschollen des Nordens hat er sein ganzes Leben damit zugebracht, über die Gesetze des menschlichen Geistes zu denken. Vermöge eines unermüdlichen Eifers hat er Kenntnisse aller Art erworben. Die Wissenschaften, die Sprachen, die Literatur, alles war ihm geläufig; und ohne den Ruhm zu suchen, den er erst sehr spät genoß – denn erst im hohen Alter vernahm er den Widerhall seines berühmten Namens –, begnügte er sich mit dem stillen Vergnügen des Nachgrübelns. In seiner Einsamkeit betrachtete er seine Seele mit Andacht. Die Erforschung des Gedankens gab ihm neue Kräfte zur Unterstützung der Tugend; und obgleich er mit den glühenden Leidenschaften der Menschen nie etwas zu schaffen hatte: so hat er doch Waffen für die geschmiedet, die zur Bekämpfung derselben berufen sein können.

Kant schrieb anfangs über die physischen Wissenschaften, und zeigte in dieser Art von Studien einen solchen Scharfsinn, daß er das Dasein des Planeten Uranus zuerst vorhersah. Herschel selbst hat nach der Entdeckung anerkannt, daß Kant diesen Planeten zuerst angekündigt hat. Seine Abhandlung über den menschlichen Verstand, betitelt: »Kritik der reinen Vernunft«, blieb eine Zeitlang unbekannt; als man aber endlich den Schatz von Ideen entdeckte, der darin enthalten war, machte sie in Deutschland eine solche Sensation, daß alles, was seitdem zum Vorschein gekommen ist, von dem Antrieb herrührt, den jenes Werk gegeben hat.

Auf diese Abhandlung über den menschlichen Verstand folgte die Kritik der praktischen Vernunft, die auf die Moral ging, und die Kritik der Urteilskraft, welche die Natur des Schönen behandelte. Dieselbe Theorie liegt den drei Abhandlungen zugrunde, welche die Gesetze der Intelligenz, die Prinzipien der Tugend und die Betrachtung aller Schönheiten der Natur und der Künste umfassen.

Um die Zeit, als die Kritik der reinen Vernunft erschien, gab es unter den Denkern nur zwei Systeme über den menschlichen Verstand: das Lockesche, welches alle unsere Ideen unseren Sinnen zuschrieb, und das Descartische und Leibnizische, die darauf ausgingen, die ursprüngliche Tätigkeit der Seele, den freien Willen, kurz die idealistische Lehre zu beweisen, obwohl Descartes und Leibniz ihre Lehre auf rein spekulative Beweise gründeten. In dem vorhergehenden Kapitel habe ich von den Nachteilen gesprochen, die das Resultat jener angestrengten Abstraktion sind, die, um mich so auszudrücken, den Umlauf des Blutes hemmt, damit die intellektuellen Kräfte desto unumschränkter in uns herrschen mögen.

Beschränkt sich nun der von solchen Anstrengungen ermüdete Leser darauf, daß er nichts anerkennen will, was nicht von den Sinnen herrührt: so wird für ihn alles zu Schmerz werden. Wird er die Idee der Unsterblichkeit haben, wenn die Vorläufer der Zerstörung auf dem Antlitz der Sterblichen so tief eingegraben sind, und die lebende Natur unablässig in Staub zerfällt? Welche schwache Hoffnung würden wir vom Wiederaufleben haben, wenn alle Sinne vom Sterben sprächen? Und welche Idee könnten wir von der höchsten Güte haben, wenn wir nur unsere Sinne um Rat fragten! So viele Schmerzen streiten sich um unser Leben, so viele abscheuliche Gegenstände entehren die Natur, daß die unglückliche Kreatur das Dasein hundertmal verflucht, ehe es ihr durch einen letzten Krampf entrissen wird. Verwirft im Gegenteil der Mensch das Zeugnis der Sinne, woran soll er sich auf dieser Erde halten? Und wenn er nur ihnen glaubt, welcher Enthusiasmus, welche Moral, welche Religion würden den wiederholten Anfällen widerstehen, welche Schmerz und Vergnügen abwechselnd auf sie machen würden?

Das Nachdenken schwankte in dieser unermeßlichen Ungewißheit, als Kant den Versuch machte, die Grenzen der beiden Gebiete, der Sinne und der Seele, der intellektuellen Natur zu ziehen. Die Macht des Nachdenkens und die Weisheit, womit er diese Grenzen festsetzte, sind durch ihn vielleicht singulär geworden. Er verirrte sich nicht in neue Systeme über die Schöpfung der Welt; er erkannte die Schranken, die die ewigen Geheimnisse dem menschlichen Geiste setzen; und was für diejenigen, die von Kant nur reden gehört haben, vielleicht ganz neu sein wird, ist, daß es nie einen Philosophen gegeben hat, der ein entschiedenerer Gegner der Metaphysik gewesen wäre. Wirklich ist er in diese Wissenschaft nur so tief eingedrungen, um die Mittel, die sie gewährt, zum Nachweis ihrer Unzulänglichkeit zu gebrauchen; man möchte sagen, er habe sich als ein zweiter Curtius in diesen Schlund gestürzt, um ihn auszufüllen.

