Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Fünfter Gesang
Apoll der Entdecker

                              Im Osten stand des Tags prophetisches Gestirn.
Des Dämons Schwingen rauschten um Apollons Stirn.
«Wach auf! Schmeckt nicht dein Mund, spürt nicht dein Herz, Apoll,
Den nahen Tag, klarheit- und mut- und tatenvoll?
Hört deine Sehnsucht nicht vom Feld das Trittehallen
Der Reisechorgesänge, die nach Erden wallen?
Dein Neid von Busch zu Bach das Wanderglücksgeflüster
Der Freundespaare, leuchtend durch das Dämmerdüster?
Und du, vor Zeiten einst an Wagemut und Willen
Der Fürst, du moderst hier im Trägen und im Stillen!»
Apoll erklärte: «Erdwärts zielt für mich zu nieder,
Und mit dem vielen Volk die Fahrt läuft mir zuwider.»
«Führt ich dich jemals», rief der Dämon, «in den Haufen?
Auf andre Pfade, sprich, als stolze Steg und Staufen?»
Apoll erwiderte: «Das ist mir nicht genug.
So steil der Horizont, so geil der Heuchler Lug.
Weißt du mir einmal einen frischen Himmelsbogen,
Hoch, frei und rein, darin noch niemals ward gelogen,
Den keine Pfiffigkeit befleckte mit Verrat,
Weil ihn kein Schlechter kennt, kein Feiger je betrat,
Wohlan, dann melde dich, dann bin ich dein. Einstweilen
Schließ ich die Fenster, von dem Heuchelhauch zu heilen.»
«Was du bedingst», versprach der Dämon, «bring ich dir:
In einen frischen Raum, Entdecker, folge mir.»
Verwundert hob Apoll das Haupt, des Wortes Kern
Und Geist zu lesen in des Sprechers Augenstern.
Und sieh zum Beispiel seines Spruchs und Wahrheitssiegel
Das Abbild eines Firnlichts glänzen aus dem Spiegel.
Indes des Dämons aufgeregte Reiseschwingen
Von Hochmut redeten und fürstlichem Gelingen.
Aufsprang Apoll beseelt: «Voran! Ich folge mit.»
Und auf des Hochgebirges Treppe trat ihr Tritt.

