Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Dritter Gesang
Hebe

                            Danach gerieten sie auf eine Alpenweide,
Mit kurzem Gras gepolstert und geringer Heide.
Kein Baum in Sicht, kein Busch noch Bächlein im Bereich.
Soweit das Auge schweifte, alles glatt und gleich.
Fürs erste sprangen sie geschwind und wohlgemut
Den Rain hinan. Der Teppich trat sich lind und gut.
Doch mußten bald sie ihren Übereifer zähmen
Und ihren Fuß zu mäßigerem Gang bequemen.
Denn was ein Hüglein schien, erwies im Gegenteil
Sich als ein unbotmäßiger Höcker, hoch und steil.
Des weitern nahmen sie mit großer Unlust wahr,
Daß des Beginnens nie ein schließlich Ende war.
Wie rührig sie die fleißigen Beine auch bewegten
Und Stutz um Stutz und Alp um Alp nach unten legten,
Stets sahen sie ein neues Meer von welligen Dünen
Ob ihrem Haupt am Himmel unerschöpflich grünen.
Darob erstarb ihr Frohmut, und der Blick erlosch.
Die immer schwerern Sohlen nach sich schleifend, drosch
Des Marsches plumper Takt den Boden. Öfters schon
Drang aus erschöpfter Brust ein leiser Klageton –
Da, welch ein Höllengluthauch ist das, welcher jetzt
Der Wandrer Nacken wie mit scharfen Stacheln hetzt?
Sie schauten auf: sieh da, in gelbem Strahlenschwall
Der nackten Sonne ungeheurer Feuerball,
Der Sonne, der verheißnen, bitterlich ersehnten,
Von der sie aller Seligkeit Erfüllung wähnten,
Der sie vor wenigen Stunden erst mit trunknen Zungen
Den Willkommgruß gebracht und Preis und Dank gesungen,
Und die nun unaufhaltsam, unabänderlich
Mit tausend Flammenruten ihren Rücken strich.
Des ungeacht, obschon mit bangem Stöhnen viel,
Verfolgten mannhaft sie das spurlos flüchtige Ziel.
Doch mehr und mehr geriet der Zug ins Schleichen, Stocken.
Der Gaumen röchelte; die Lippen, wund und trocken,
Verweigerten das Wort, der Zunge schluckend Schlingen
Versagte, selbst der Speichel wollte nicht gelingen.
Und immer heißer in der durstigen Seele brannte
Das Wörtlein Wasser, das ein jeder schmachtend nannte.
«Frisch, Brüder! Bald ist alles überstanden», log
Der leere Trost, der nur das eigne Ohr betrog.
Denn jeder mochte diese Arzenei besorgen,
Den Mut, der ihm gebrach, dem Nebenmann zu borgen.

So schleppten sie sich peinlich eine Strecke weit.
Da – wars der Zufall? oder tats die Müdigkeit? –
Geschah es, daß ein unbemerktes Hindernis
Einen zum Straucheln bracht und auf die Matte riß.
«Geschehen», ächzt er, «und willkommen. Ziehet ihr,
Wohin es euch beliebt. Glückauf! Ich bleib allhier.»
Jetzt, gleich als ob ein Beispiel nur gemangelt hätte,
Warfen sich alle neben ihn in Reih und Kette,
Erhoben ein Geschrei und klagten: «O wir Toren!
Was haben wir verscherzt! Und was dafür erkoren!
Endlosen Wandels mühevoll bergan zu wälzen
Die todesmatten Leiber und im Schweiß zu schmelzen,
Von Durst gefoltert und vom Sonnenbrand gehäutet.
Wenn dieses die verheißne Seligkeit bedeutet!
Danieden in des Hades feuchten Kasematten
Genossen wir doch Ruhe, hatten Schirm und Schatten!
Sagt selbst: War je der Atzung nicht für uns genug?
Stand jemals ungefüllt der bauchige Wasserkrug?
O schöne, benedeite Zeit des Nebeltropfens,
Des Rinnens von den Zinnen und des Regenklopfens,
Da wir in unsern kühlen, mitternächtigen Kammern
Statt über Hitze durften über Kälte jammern!»
So murrten sie und meuterten. Drauf dehnten sie
Die steifgelaufnen Hüften, streckten Fuß und Knie,
Bauschten zum schattigen Sonnendach das faltige Kleid
Und stöhnten vor sich hin, vergessend Raum und Zeit.