Locke hatte die Lehre von den angeborenen Ideen siegreich bekämpft, weil er die Ideen immer als einen Teil der Erfahrungs-Erkenntnisse dargestellt hat; die Erforschung der reinen Vernunft, d. h. der Unvermögen, aus welchen die Intelligenz besteht, beschäftigte seine Aufmerksamkeit nicht. Leibniz, wie wir oben angeführt haben, sprach das erhabene Axiom aus: »Es ist nichts in dem Verstande, was nicht von den Sinnen herrührt, sofern es nicht der Verstand selbst ist.« Kant hat, wie Locke erkannt, daß es keine angeborenen Ideen gebe; aber er hat sich vorgenommen, in den Sinn des Leibnizischen Axioms einzudringen, indem er untersucht, welches die Gesetze und die Gefühle sind, die das Wesen der menschlichen Seele unabhängig von aller Erfahrung bilden. Die Kritik der reinen Vernunft legt es darauf an zu zeigen, worin diese Gesetze bestehen und welches die Gegenstände sind, an denen sie ausgeübt werden können.

Der Skeptizismus, zu welchem der Materialismus in der Regel führt, war so weit getrieben worden, daß Hume sogar die Grundfeste des Nachdenkens erschüttert hatte; dadurch nämlich, daß er Beweise gegen das Axiom aufstellte: Keine Wirkung ohne Ursache. So groß ist die Unruhe der menschlichen Natur, wenn man das Prinzip aller Überzeugung nicht in den Mittelpunkt der Seele stellt, daß der Unglaube, der immer mit Angriffen auf das Dasein der moralischen Welt beginnt, zuletzt dahin gelangt, auch die materielle Welt zu zerstören, deren er sich anfangs nur zum Umsturz der ersteren bedient hatte.

Kant wollte wissen, ob die absolute Gewißheit dem menschlichen Geist möglich wäre, und er hat sie nur in den notwendigen Begriffen gefunden, d. h. in allen den Gesetzen unseres Verstandes, die so beschaffen sind, daß wir nur dasjenige fassen können, was diese Gesetze uns gestatten.

Zu den ersten gebietenden Formen unseres Geistes gehören Raum und Zeit; und Kant beweist, daß alle unsere Perzeptionen diesen beiden Formen unterworfen sind. Er schließt daraus, daß sie in uns selbst, nicht in den Gegenständen enthalten sind, und daß in dieser Hinsicht unser Verstand der äußerlichen Natur Gesetze vorschreibt, anstatt sie von ihr zu empfangen. Die Geometrie, die den Raum mißt, und die Arithmetik, welche die Zeit teilt, sind Wissenschaften von vollendeter Evidenz, weil sie auf den notwendigen Begriffen unseres Geistes beruhen.

Die durch Erfahrung erworbenen Wahrheiten führen diese absolute Gewißheit nicht mit sich. Wenn man sagt: die Sonne geht alle Tage auf, alle Menschen sind sterblich usw., so könnte die Einbildungskraft eine Ausnahme in Hinsicht dieser Wahrheiten gestatten, die die Erfahrung allein außer Zweifel stellt: aber die Einbildungskraft selbst kann nichts voraussetzen, was außer dem Raum und der Zeit liegt; und man kann folglich diese Formen unseres Gedankens, die wir den Dingen aufdrücken, durchaus nicht als das Resultat der Gewohnheit, d. h. der Wiederholung derselben Phänomene betrachten. Die Sinne können zweifelhaft sein, aber das Prisma, durch das wir sie erhalten, ist unveränderlich.