Als sie erklommen das Gefäll der wilden Wand,
Wo Fluh auf Flühen saß und Tann ob Tannen stand:
«Was seh ich schimmern», rief Apoll, «im finstern Holz?
Welch eines Weibes Schönheit scheinen, hehr und stolz?
Ists Aphrodite, die mein staunend Auge schaut?
Ists Hera selbst, die Falsche, hoheitübertaut?»
Doch wie er stetig steigend nach dem Bilde blinkte,
Geschah ihm Freundesgruß, und eine Stimme winkte:
«Was wimpern so erstaunt und zwinkern deine Lider?
Kennst du, Apoll, nicht Artemis die Freundin wieder?»
«Wofür», begann Apoll, «kamst du hierher gegangen?»
«Dich zu begrüßen, Freund, und lieblich zu empfangen.»
«Wer gab dir Vorsicht meines Wegs und Vorempfinden?»
«Ich wußt: auf Adlerhöhen ist Apoll zu finden.»
«Und magst du, Traute, mit mir ziehn als Weggeselle?»
«In alle Zeit, durch jeden Raum, zur fernsten Stelle.»
«Dein Mund haucht Mut. An meine Seite schließe dich!»
So zogen sie den Gang empor einträchtiglich.
Und als, vom Walde mündend auf den freien Plan,
Sie sich im Heitern auf der Bergeskuppel sahn,
Da schritten sie zusammen nach dem Rasenrand
Und schickten ihre Blicke übers tiefe Land.
«Wohl mir», sprach Artemis, «hier oben weil ich gerne,
Mein Liebling neben mir und das Gemeine ferne.»
So rasteten sie müßig, mit den Augen nur
Geschäftig, auf der klaren tagumblauten Flur.
Horch! Rätselhaftes Rauschen, freudig, heldenharsch,
Wie eines Feldherrn Schimmeltanz im Heeresmarsch.
Ah! Aufschein eines strahlenkranzumzuckten Lichts,
Sieh, hinterm Berghorn. Stille, ringsum Ruhe: Nichts,
Erwartung, Täuschung. Da, mit einmal um die Spitze
Blendet der starke Sonnenwagen. Stachelblitze
Entfeuernd, treibt er flammenlodernd durch die Luft.
Beständig wächst er, stetig mindert sich die Kluft.
Jetzt jubelndes Gewühl von Wimpeln, Farbengold:
Und dröhnend kommt das Schöngetüm ans Land gerollt.
«Halt!» herrschte Helios. Stampfend standen die Maschinen.
Und krabbelnd aus des Wagens Muschelkorb erschienen
Ein Büschel Angesichter, frisch und lebensfroh,
Gefolgt von Schultern, Armen, Hüften ebenso.
Und als das Ganze schließlich, wie es kam und schlüpfte,
Aus dem Gefängnis auf den grünen Rasen hüpfte,
Da warens Helios' Töchter. Muntern Lachens sprangen
Sie auf der Matte hin und wider, im Verlangen,
Die Reiseglieder zu entsteifen und die jungen
Von Übermut und Spottlust überfüllten Lungen
Zu lüften. Dann, hinüberlaufend nach dem Quell,
Kämmten sie sich und wuschen sich vom Ruße hell.
Geneigten Blickes nahm das kecke Schauspiel wahr
Und schlenderte zum Wagen hin das Freundespaar.
«Daß euch! Ihr Elstern!» schalt mit väterlichem Grimme
Vom Wagenkorb hernieder Helios' Biederstimme,
«Ist das nun der Erziehung und der Sittenzucht,
Womit ich täglich mich ereiferte, die Frucht?
Ich habe wahrlich mehr Verstand in meinen Füßen
Als ihr im Kopf. Wollt ihr wohl gleich gebührlich grüßen,
Ihr blinden Hummeln? Hopla, hurtig, regt euch, knickt
Und reichet ordentlich die Hände, wie sichs schickt.»
Bestürzt erröteten die Töchter, schämten sich
Und huschten zu dem Freundespaare. Ordentlich
Die Hand zum Gruße bietend, mit bescheidnem Knicken,
Indes der Mutwill lacht aus ihren Augenblicken.

Selbst aber lud die fremden Gäste hübsch und fein
Helios zum Anblick seiner Sonnenschmiede ein,
Wo er, dem unerwarteten Besuch zu Ehren,
Gütig das wundersame Triebwerk mocht erklären:
Der Räder Hin- und Widerschwung, der Kolben Wechsel,
Der Kurbeln Handlichkeit, der Stößel Macht und Drechsel
Nebst allem übrigen, was etwa außerdem
Merkwürdiges bot des Fahrwerks künstliches System.
Dann, um die Kraft der Unterweisung zu ergänzen,
Ließ er zum klugen Wort der Taten Beispiel glänzen,
Indem er mit dem Sonnenschiff im luftigen Meer
Vor ihren Augen fuhr ein Weilchen hin und her.
Vorsichtig aber schleifte längs der Küstenzeile
Das Fahrzeug, und die Sonne, wahrlich, hing am Seile.
«Erfahrner Meister», frug Apoll, «erkläre mir:
Verzeih das freie Wort – was nützt das Schleppseil hier?
Sahst jemals einen Vogel du am Gängelbande?
Warum auch fährst du gar so ängstlich längs dem Lande?
Meinst du nicht selbst vielleicht, im Weiten und im Freien
Müßte die Sonnenreise herrlicher gedeihen?»
«O Fremdling», schmunzelte der Meister überlegen,
«Was einer nicht versteht, das laß er unterwegen!
Dann nützen die Gewalten, wenn im Zaum gehalten.
Der Weise zügelt, nur ein Tor läßt Willkür walten.»