Da blitzt ein Jauchzer über ihnen silberhell,
Der hüpfte durch die blumigen Matten froh und schnell.
«Frisch auf! Ihr müden Pilger jauchzet: Ju haja!
Die Unrast ist zu Ende! Hilf und Trost ist da!
Ich bring euch Speise, bring euch kräftgen Trunk, hallo!
Empor, und laßt den Kummer liegen! Juch hajo!»

Und sieh, am Horizonte droben auf der Weid
Wuchs aus dem blauen Himmel eine schlanke Maid,
In Tracht und Ansehn einer schlichten Hirtin gleich,
Doch schimmernd wie ein Engel aus dem Himmelreich.
Die hohlen Hand als Muschel hielt sie vor dem Mund,
Draus stieß sie Jauchzerketten in den Alpengrund.
Jetzt hatt ihr Blick die Lagernden erspäht. «Juchhei!»
Und mit verwegnen Sprüngen kam sie flugs herbei,
Kniete zu Boden, öffnete die Hirtentasche,
Gewann ein Büchslein hier, dort eine kleine Flasche,
Früchte hernach begann sie lieblich auszubreiten
Und spendete mit vollem Arm nach allen Seiten:
«Nehmt hin», ermahnte sie, «denn das ist Götterbrot.
Das heilt zumal des Leibes und der Seele Not.
Greift zu und ziert euch nicht, da ist genug für alle,
Ich habs im Überfluß, ich gebs im Überschwalle.»
Und als sie sämtlich nun Genesung und Genügen
Gefunden und die Augen lachten vor Vergnügen:
«Gesegnet seist du», dankten sie, «und benedeit,
Du holdes Mädchenangesicht, in Ewigkeit.
Nie bracht ein schönrer Bote eine schönre Post,
Fürwahr, das nenn ich eine wundertätige Kost.
Wir spüren lauter Wonne, keine Unlust mehr.
Doch sprich: Wie heißt dein Name? Und wo kommst du her?»

«Ich komme von dem Labyrinth, der Burg des Himmels,
Von Uranos gesandt, dem Herrn des Sterngewimmels,
Der, alsobald von eurer Not ihm Meldung ward,
Mitleid mit euch empfand nach seiner milden Art.
Denn seiner Güte hält der Unmut nie die Schwebe.
Doch wollt ihr meinen Namen wissen, nennt mich Hebe.
Im Nektargarten saß ich auf dem höchsten Baum,
Vergnügte Blicke sendend in den blauen Raum.
Da hört ich unsres lieben Herren Stimme schallen:
‹Hebe›, begann er, ‹du Entbehrlichste von allen,
Sei einmal nütze. Höre, da du leicht begreifst
Und rührig bist und gern durch Berg und Wälder schweifst,
Vernimm: Die neuen Götter, deren Kunst und Kunde
Seit heute morgen wir erwarten Stund um Stunde,
Auf allen Dächern, allen Zinnen steif uns stehend
Und Wald und Weide mit den scharfen Blicken mähend,
Stetsfort gewärtig, daß mit lustigem Hörnergellen
Nächstens der Vortrab werde durch die Büsche schnellen –
Meinst du, daß, die Verspätung reuig abzukürzen,
Sie atemlosen Laufes um die Ecken stürzen?
Bewahr! Die liegen guterweile kreuz und zwerch
In einer Alpenmulde auf dem Morgenberg,
Mundieren um die Wette, murren, meutern, schrein
Mit fleißiger Zunge, aber keiner rührt ein Bein.
Zwar sollt ich ihnen füglich zürnen, doch für Kinder,
Aus Schwäche reizbar, acht ich sie, nicht mehr, nicht minder.
Und ehe daß man einen Unzufriednen zankt,
Entfern ihm lieber erst den Dorn, woran er krankt.
Steig endlich, Nichtsnutz, aus dem Baum, geh heim und hasche
Mit weiten Armen schnell in deine Hirtentasche,
Was immer du zunächst erreichst an Trank und Speise.
Brings ihnen hin und stärke sie auf jede Weise,
Merk, was ihr Herz bedarf, gib ihren Wünschen Raum,
Leg sie im Schatten unter einen grünen Baum,
Mit plaudernden Gesprächen freundlich sie erlabend,
Denn Urlaub schenk ich ihnen bis zum kühlen Abend.
Doch abends leite sie zum Herold bei den Pferden,
Der wartet auf der Staffelwiese ob der Erden.›
So sprach mein Herr. Nun rede jeglicher das seine,
Ich aber will bescheiden raten, was ich meine.
Dicht über uns liegt eine Wiese 'Wachs und Werden',
Die streckt sich als ein Garten unterhalb der Erden.
Dort ist des Obstes und der Blüten Überschaum.
Inmitten aber steht der Allerbäumebaum,
Von dem die Sage meldet, daß aus seinem Samen
Sämtliche Pflanzen aller Welt den Ursprung nahmen.
Als 'Baum der Hesperiden' weit umher berühmt,
Weil immerdar er Früchte trägt und grünt und blümt,
Und also üppig ist sein Wachstum und so jach,
Daß, wer entschlummert unter seinem Blätterdach,
Dem knospen über Arm und Bein die Blütenschlingen.
Er muß sich schließlich mit Gewalt den Ausweg zwingen.
Dort, von des schattigen Baumes grünem Arm umschlungen,
Laßt uns der Ruhe pflegen, frei und ungezwungen,
Mit plaudernden Gesprächen lieblich uns versäumend
Und Spiel und Kurzweil, oder in den Obstwald träumend.
Das also ist es, was am rätlichsten mir scheint.
Nun aber sage jeder, was er dazu meint.»