Dieser ursprünglichen Anschauung des Raumes und der Zeit muß man die Prinzipien des Denkens, ohne die wir nichts begreifen können, und die daher die Gesetze unserer Intelligenz sind, hinzufügen oder vielmehr zur Grundlage geben: den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, die Einheit, die Vielheit, die Ganzheit, die Möglichkeit, die Wirklichkeit, die Notwendigkeit usw.Kant gibt den verschiedenen notwendigen Begriffen des Verstandes, deren Gemälde er entwirft, die Benennung der Kategorie. Auch diese betrachtet Kant als notwendige Begriffe, und zum Range der Wissenschaften erhebt er nur die, die unmittelbar auf diese Notionen gegründet sind, weil die Gewißheit nur in ihnen vorhanden sein kann. Die Formen des Denkens geben erst dann ein Resultat, wenn man sie auf das Urteil äußerer Gegenstände anwendet, und in dieser Anwendung sind sie dem Irrtum unterworfen. Allein sie sind deshalb nicht minder notwendig in sich selbst, d. h. wir können uns in keinem unserer Gedanken von ihnen losmachen; es ist uns unmöglich, uns irgend etwas vorzustellen außerhalb der Beziehungen von Ursache und Wirkung, von Möglichkeit, von Quantität usw., und diese Merkmale inhärieren unseren Begriffen eben so sehr, als Raum und Zeit. Nur vermittels der unveränderlichen Gesetze unserer Art zu denken nehmen wir etwas wahr. Folglich sind auch diese Gesetze in uns selbst, nicht außer uns.

In der deutschen Philosophie nennt man subjektive Ideen diejenigen, welche aus der Natur unserer Intelligenz und der Vermögen derselben entstehen; objektive hingegen alle diejenigen, die durch äußere Gegenstände angeregt sind. Welche Benennung man auch in dieser Hinsicht annehmen möge, mir scheint, daß die Erforschung unseres Geistes mit dem Hauptgedanken Kants übereinstimmt, d. h. mit dem Unterschied, den er feststellt zwischen den Formen unseres Verstandes und den Gegenständen, die wir nach diesen Formen erkennen; und es sei nun, daß er sich halte an abstrakte Konzeptionen, oder daß er, in der Religion und Moral, an die Gefühle appelliere, die er gleichfalls als unabhängig von der Erfahrung betrachtet: so ist nichts so lichtvoll, als diese Grenzlinie, die er zwischen dem, was aus den Sinnen, und dem, was aus der freien Tätigkeit unserer Seele herrührt, zieht.

Indem einige Ausdrücke der Kantischen Lehre falsch gedeutet worden sind, hat man behauptet, er glaube an Erkenntnisse a priori, d. h. an solche, die unserem Geiste eingegraben sind, ehe wir sie erlernt haben. Andere deutsche Philosophen, die sich dem platonischen System mehr nähern, haben in der Tat gedacht: der Typus der Welt sei in dem menschlichen Geiste enthalten, und der Mensch könne das Universum nur insofern in sich aufnehmen, als er das angeborene Bild desselben in sich trage. Allein von dieser Lehre ist bei Kant gar nicht die Rede. Er führt die intellektuellen Wissenschaften auf drei zurück, auf die Logik, die Metaphysik und die Mathematik. Die Logik lehrt nichts durch sich selbst; da sie aber auf den Gesetzen unseres Verstandes beruht, so ist sie in ihren Prinzipien, wenn sie abstrakt betrachtet werden, unwidersprechlich; nur in ihrer Anwendung auf Ideen und Dinge kann diese Wissenschaft zur Wahrheit führen; ihre Prinzipien sind angeboren; ihre Anwendung ist Sache der Erfahrung. Nur die mathematischen Wissenschaften scheinen unmittelbar von den Begriffen des Raumes und der Zeit, d. h. von den Gesetzen unseres Verstandes abzuhängen, und folglich aller Erfahrung voranzugehen; und Kant beweist, daß die Mathematik nicht eine bloße Analysis, sondern eine synthetische, positive, schöpferische und in sich selbst zuverlässige Wissenschaft ist, so daß man, um sich ihre Wahrheit zu sichern, gar nicht nötig hat, auf die Erfahrung zurückzugehen. In Kants Werken kann man die Beweise lesen, auf die er diese Ansicht stützt; aber wahr ist wenigstens, daß niemand mehr als er ein Feind der Philosophie ist, die man die Philosophie der Träumer nennt, und daß er bei weitem mehr zu einer trockenen und didaktischen Art zu denken hinneigt, obgleich seine Lehre darauf hinzielt, das durch den Materialismus herabgewürdigte Menschengeschlecht emporzuheben.

Weit davon entfernt, die Erfahrung zu verwerfen, betrachtet Kant das ganze Leben nur als die Wirkung unserer angeborenen Kräfte auf die uns von außen her kommenden Erkenntnisse. Er glaubt, die Erfahrung würde ohne die Gesetze des Verstandes nur ein Chaos sein, daß aber diese Gesetze nur die durch die Erfahrung gegebenen Elemente betreffen. Hieraus folgt, daß die Metaphysik jenseits ihrer Grenzen uns nichts lehren kann, und daß man dem Gefühl das Vorherwissen und die Überzeugung alles dessen, was zur unsichtbaren Welt gehört, zuschreiben muß.