Er sprachs. Da drehte Artemis sich lachend um.
«Was lachst du?» fragte Meister Helios' Miene stumm.
«Ich lache», rief sie, «weil das Lustspiel mich vergnügt,
Wenn Meister Schmied den göttlichen Apollon rügt.»
Ein Freudensturm, ein Aufruhr der Ergebung scholl,
Als Artemis gestand den Namen des Apoll.
Die Wangen küßten ihm, die Schultern und die Hände
Die Sonnentöchter. Aber klagend ohne Ende
Rief Helios: «Schmach der Kränkung, die du mir getan,
Apoll, daß du dich gabst für meinen Schüler an,
Der du mein überlegner Herr und König bist,
Und keiner lebt, der dir an Kunst gewachsen ist.»

«Freund», sprach Apoll, «laß dich den Irrtum nicht verdrießen.
Den Vorteil deiner Lehre mocht ich gern genießen.
Denn niemand ist so groß, und reicht er zu den Sternen,
Eh daß er etwas kann, muß ers bescheiden lernen.
Nun aber laß versuchen, ob ich wohl alleine
Die Sonne führen möge, freihin, ohne Leine.»
So sprechend, ließ er lösen alle Tau und Stricke.
«Dämon, stehst du mir bei? Wenn ja, ein Zeichen schicke!»
Und siehe da im Waffentanz den Dämon schreiten.
Da sprang er kurz an Bord und ließ die Sonne gleiten.
Jetzt gleich wie unterm Sattel ein erlesen Pferd
Schönhüpft, wenn es den Reiter merkt, der seiner wert,
Und gleich dem Schwan, der stolzen Flügelschlags den Gischt
Aufpeitscht und aus gebognem Halse Hochmut zischt:
So segelte die Sonne, als sie kaum verspürte,
Daß selbst der königliche Held Apoll sie führte,
Mit aufgeblähtem Wimpelwald in ebnem Flug
Glückaus ins Blau, durch Ätherglanz und Wolkenzug.
Bewundernd beugten mit dem Vater Haupt und Knie
Die Sonnentöchter. «Preis der Großtat!» jauchzten sie.
Leichthin versetzte Artemis: «Was jauchzt ihr bloß?
Sein Werk ist seiner nur ein Teil. Er selbst ist groß.»

Doch welche Wandlung jetzt begibt sich mit Apoll?
Sein Haar fliegt auf. Sein ruhig Auge hoheitsvoll
Strebt aus den Höhlen. Auf die Bank des Wagens steigt
Im Sprung sein Fuß. Zum fernsten Horizonte zeigt
Sein Finger, herrisch fordernd wie zu Streit und Fehde.
Und stammelnd von der Zunge taumelt ihm die Rede.
«Nein», rief er, «das ist keine Täuschung! Es ist wahr:
Mit meinen wachen Augen nehm ichs deutlich wahr;
Jenseits der Welt, wo Wissenschaft und Ahnung schweigen,
Seh ich von einem neuen Gau ein Wölklein steigen.
Das ist mit wonnigen Glückes Seligkeit beladen,
Ein Widerschein, der zeugt von bessern Weltgestaden,
Eja! Nicht will ich aus dem Sonnenwagen steigen,
Zum Schlummer nicht fürwahr die müde Schläfe neigen,
Eh meine Augen jenes Gaues Gärten grüßen
Und das gesegnete Gestad mir liegt zu Füßen.»
Und als ob dieser Rede Helios, der Entsetzte,
Mit Warnungen die väterliche Zunge wetzte,
Schwatzend den Kehrreim von der «Führerin Natur»
Und also fort und «Nie verlassen ihre Spur»:
«Ai!» rief Apoll, «Weisheit, welch schauerliche Speise!
Wer wagts? Wer unternimmt mit mir die Heldenreise?»
Da sah man Artemis von edlem Mut erglühn.
Vom Rasenbord sich furchtlos schwingend, lief sie kühn
Mit hochgehobnen Armen ihm entgegen. Schon
Hielt sie entschlossen neben ihm im Wagenthron,
Der Atem mutbewegt, die gläubge Stirn erleuchtet,
Das strenge Augenpaar vom Liebesblick befeuchtet.
«Du!» rief Apoll stirnrunzelnd, «du getraust dich viel!
Ins Unbekannte ist kein Scherz und Weiberspiel.
Der Ansprung tut es nicht. Geduld darf nicht versagen.
Und wer mich hindert, wisse, werf ich aus dem Wagen.»
Freudig erwidert Artemis: «Tu also! ja!»
«Ists also», sprach Apoll, «willkommen! bleib mir nah!»
«Haian! Paian!» Jetzt Räderrollen, Dampfgebraus,
Und tosend fuhr der Wagen in den Raum hinaus.
Durch weite Demantstrahlenmeere, wonnige Engen
Von farbendämmernden erlauchten Wolkengängen,
Umschwirrt von Schwalbenschrei, umwühlt von Glanzgewimmel,
Durch blaue bald und bald durch goldne Rosenhimmel.
Und eifersüchtige Adler kamen, mit den Fängen
Sich flatternd an die Sonnenräder anzuhängen.