«Gar schmackhaft dünkt uns», riefen sie,«und schier vernünftig
Dein Rat, und jeder guten Einsicht scheinst du zünftig.»
Und also folgten gläubig sie wo immer hin
Den flinken Schritten ihrer klugen Führerin.
Und als sie nun gelangten unterhalb der Erden
Zum Allerbäumebaum im Garten 'Wachs und Werden',
Genossen sie der Ruhe sonder Sorg und Harm,
Frei ungezwungen in des Baumes grünem Arm,
Lehnten die Schulter an den Stamm und auch den Rücken
Und ließen sich das weiche Schattenlager glücken,
Mit säumigem Geist und Blick die liebe Zeit verzaudernd,
Bald in den Obstwald träumend, bald gesprächig plaudernd.

Doch weil nun einmal in des Glückes Glanz und Gold
Das Herz zumeist sich zeigt den dunklen Farben hold,
Und keine Schilderung den Frohen inniger freut
Als jene, die zu sanfter Wehmut Anlaß beut,
Gefiel es ihnen, mit der Dichtung Purpurbildern
Den Blendungsglast der grellen Gegenwart zu mildern,
Vom Reich der Wirklichkeit ins Traumland sachte schlüpfend
Und eignes Schicksal mit dem Weltenlos verknüpfend.
Da stieg der Geist der Wahrheit aus dem Schöpfungsgrunde,
Berührte schweigend alle Stirnen in der Runde,
Und jede Zunge lähmte seines Blickes Bann.
Bis endlich einer, sich erhebend, ernst begann:

«Ich will erzählen einen alten bösen Traum
Vom ersten Gott, verwaist im unerschaffnen Raum.
In trägen Haufen starrten einstmals die Äonen.
Verknäuelt schlief die Zeit. Das Auseinanderwohnen
Des Hier und Dort, das Spiel des Dunkels und des Lichts
Lag noch unaufgerollt, und kraftlos hing das Nichts.
Da kam in wildem Sprung mit schauderndem Gebaren
Ein Greis den Berg der Ewigkeit herabgefahren.
Von seinen Schultern flatterten des Mantels Fetzen,
Aus seinen Augenhöhlen stierte das Entsetzen.
Und während in dem Sturm, der heulend ihn umpfiff,
Er immerfort verzweifelt mit den Fäusten griff,
Stieß mühsam sein verzerrter Mund, entstellt von Schaum,
Die heisre Stimme stöhnend durch den leeren Raum:
‹Gebt mir ein Echo, einen Schatten, das Phantom
Von einem Staub, das kleinste, winzigste Atom!
Laßt alle Folterhämmer, alle Martermühlen
Mit unerhörten Qualen mein Gebein zerwühlen,
Nur daß ich ferner nicht Jahrtausend um Jahrtausend,
In Ewigkeit das ungeheure Nichts durchsausend,
Erdulde diese schlimmste, fürchterlichste Pein:
Der Einzige zu bleiben, einsam und allein!
Gebt einen Feind mir, einen Teufel, einerlei,
Nur jemand, der da wäre, etwas, was da sei!›
Und während er noch sprach, halt! war ihm nicht, als stäche
Ein fremder, winziger Schmerz von außen her die Fläche
Der ausgestreckten rechten Hand? Unwissentlich
Zuckt er sie heftig vor das Auge wider sich.
Fast schiens, als ob ein Körnchen glitzernden Metalls
Er schimmern sähe oder Stäubchen allenfalls.
Er witterte und schnob: ein ätzender Geruch
Ermutigte der schwachen Hoffnung leisen Spruch.
Er schob die Zunge vor, zum Schmecken zugespitzt –
Sie fuhr zurück, von einem scharfen Biß geritzt.
‹Triumph!› preßt er hervor mit einem rauhen Schrei.
Da flog ein zweites Weltenkorn dem ersten bei;
Hierauf ein drittes. Nun verspürt er schon ein Prickeln •
Gleich einer Stachelbinde seine Stirn umwickeln.
Auf seine Schultern, seinen Nacken, überall
In dichten Regenschauern fiel der Stäubchenschwall.
Der Regen wuchs zum Hagel und der Hagel bald
Zu Graupenklumpen, groß und schwer und grobgestalt.
‹Halt ein! Genug!› schrie er, von Schmerz und Angst gepeinigt,
Da ward von plumpen Quaderklötzen er gesteinigt.
Felsen, Gebirge, Monde donnerten hernieder.
Bis daß in grausem Todeskrampf, der seine Glieder
Verhärtete, in wildem Weh, das ihn durchtollte,
Er seine Bürde wälzend durch den Weltraum rollte.»

Hier schwieg der Sänger, und ein anderer begann
An seiner Statt und hub zu reden also an:
«Ich will ein Lied erzählen von dem alten Streit,
Der ewig Mann und Weib vereinigt und entzweit,
Von Liebesungemach, unseliger Minne Plage.
Doch herbe tönt mein Wort, und bitter schmeckt die Sage:

An Heldenwuchs des Leibes wie des Geistes war
Phineus der größte unter der Titanenschar,
Dem Kraft und Siegeszuversicht im Busen pochte,
So daß er alles, was er unternahm, vermochte.
In welcher Kunst er immer um den Kampfpreis rang,
Kein Gegner war so mächtig, den er nicht bezwang.
Bis endlich Übermut und Frechheit ihn erfaßten,
Persephone, das Weib des Königs, anzutasten.
Hades ergrimmte: ‹Hei! dich will ich Demut lehren!
Laß sehn, ob Schmach und Schande dich zur Zucht bekehren!›
Und seine Blicke sendend nach dem stygischen Sumpf,
Ersah er der Harpyien eine, schön von Rumpf
Und Angesicht, begabt mit Augen groß und klar,
Von innen aber hart und grausam ganz und gar.
Ihr winkte Hades: ‹Weib! sag an, wie heißest du?›
‹Ich heiße Nemesis› gab sie ihm unwirsch zu.
‹Wohlan!› ermunterte der König, ‹Nemesis,
Geh hin und Phineus dem Titanen tue dies:
Laß seinen üppigen Hochmut Weibesspott erfahren.
Du sollst ihm keinerlei Erniedrigung ersparen.
Drück in die tiefste Schmach ihn bis zum Halse nieder,
Und was zumeist ihn kränkt, das tu ihm fleißig wieder.
Hier! nimm dies Kräutlein 'Krausig'. Salbe dich damit:
Er ist dein Minneknecht, der duldet Hieb und Tritt.›
‹Gesegnet sei dein Auftrag, den dein Wort mir schuf›,
Hohnlachte sie, ‹denn Wehetun ist mein Beruf.
Sei unbesorgt, verlasse dich auf meine Schnöde!
Wenns not tut, bin ich scharf, und wenn ich will, nicht blöde.›

Und also ward zur Buße Phineus der Titan,
Der Stolze, einem Weibe knechtisch untertan,
Folgt ihren Schritten, hob sie auf in Bild und Ton,
Um keinen andern Vorteil, keinen bessern Lohn
Als Widerwart und jeden schlimmen Zeitvertreib,
Womit des Mannes Minne neckt ein spöttisch Weib.
Er sprach: ‹Ich wills, ich werde deine Kälte schmelzen.›
Sie sprach: ‹Vergebens wirst du dich im Staube wälzen.›
Je mehr sie ihn verstieß, je hitzger folgt er mit,
Weil er des Kräutleins 'Krausig' Zaubermacht erlitt.