Will man sich bloß des Nachdenkens bedienen, um die religiösen Wahrheiten festzustellen, so ist dies ein Werkzeug, das sich nach allen Seiten biegt, weil sich in der Erfahrung kein Stützpunkt finden läßt. Kant stellt die Argumente für und wider die Freiheit des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele, die vergängliche und ewige Dauer der Welt in zwei Parallellinien, und appelliert dann an das Gefühl, um den Ausschlag zu geben; denn die metaphysischen Beweise scheinen ihm auf beiden Seiten von gleicher Stärke.In der Kritik der reinen Vernunft werden diese entgegengesetzten Argumente über die großen metaphysischen Fragen Antinomien genannt. Vielleicht hat er Unrecht daran getan, den Skeptizismus so weit zu treiben; allein am sichersten vernichtet man den Skeptizismus, indem man aus gewissen Fragen die abstrakten Erörterungen entfernt, die ihn ins Leben gerufen haben.

Es würde ungerecht sein, die aufrichtige Frömmigkeit Kants in Zweifel zu ziehen, weil er behauptet hat, es bestehe in den Untersuchungen für und wider die großen Fragen der übersinnlichen Metaphysik vollkommene Gleichheit. Mir kommt es sogar vor, als liege in diesem Geständnis Herzensreinheit. Nur eine sehr geringe Zahl von Geistern ist imstande, dergleichen Untersuchungen zu fassen, und die, welche diese Fähigkeit haben, sind so geneigt, einander zu bekämpfen, daß man dem religiösen Glauben einen großen Dienst erweist, wenn man die Metaphysik aus allen den Fragen verbannt, die sich auf das Dasein Gottes, auf den freien Willen, auf den Ursprung des Guten und Bösen beziehen.

Einige bedeutende Persönlichkeiten haben zwar gesagt: man müsse keine Waffe verschmähen, und auch die metaphysischen Argumente müssen benutzt werden, um diejenigen zu überführen, die sich ihrer Herrschaft unterworfen haben; allein diese Argumente führen zur Diskussion, und diese zum Zweifel.

Die schönen Epochen der Menschheit sind immer die gewesen, wo Wahrheiten einer gewissen Ordnung weder durch Schriften noch durch Reden bestritten wurden. Die Leidenschaften konnten zu Freveltaten hinreißen; aber niemand zog die Religion in Zweifel, der er nicht gehorchte. Sophismen aller Art (Mißbräuche einer gewissen Philosophie) haben in verschiedenen Ländern und Jahrhunderten jene edle Festigkeit des Glaubens, die Quelle heroischer Aufopferung, zerstört. Ist es also nicht für einen Philosophen eine sehr schöne Idee, der Wissenschaft, zu der er sich bekennt, das Betreten des Heiligtums zu verbieten und die ganze Stärke der Abstraktion auf den Beweis zu verwenden, daß es Regionen gibt, aus denen sie verbannt werden muß?

Despoten und Fanatiker haben versucht, der menschlichen Vernunft die Erforschung gewisser Materien zu untersagen, und immer hat sich die Vernunft von diesen ungerechten Hemmungen befreit. Aber die Grenzen, die sie sich selbst vorschreibt, unterjochen sie nicht nur nicht, sondern geben ihr sogar eine neue Stärke, nämlich die, welche aus der Autorität solcher Gesetze hervorgeht, in welche diejenigen, die sich ihnen unterwerfen, mit Freiheit eingewilligt haben.

Ein Taubstummer könnte, auch ehe er von dem Abbé Sicard erzogen worden ist, eine innere Gewißheit von dem Dasein Gottes haben. Sehr viele Menschen stehen zu den tiefen Denkern in demselben Verhältnis, in dem die Taubstummen zu den übrigen Menschen stehen, dennoch sind sie nicht minder fähig, die ursprünglichen Wahrheiten an sich selbst zu erkennen, weil diese Wahrheiten in das Gebiet des Gefühls gehören.

Beim physischen Studium des Menschen erkennen die Ärzte das Prinzip, das ihn beseelt, und doch weiß keiner zu sagen, was das Leben ist; und wenn man darüber nachzudenken begänne, so könnte man, wie einige griechische Philosophen es wirklich getan haben, den Menschen beweisen, daß sie nicht leben. Ebenso verhält es sich mit Gott, dem Gewissen, dem freien Willen. Man muß daran glauben, weil man sie fühlt. Jedes Argument ordnet sich immer dieser Tatsache unter.