Und während hinter ihnen Gruß und Grün verschied,
Begann und jauchzte Artemis das Reiselied:

«Trara! Hört ihr den Schrei der Kriegstrompeten klingen?
Ein Morgenlied aus vollem Halse laßt mich singen.
Vom Licht bin ich berauscht, vom Lichte muß ich tönen,
Drum sing ich von den reisemutigen Sonnensöhnen:
Zwei weiße Reiter seh ich durch den Weltraum blitzen,
Zwei Feuerfähnlein sprühn auf ihren Lanzenspitzen.
Auf ihrem blanken Helm nimmst du kein Stäubchen wahr:
Das ist der Dioskuren edles Zwillingspaar,
Die im Geläut die lichtgebornen Rosse strecken,
Helana, die verlorne Schwester, zu entdecken
Jenseits, im Metakosmos, wo der Hesperiden
Gesegnet Eiland liegt, besonnt von Glück und Frieden.
Und fragst du nach dem Führer, Leitstern und Kompasse,
Der ihnen durch den Luftraum weist die rechte Gasse,
Vernimm: des Herzens Hoffnung ist der Vorderreiter,
Und Mut und Glaube sind die trefflichen Begleiter.
Weil, gleich der Täubin, die der körnerreichen Blache
Entsteigt und steuert nach dem heimatlichen Dache,
Helana von der seligen Insel, wo sie weilt,
Dem langentbehrten Brüderpaar entgegeneilt.
Was meint ihr, welcher Freudentaumelsturm geschah
Da, wo Helana ihre Brüder wiedersah?
Wenn man mir sagte: Heida, zeichne mit dem Stift
Die Stelle, wo man keusches Glück im Weltall trifft,
Zwei Striche führt ich kreuzweis über jenen Ort,
Und mit dem Finger nach der Kreuzung weisend: dort!
Spott euch, ihr Dioskuren! müßt euch doch bescheiden,
Um eine beßre Himmelfahrt mich zu beneiden.
Denn nicht zum fernen Liebling zieh ich aus wie ihr:
Mein Fürst, mein Held, mein Bräutigam steht neben mir.
Ich kann ihn schaun, darf Blick und Odem mit ihm tauschen,
Und seines Dämons großen Fittich hör ich rauschen.»