An einem lebendigen Körper kann die Anatomie sich nicht üben, ohne ihn zu zerstören; und indem die Analyse sich an unteilbaren Wahrheiten versucht, verändert sie ihr Wesen schon dadurch, daß sie ihre Einheit beeinträchtigt. Wenn die eine Hälfte unserer Seele die andere beobachten soll, so muß unsere Seele sich teilen; und auf welche Weise diese Teilung auch stattfindet: sie raubt unserem Wesen die erhabene Identität, ohne die wir nicht die erforderliche Kraft haben, das zu glauben, was das Gewissen allein bestätigen kann.

Man vereinige eine große Menschenzahl im Theater oder auf einem öffentlichen Platz und trage ihr vor, welche gedankliche Wahrheit oder welche allgemeine Idee man wolle – und man wird beinahe ebensoviele verschiedene Meinungen sich offenbaren sehen, wie es versammelte Individuen gibt. Dagegen, wenn einige Züge von Seelengröße erzählt werden, oder einige Töne von Großmut sich zeigen: so beweist ein einstimmiges Entzücken, daß man jenen Instinkt der Seele berührt hat, der in unserem Wesen ebenso lebhaft, ebenso mächtig ist, wie der das Leben erhaltende Instinkt.

Indem Kant die Kenntnis übersinnlicher Wahrheiten auf ein Gefühl bezieht, das keinen Zweifel gestattet, indem er zu beweisen sucht, daß das Nachdenken nur in der Sphäre der Sinne Gültigkeit besitzt, ist er weit davon entfernt, die Macht des Gefühls für eine Täuschung zu halten; er weist ihm vielmehr den ersten Rang in der menschlichen Natur zu; er macht aus dem Gewissen das angeborne Prinzip unserer moralischen Existenz, und das Gefühl des Gerechten und des Ungerechten ist in seiner Ansicht ebenso das ursprüngliche Gesetz des Herzens, wie Raum und Zeit das des Verstandes.

Hat der Mensch nicht mit Hilfe des kritischen Nachdenkens den freien Willen geleugnet? Und doch ist er von dem Dasein desselben so überzeugt, daß er zu seinem eigenen Erstaunen Achtung oder Verachtung selbst gegen die Tiere in sich wahrnimmt; so sehr glaubt er an eine freie Wahl des Guten und des Bösen in allen Wesen.

Nur unser Gefühl gibt uns Gewißheit von unserer Freiheit, und diese Freiheit ist die Grundlage der Lehre von der Pflicht; denn wenn der Mensch frei ist, so muß er sich selbst Bewegungsgründe schaffen, die die Wirkung der äußerlichen Gegenstände bekämpfen und den Willen von dem Egoismus losreißen. Die Pflicht ist zugleich der Beweis und die Garantie der metaphysischen Unabhängigkeit des Menschen.

In den folgenden Kapiteln werden wir Kants Argumente gegen die auf den persönlichen Eigennutz gegründete Moral und die erhabene Theorie untersuchen, die er an die Stelle dieses heuchlerischen Sophisma, oder dieser verkehrten Lehre setzt. Im Hinblick auf die Kritik der reinen Vernunft kann es zweierlei Ansichten geben; gerade weil er selbst das kritische Nachdenken für unzureichend und kontradiktatorisch erkannt hat, mußte er sich darauf gefaßt machen, daß man es gegen ihn richten könnte. Allein, es scheint mir unmöglich, seine Kritik der praktischen Vernunft und die verschiedenen Schriften, deren Gegenstand die Moral ist, nicht mit Hochachtung zu lesen.

Kants Moralprinzipien sind nicht bloß streng und rein, wie man sie von der philosophischen Unbeugsamkeit erwarten darf, sondern er versöhnt auch ständig die Evidenz des Herzens mit der des Verstandes und findet ein besonderes Wohlgefallen daran, seine abstrakte Theorie über die Natur der Intelligenz zur Unterstützung der einfachsten und stärksten Gefühle zu benutzen.

Ein durch die Sinne erworbenes Gewissen würde von Sinnen erstickt werden können, und man setzt die Würde der Pflicht herab, wenn man sie abhängig macht von äußeren Dingen. Kant kommt also immer wieder darauf zurück, daß das tiefe Gefühl dieser Würde die notwendige Bedingung unseres moralischen Wesens und das Gesetz sei, wodurch dieses existiert. Die Herrschaft der Sinne und die schlechten Handlungen, zu denen sie verführen, können in uns den Begriff des Guten und des Bösen ebensowenig zerstören, wie der Begriff von Raum und Zeit durch die Fehlgriffe verändert wird, die wir uns in der Anwendung zuschulden kommen lassen. In welcher Lage man sich auch befinden möge: es gibt immer eine Gegenwirkung gegen die Umstände, die aus dem Innersten des Gemüts hervorgeht; und man fühlt sehr wohl, daß weder die Gesetze des Verstandes, noch die moralische Freiheit, noch das Gewissen in uns von der Erfahrung herrühren.

In seiner Abhandlung über das Erhabene und Schöne, betitelt Kritik der Urteilskraft, wendet Kant dasselbe System, aus dem er für die Sphäre der Intelligenz und des Gefühls so fruchtbare Folgerungen gezogen hat, auf die Freuden der Phantasie an, oder vielmehr, es ist dasselbe Gemüt, das er untersucht, und das sich in den Wissenschaften, in der Moral und den schönen Künsten offenbart. Kant behauptet, daß es in der Poesie und in den Künsten, die, wie jene, die Gefühle durch Bilder zu malen wert sind, zwei Arten von Schönheit gibt, von denen sich die eine auf die Zeit und auf dies Leben, die andere auf das Ewige und Unendliche bezieht.

Man sage doch nicht, daß das Unendliche und Ewige unbegreiflich sei; gerade das Endliche und Flüchtige konnte man sich bisweilen versucht fühlen, für einen Traum zu halten; denn der Gedanke entdeckt nirgends das Ziel, und das Nichts kann nicht von dem Sein begriffen werden. Man kann die strengen Wissenschaften selbst nicht ergründen, ohne das Unendliche und Ewige in ihnen anzutreffen; die positivsten Dinge gehören in gewissen Beziehungen ebensosehr zu diesem Unendlichen und diesem Ewigen, als das Gefühl und die Phantasie.

Aus dieser Anwendung des Gefühls des Unendlichen auf die schönen, Künste muß das schöne Ideal hervorgehen, d. h. das Schöne, nicht als die Vereinigung und Nachbildung dessen, was in der Natur das Beste ist, sondern als das realisierte Bild dessen, was unser Gemüt sich vorstellt. Die materialistischen Philosophen beurteilen das Schöne nach dem angenehmen Eindruck, den es verursacht, und setzen es folglich in das Gebiet der Sinne. Die spiritualistischen Philosophen, die alles auf die Vernunft beziehen, sehen in dem Schönen das Vollkommene, und finden darin eine Analogie mit dem Nützlichen und dem Guten, das die ersten Grade des Vollkommenen darstellt. Kant hat beide Erklärungsarten verworfen.

Bloß als angenehm betrachtet, würde das Schöne in der Sphäre der Sinne liegen und folglich der Verschiedenheit des Geschmacks unterliegen; es könnte nicht jene allgemeine Charakteristik verdienen, die den wahren Charakter der Schönheit bezeichnet. Das Schöne, als Vollkommenheit genommen, würde eine Art von Urteil erfordern, das dem ähnlich wäre, das die Hochachtung begründet. Der Enthusiasmus, den es in sich schließen muß, steht weder mit den Sinnen, noch mit dem Urteil in Verbindung; es ist eine angeborene Anlage, wie das Gefühl der Pflicht und die notwendigen Verstandesbegriffe, und wir erkennen das Schöne, sobald wir es sehen, weil es das äußere Bild des Ideals ist, dessen Typus sich in unserer Intelligenz befindet. Die Verschiedenheit des Geschmacks bezieht sich nur auf das Angenehme; denn die Sinne sind die Quelle dieser Art des Vergnügens. Dagegen müssen alle Menschen das Schöne bewundern, es mag zur Natur oder zu den Künsten gehören; denn sie tragen in ihrem Gemüt die Gefühle göttlichen Ursprungs, die das Schöne weckt.

Von der Theorie des Schönen geht Kant zur Theorie des Erhabenen über, und dieser zweite Teil seiner Kritik der Urteilskraft ist noch merkwürdiger, als der erste. Er begreift nämlich das Erhabene in der moralischen Freiheit, im Kampf mit dem Geschick oder mit der Natur. Macht ohne Grenze erschreckt uns; Größe drückt uns zu Boden. Gleichwohl entrinnen wir dem Gefühl unserer physischen Schwäche durch die Stärke des Willens. Die Gewalt des Schicksals und die Unermeßlichkeit der Natur stehen in einem unendlichen Gegensatze zu der jammervollen Abhängigkeit der Kreatur auf Erden. Allein ein Funke himmlischen Feuers in unserem Busen triumphiert über das Universum, weil dieser Funken ausreicht zum Widerstand gegen alles, was die Kräfte der Welt von uns fordern können.