Die Worte jauchzte Artemis. Und unterhalb
Der Sonnenreise stand auf jeder grünen Alp
Das Göttervolk und Mensch und Tier, in Hast versammelt,
Die Botschaft zu gewahren, die der Ruhm gestammelt.
Die Erde ward und der Olympos laut von Grüßen,
Und Beifall streckt ein Jubelband zu ihren Füßen.
Über den Wagen lehnte Artemis sich vor,
Da lief die Welt ihr nach und rief zu ihr empor:
«Was magst du? Wähle ohne Ziererei und Scham!
Ich habe aller Dinge War in meinem Kram.
Sag an: willst du vielleicht Gebirge?» Sprachs und warf
Sie kettenweise hin. «Sind Fluren dein Bedarf?
Da nimm sie! Willst du Stadt und Dörfer? Flüß und Seen?
Ich habs zu Hunderten. Schau her, da kannst dus sehen.»
Und tollen Laufes taumelten, mit Blust beladen,
Vorbei die Hügelreihen, hingemäht in Schwaden.
Indes dahinten, links und rechts, im Gegenzug
Bedächtige Wälder gingen mit dem Wagenflug.
Doch welterhaben, stolzen Schrittes stetig stieg
Das Sonnenschiff, und seine Räder rollten Sieg.
Und also weiter ohne Fährde noch Beschwerde,
Solange sich die Reise hielt im Bann der Erde.
Doch wie sie folgends hinterm letzten Erdensaum
Einfuhren in den unbewohnten Weltenraum,
Wo statt des Lebenshauches trauter Atmosphäre
Nüchtern und farblos klaffte wesenlose Leere,
Kein Ton das Ohr, kein Gegenstand das Auge grüßte,
Ja selbst die Wolke mangelte der Strahlenwüste,
Begann von den olympischen Königsadlern vielen
Einer zu blinzeln und nach seinem Schwanz zu schielen.
Husch, fiel er unversehens heimlich hinten ab.
Die andern nach, getreu dem Beispiel, das er gab.
«Ach!» seufzte Artemis, «mir bangt in diesen Gassen,
Wo selbst die höhenkundigen Adler uns verlassen.»
Apollon höhnte: «Ei, laß ziehen doch die Geier!
Erleichtert von den halben Freunden fährt sichs freier.»
Und weiter wetterte die kühne Fahrt nach oben.
Da sieh, von abertausend Mücken und Mikroben
Tanzt um den Sonnenwagenlauf ein feiger Schwarm,
Frechheit im Rüssel, Untertänigkeit im Darm.
Und alle wußten unumstößlich zu beweisen,
Er fahre fehl, die eitle Hochfahrt müß entgleisen.
Schüchtern begann, bescheiden fragend Artemis:
«Bist du, o Freund, des rechten Weges auch gewiß?»
«Schmach, daß du», rief Apoll, «an das Geschmeiß dich kehrst!
Des Maulwerks Platz ist hinterm Rad. Einst fahr ich erst.»
Und weiter wetterte zur Höh die kühne Fahrt,
Umringt von Öde, mit Unendlichkeit gepaart.
«Ach weh!» stöhnt Artemis, «im Nichts kann nichts gelingen.
Unmöglichkeiten kann Apollon selbst nicht zwingen.»
«Nunmehr», verwarnte scharf Apoll, «entscheide dich!
Bist du Genosse? Oder Feind und wider mich?»
Nun schwieg sie. Aber während ewig einerlei
Die Stunden gähnten durch die Ätherwüstenei,
Erlosch ihr Blick, die willenlosen Augensterne
Starrten verzweifelt und ergeben in die Ferne.
Durch flüchtige Pulse jagte wüstes Denkgeschwirre,
Ihr Herz ward traurig und ihr schöner Glaube irre.

«Doch still! Beinahe kam mir vor, ich röche Rauch,
Wie eines unsichtbaren Herdes Waldeshauch.»
«Das war ein Ton! Hast du gehört? Doch doch!» «Was hat
Mich an die Wange da gestreift? Ein Blumenblatt.
Schau her! Noch eins!» «Und dort: ein Küstennebelmeer!»
«Und fremde Adler werfen ihren Schrei umher!»
«Zu hinterst Schatten wie verhüllte Berggestalten!»
«Ja, das ist lebend Land! Hier kann nicht Täuschung walten!»
«Erreicht, erschwungen!» rief Apoll. Der Wagen stand,
Gehemmt vom trotzgen Querwall einer Wolkenwand.
Verworrenes Geräusch, das wonnige Laute rief,
Verriet ein holdes Rätsel, das dahinter schlief.
Über dem Wolkenscheitel schwankt ein Schemen auf:
«Wer wagt zu diesem niebetretnen Herd den Lauf?
Nach welchem Ziele strebst du? Was begehrst du hier?»
«Zur Weltenkuppel hob mich Mut und Hochbegier,
Und meine Sehnsucht sprach: zum Sieg oder Verderben!
Was muß ich tun, sag an, mir Einlaß zu erwerben?»
«Mit Gram und Sorge mußt du um den Schlüssel werben.»
«Willkommen Sorg und Gram! Der Schlüssel tut mir not.»
«Ists also, wohl! Vernimm Bedingung und Gebot:
Ein Bogen wird dir werden und ein scharfer Pfeil.
Kein zweiter gilt; von diesem einzigen hoffe Heil.
In dieser Wolkenwand, dem Auge unsichtbar,
Befindet sich ein Zweck, nicht breiter als ein Haar.
Mit dunkler Ahnung muß der Treffer dir gelingen,
So wird der Vorhang fliehen und die Pforte springen.
Doch hast du deinen einzigen Pfeil umsonst verschossen,
Kehr um, zieh heim; auf ewig bleibt das Tor verschlossen,
Auf jetzt! Greif zu! Versammle deine Seelenangst,
Ob dus errätst, ob dus erzweifelst und erbangst.»

Nach diesen Worten flogen Pfeil und Bogen her.
Als er den Bogen aufnahm, seufzt Apoll: «Wie schwer!»
Als er den Pfeil auflegte und die Sehne strengte,
Beschlich ihn Zweifel, der sein Urteil trübt und mengte.
Als er die Arme zum Entscheidungsschuß erhoben
Und sah nicht Ziel noch Zweck, nicht unten und nicht oben,
Zur Linken keinen Deut und rechts nicht Wink noch Rat,
Wankt er enttäuscht zurück: «Ich tauge nicht zur Tat!»
Wohl rafft er reuig den Entschluß von neuem wieder,
Doch immer sanken Mut und Arm ihm kraftlos nieder.
Bis daß zuletzt Verzweiflung ihm den Willen lieh:
Die Waffe legt er aus den Händen, fiel aufs Knie,
Neigte das Haupt, verhüllte sich das Angesicht,
Und eine Weile regt er sich und rührte nicht.
Und als er wiederum die Stirn dem Tag vertraute,
Da wars ein Mann, der aus dem Jünglingsantlitz schaute.

Plötzlich ein Griff, ein Sprung. Und vom gespannten Bogen
War Blick und Pfeil zugleich der tapfern Tat entflogen.
«Weh mir und Mitleid! Fehlt ich?» frug der Schütze bang.
Doch sieh: da schwankte, teilte sich der Wolkenhang,
Und aus dem Schleier trat, gleich einer Jungfrau hold,
Das Land der Oberwelt in Glück und Farbengold.
Ein Wald von Blumen, ein Vulkan von Schmetterlingen,
Und Berg und Täler, laut von Silberquellenspringen.
Die Hände reichten sich, ergriffen, inverschwiegen
Apoll und Artemis, worauf ans Land sie stiegen.
Und sieh vom Berg gebieterisch den Schemen nahn,
Des Schatten auf dem Wolkengipfel jüngst sie sahn.
Er sprach, die Hände auf Apollons Scheitel faltend:
«Als dieses Landes König, meines Amtes waltend,
Das mir gebührt, erklär ich laut und feierlich:
Mit Metakosmos' Inselreich belehn ich dich.
Gebirg und Täler sollen deinen Namen tönen,
Apoll. Jetzt aber, Sieger, laß vom Ruhm dich krönen!
Dreifach, Apoll, ist deines Ruhmes Fürstenkrone:
Du hasts geglaubt, das zeugt, daß Adel in dir wohne.
Du hasts gewollt, das spricht, daß Heldenmut dich stählt,
Du hasts gekonnt: du bist aus Tausenden erwählt.
Nunmehr tritt ein, folg deinem Wunsch, lustwandle frei!
Ich grüße dich, mein Werk ist all, mein Amt vorbei.»
So sprechend, wandte sich der Schemen. Aber jach,
Am Schritt ihn jetzt erkennend, eilt Apoll ihm nach
Und faßte seinen Mantel: «Was betrügst du mich?
Du bist mein eigner Dämon; ich erkenne dich.»
Der Dämon sprach: «Ich bin es, ja. Wann sagt ich nein?
Der Irrtum, der dein Urteil täuschte, er ist dein.»
«Wie bist du ernst und fremd und hoch von Wuchs geraten!»
«Ei, was befremdet dich? Ich wuchs durch deine Taten.»
«Du fehltest mir, als pfadlos ich durch Wüsten fuhr.»
«Ich ehrte dich: am Ziele harrt ich deiner Spur.»
Hier endete der Spruch. Die Trennung ward geschlossen.
Der Dämon schied. Indes die freundlichen Genossen
Landeinwärts vom Gestade strebten freudig nun,
Neugierig, welch Geheimnis möcht im Innern ruhn.