Die erste Wirkung des Erhabenen ist, den Menschen niederzudrücken; die zweite, ihn zu erheben. Beim Anblick des Sturms, der die Wellen des Meeres aufwühlt und Himmel und Erde zu bedrohen scheint, überfällt uns zuerst das Entsetzen, selbst wenn keine persönliche Gefahr uns erreichen kann: allein, wenn die Wolken sich türmen, wenn die ganze Wut der Natur losbricht, so fühlt der Mensch eine innere Stärke, die ihn von allen Befürchtungen befreien kann, entweder durch den Willen, oder durch die Ergebung, entweder durch die Ausübung oder durch die Entsagung der moralischen Freiheit; und dieses Bewußtsein seiner selbst belebt ihn von neuem und flößt ihm Mut ein.

Erzählt man uns eine großmütige Handlung, sagt man uns, daß Menschen unerhörte Martern gelitten haben, um ihrer Meinung treu zu bleiben, malt man uns dies recht vollständig aus: so verwirrt das Bild der Peinigungen, die sie ausgestanden haben, anfangs unsere Gedanken, aber allmählich gewinnen wir unsere Kräfte wieder, und die Sympathie, die wir für Seelengröße empfinden, läßt uns hoffen, daß auch wir über die elenden Sensationen des Lebens triumphieren können, um wahr und edel und stolz zu bleiben bis ans Ende unserer Tage.

Übrigens vermag uns niemand zu definieren, was, sozusagen, den Gipfel unseres Daseins bildet. »Wir sind«, sagt Augustin, »im Hinblick auf uns selbst, viel zu hoch gestellt, um uns zu begreifen«. Der würde sehr arm an Phantasie sein, der da glauben könnte, er sei imstande, die Betrachtung der einfachsten Blume zu erschöpfen. Wie sollte man also dahin gelangen, alles zu kennen, was die Idee des Erhabenen in sich schließt?

Gewiß schmeichle ich mir nicht, auf wenigen Seiten Rechenschaft abgelegt zu haben von einem System, das seit zwanzig Jahren alle denkenden Köpfe Deutschlands beschäftigt hat; aber ich glaube darüber genug gesagt zu haben, um den allgemeinen Geist der Kantischen Philosophie anzudeuten und um den Einfluß zu erklären, den sie auf die Literatur, die Wissenschaften und die Moral ausübt.

Um die Erfahrungs-Philosophie mit der idealistischen gerecht zu versöhnen, hat Kant nicht die eine der anderen unterworfen; allein er hat beiden einen neuen Grad von Stärke zu geben gewußt. Deutschland war von der dürftigen Lehre bedroht, die in jedem Enthusiasmus eine Verirrung sah und die beruhigenden Gefühle des Lebens mit den Vorurteilen in einen Topf warf. Für Menschen, die zugleich so philosophisch und so poetisch, so empfänglich für Studium und Begeisterung waren, war es eine große Genugtuung, die schönsten Erhebungen des Gemüts durch die Strenge der abstraktesten Untersuchung verteidigt zu sehen. Die Kraft des Geistes kann niemals lang negativ sein, d. h. nicht in dem bestehen, was man nicht glaubt, nicht begreift, und eben deswegen herabwürdigt.

Es bedarf einer Philosophie des Glaubens, des Enthusiasmus, einer Philosophie, die durch die Vernunft bekräftigt, was das Gefühl uns offenbart.

Kants Gegner haben den Philosophen von Königsberg beschuldigt, er habe die Argumente der alten Idealisten nur wiederholt; sie haben behauptet, seine Lehre sei nur das alte System in einem neuen Gewande. Dieser Vorwurf ist unbegründet. Nicht bloß neue Ideen, sondern selbst ein eigentümlicher Charakter ist in der Lehre Kants enthalten.

Obgleich im Wesentlichen dazu bestimmt, die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts zu widerlegen, ist ihr doch das eine und das andere mit derselben gemeinsam; denn die Natur des Menschen bringt es mit sich, sich dem Geiste seiner Zeit anzupassen, selbst dann, wenn er auf seine Bekämpfung ausgeht. Platons Philosophie ist poetischer, als die Kantische, und Mallebranche's Philosophie ist religiöser; jedoch das große Verdienst des deutschen Philosophen besteht darin, daß er die moralische Würde gehoben hat; dadurch nämlich, daß er allem Schönen des Herzens eine in der Vernunft verankerte Theorie zur Grundlage gegeben hat. Der Gegensatz, den man zwischen Vernunft und Gefühl zu schaffen gesucht hat, führt die Vernunft zum Egoismus, und das Gefühl ebenso notwendig zur Albernheit: aber Kant, der berufen schien, alle großen intellektuellen Bündnisse zu schließen, hat aus dem Gemüt einen Sammelpunkt gemacht, wo alle Kräfte unter sich einig sind.