Auf eine Höhe kamen sie mit Namen 'Selig',
Dem Schmerz entrückt, lustreich, an Gütern überzählig,
Bewohnt vom Hesperidenvolk, von Wesen gut,
Von Anblick schön, das Böses weder kennt noch tut.
Nie siehst du dortzuland ein mürrisches Gesicht:
Die Wickelkinder in der Wiege weinen nicht,
Und selbst beim Blumenfest im dichtesten Gemenge
Hörst du kein Schelten, spürst du nirgends ein Gedränge.
Denn statt der Schule, statt Gesetz und Sittenzwang
Reimt eingeborne Lieblichkeit des Tages Gang.
Indes, was brauchts der Wort und Schilderungen viele?
Lern ihre Sinnesart aus diesem einzigen Spiele:
Wenn zwei, wer immer auch, an sich vorübergehn,
So lachen sie, solange sie einander sehn.
Vor Freuden lachen sie, versteh, mit Aug und Munde.
So wird das Leben inhaltreich und froh die Stunde.

O welcher Wunder Fülle dann, erstaunlich gar,
Zeigten der Hesperiden Gärten ihnen dar
In hoher Gegenwart, vom ewgen Licht besiegelt!
Das Vorgebirge sahn sie, wo sich jedes spiegelt
Auf zweien Gegenfelsen namens 'War' und 'Wäre':
Der eine schildert dir von überall die Märe,
Was immer stündlich sich begibt; der andre Schroffen
Der Dinge Möglichkeit, geträumt vom Herzenshoffen.
Sie sahn den bösen Bruch, von wo entfiel die Welt;
Die Halle, die der Dinge Musterbild enthält
Nebst aller Wesen Urgestalt, vom Geist vermutet;
Den Gießbach ferner, der in Harfenpsalmen flutet:
Tief unten aus der Erde springen seine Quellen;
Zum Liede schmilzt das Leid in diesen reinen Wellen.
Den tiefen Waldsee ferner der Erinnerung,
Wo das Vergeßne auferscheint, erfrischt und jung;
Den Wendelberg, der sich verwandelt jeden Morgen,
Und täglich neue Landschaft hält sein Hut verborgen;
Die Zeder Amuna, die aus der Wahrheit sprießt:
Der Irrtum schwindet, wer von seiner Frucht genießt.
Hernach den Engpaß, wo die Stunden und Minuten
In ewigem Wechselzuge hin und her sich sputen:
Leicht heben sie den Fuß, hellsingend in der Frühe,
Doch abends stumm, beschwert mit irdischer Not und Mühe.
Doch als sie auch das Tal Eidophane zuletzt
Entdeckten, wo, der Fesseln ledig, leibentsetzt,
Vor deinem Blick lustwandelt dein enthülltes Ich:
Hier stehst du, drüben grüßest du vom Walde dich –
Da sprach Apollon: «Artemis, du edle Frau,
Wenn ich die Seele dein vor mir lustwandelnd schau,
So ist sie rein von Makel, wie von Golde lauter.»
Darauf versetzte Artemis: «Geliebter, Trauter,
Von lauterm Golde nicht, es ist ein Kern darinnen,
Lebendig, warm und weich, der mag dich zärtlich minnen.»

Und also weiter, durch des Eilands Überfluß.
Nie fand der Wunsch Genüge, nie der Geist den Schluß,
Weil neue Wunder schafften neue Zögernis.
Bis daß der Zwang der Stunde sie von dannen riß.
Und heimwärts zogen zum olympischen Gestade
Apoll und Artemis ruhmreich die luftigen Pfade.

Und es geschah um dieses Tages Mitternacht,
Da sprach zu sich, aus traumbegabtem Schlaf erwacht,
Apoll: «Welch geistisch Singen durch den Mondenschein
Haucht aus der Höhe atmend in mein Herz hinein?
Ich kenne diese Sprache, heimatlich bekannt,
Und diese treue Stimme, herzlich anverwandt.»
Und sieh: im Sternenhaus, vom Schlummergeist enttragen,
Die Freundin Artemis, stehend im Mondenwagen.
Schlafwandelnd lenkte sie durch schwindelhafte Räume
Die blinde Fahrt. An ihrem Mantel hingen Träume.
Phalänen huschten um die Räder. Und von ferne
Folgten in leisem Zuge die erstaunten Sterne.
Die Lippen öffnete die Heldin unbewußt,
Die Zunge sprang, ein Hymnos quoll ihr aus der Brust:

«Ich kann es nicht verschweigen, kann es nicht verschließen,
Ich jauchz es in die Welt, und mags die Welt verdrießen:
Es überhebt sich mir das Herz, es protzt, es prahlt,
Weil meine Schläfen Sieg, die Schultern Ruhm umstrahlt.
Nicht zwar für eigenes Verdienst aus meiner Kraft,
Von einem andern, bessern zieh ich Lehenschaft,
Von dem ich eitel bin ein matter Widerschein:
Das ist mein Herr, mein Lehrer und Gebieter mein.
Ein Aar an Ungestüm, ein Leu an heftiger Stärke,
Doch nicht zu Haß und Hader, zum lebendigen Werke.
Versöhnung lächelt, wo sein Augenblick geruht,
Und was sein edler Finger stiftet, das ist gut.
Und fragst du nach dem Namen, wer der Große wäre:
Du Tor, von wem erzählt die Oberwelt die Märe?
Wes Lobes ist der Himmel und die Erde voll?
Wem beugt sich selber König Zeus? Sprich aus: Apoll.
Du dort, zurück! Kriech in den Winkel, winziger Wicht!
Schamloser Däumling, mit Apoll vergleich dich nicht!
Umsonst! daß du die Zehen streckst, den Nacken steifst.
Erst kniest du. Alsdann sorge, ob du ihn begreifst.
Doch mir, wie mochte solche Gnade mir geschehn?
Ich darf ihm aufrecht in die stolzen Augen sehn.
Jawahr! Er duldet mich. Er zürnt nicht 'fort von hier'.
Nein, 'Freundin, Freundin' gönnt des Helden Zunge mir.
Drum jauchzt mein Herz, drum muß mein Hochmut überquellen.
Wo ist ein Wort, ein Ton, es durch die Welt zu gellen?»

So sang für sich im Traum die hehre Schläferin,
Mit blinder Hand den Wagen steuernd vor sich hin.
Apoll vernahms, und heimlich einen ewigen Bund
Schloß er mit Artemis im tiefsten Herzensgrund:
«Ich fahre mehr in keine stolze Höh und Weite,
Du ständest denn mit deinem Glauben mir zur Seite.
Ja, wahrlich ja! Und hoffe niemand zu entzweien,
Die einst ins Tal Eidophane geblickt zu zweien!»


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