Der polemische Geist von Kants Werken, d. h. der, in dem er die materialistische Philosophie angreift, würde an und für sich ein Meisterstück sein. Diese Philosophie hatte in den Geistern so tiefe Wurzeln geschlagen, und es war aus ihr so viel Irreligion und Egoismus hervorgegangen, daß man allen Grund hatte, diejenigen als Wohltäter ihres Landes zu betrachten, die sie auch nur bestritten und die Gedanken eines Platon, Descartes und Leibniz von neuem belebten: aber die Philosophie der neuen deutschen Schule enthält eine Menge ganz eigentümlicher Ideen; sie ist auf unermeßliche Erkenntnisse gegründet, die sich mit jedem Tage vermehrt haben, und auf eine Methode der Untersuchung, die auf eine ausgezeichnete Weise abstrakt und logisch ist. Denn obgleich Kant die Anwendung dieser Untersuchung auf Wahrheiten, die außerhalb des Kreises der Erfahrung liegen, tadelt: so zeigt er doch in seinen Schriften eine Denkstärke im Fache der Metaphysik, die ihn in diesem Bereich den ersten Denkern gleichsetzt.

Man kann nicht leugnen, daß Kants Stil in der Kritik der reinen Vernunft alle die Vorwürfe verdient, die seine Gegner ihm gemacht haben. Er hat sich einer schwierigen Terminologie und des ermüdendsten Neologismus bedient; aber er lebte einsam mit seinen Gedanken und war überzeugt, daß man für neue Ideen neue Wörter brauche, obwohl es für alles Worte gibt.

Bei Gegenständen, die durch sich selbst ganz klar sind, nimmt Kant bisweilen eine sehr dunkle Metaphysik zur Führerin, und nur bei den Dunkelheiten des Gedankens schwingt er eine strahlende Fackel, erinnernd an die Israeliten, die des Nachts eine Flammensäule, bei Tag eine Wolkensäule zur Führerin hatten.

In Frankreich würde sich niemand bemüht haben, so von Schwierigkeiten strotzende Werke zu studieren, wie Kants Werke sind; aber er hatte es mit geduldigen und ausharrenden Lesern zu tun. Zweifellos war dies kein Grund, sie zu mißbrauchen; vielleicht aber würde er in der Wissenschaft des menschlichen Verstandes nicht so tiefe Forschungen unternommen haben, wenn er auf die Ausdrücke, deren er sich bediente, größeres Gewicht gelegt hätte. Die alten Philosophen haben ihre Lehre immer in zwei wesentlich verschiedene Teile gesondert, nämlich in den, der für die Eingeweihten, und in den, der für das Publikum bestimmt war. Kants Schreibart ist durchaus verschieden, wenn es auf seine Theorie, oder wenn es auf die Anwendung dieser Theorie ankommt.

In seinen metaphysischen Abhandlungen benutzt er die Wörter als Chiffren und gibt ihnen einen beliebigen Wert, ohne sich um denjenigen zu bekümmern, den sie durch den Gebrauch haben. Dies ist, dünkt mich, ein großer Irrtum; denn die Aufmerksamkeit des Lesers erschöpft sich im Begreifen des Sprachgebrauchs, ehe er zu den Ideen gelangt, und das Bekannte dient nie zur Stufenleiter, um das Unbekannte zu erfassen.

Bei dem allen muß man Kant die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er selbst als Schriftsteller verdient, wenn er seinem wissenschaftlichen Sprachgebrauch entsagt. Spricht er von den Künsten, besonders aber von der Moral, so ist sein Stil beinahe immer vollkommen klar, nachdrücklich und einfach. Wie bewundernswürdig erscheint alsdann seine Lehre! Wie herrlich drückt er das Gefühl des Schönen und die Liebe zur Pflicht aus! Mit welcher Stärke sondert er beides von aller Berechnung des Eigennutzes oder der Nützlichkeit! Wie veredelt er die Handlungen durch ihren Anlaß und nicht durch ihren Erfolg! Kurz, welche moralische Größe versteht er dem Menschen zu geben, er mag ihn an und für sich oder in seinen äußeren Beziehungen erforschen; den Menschen, diesen Verbannten des Himmels, so groß als Verbannter, so elend als Gefangener!

Aus Kants Schriften könnte man eine Menge glänzender Ideen über alle Gegenstände entnehmen, und vielleicht liegt es an der Lehre, daß sich scharfsinnige und neue Ansichten nur aus ihr schöpfen lassen; denn der materialistische Gesichtspunkt bietet in keiner Hinsicht noch etwas Anziehendes und Originelles dar. Abgenutzt ist das Stechende des Witzes gegen das Ernste, Edle, Göttliche; und man wird künftig der Menschheit nur dadurch Jugendkraft wiedergeben, daß man durch die Philosophie zur Religion, und durch die Vernunft zum Gefühl zurückkehrt.


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