Nach sieben langen Jahren aber, als einmal
Der König von der Jagd mit seinem Ehgemahl
Heimkehrte: ‹Haltet!› rief er, ‹welch ein seltsam Lied,
Ihr Freunde, hör ich grollen aus dem stygischen Ried!
Aus wundem Herzen schreit der Wohllaut dieser Stimme,
Doch durch die Klage zuckt der Zorn in wildem Grimme,
Wie wenn ein Edler, schuldig oder unverschuldet,
Ein unerträglich schimpflich Weh unwillig duldet.›
Und wie er leise nun mit Hand und Eberfänger
Den Schilf zerteilte, um zu spähen nach dem Sänger,
Gewahrt er Phineus, tiefgebeugt am Ufer sitzend
Und zum Gesang auf Stein ein Bildnis emsig ritzend.
Zwar sah man nicht die Form des Bildes, das er riß,
Doch seine Stimme sang den Namen Nemesis.
Pfui! wer ist jene, die ihm auf sein Handwerk spuckt?
Sie selber, die sich über seine Schulter duckt!
‹Weib!› knirscht er, ‹wenn die Sünde unverzeihlich ist,
Daß du mir lieb und meinem Herzen heilig bist,
Frisch zu! Ich halte stille deinem Haß und Hohne,
Doch meiner Hände Opfer mindestens verschone!
Es ist kein Werk zum Tand, mit Tränen ists geweiht,
Die Andacht hats gezeugt, gesegnet Traurigkeit.
Dich selber, Schnödin, magst du meinethalb entehren,
Dein Abbild zu entweihen muß ich dir verwehren!›

Von Abscheu übermannt und heftigem Widerwillen,
Vernahms Persephone. Doch Hades weint im stillen,
Mitleidig des Titanen Seelenqual ermessend
Und die erlittne Unbill königlich vergessend.
‹Wie tief, mein Bruder!› rief er, ‹ist dein Stolz gesunken!
Und welcher Demut Neige hast du ausgetrunken!›
Phineus erriet das Wort, und vor des Königs Pferde
Warf er den mächtigen Körper stürmisch auf die Erde:
‹Erhabner König! sieh mich hier zu deinen Füßen!
Ich habe schwer gefrevelt, und ich will es büßen.
Um Gnade fleh ich nicht, ich bitt um Schwert und Beil,
Nur den Harpyien halte ferner mich nicht feil,
Die mich verschreien und mir in die Tränen speien,
Die meinen Wert nicht ahnen oder nicht verzeihen.›
Der König ließ der Gnade ungehemmten Lauf,
Erbarmte sich und hob den Frevler huldvoll auf.
Ein Pferd und einen Sattel ließ er ihm bereiten
Und ihn vor allem Volk zu seiner Linken reiten.
Doch keiner war mit Herz und Hand und Leib und Leben
Wie Phineus der Titan hinfort ihm treu ergeben.»

Hier endete und schwieg der Sänger. Eine Pause
Vereinigte das Lager in der grünen Klause.
Doch sittsam, mit bescheidnen Bitten, mahnt und wetzte
Hebe die Schweigenden, indem sie dies versetzte:
«Zwar ihr gebietet. Ich gehorche, ihr befehlt.
Wer aber ist der dritte, welcher nun erzählt?
Denn siehe, mehr als zwei Gelenke hat die Leiter,
Drum habet freundlich Dank, setzt fort und fahret weiter.»
«Dein ist nunmehr die Rede. Auf! erzähl uns du!»
Bestimmten eifrig sie. «Wir andern hören zu.»
Flugs sprang sie auf, trat vor, nahm einen freien Stand,
Ordnete Haar und Fittich und erhob die Hand:
«Ich gebs euch fröhlich, wie mirs aus der Kehle schlüpft.
Genehmigt, daß mein Scherz in euren Tiefsinn hüpft:

Im Himmel, wie man weiß und die Erfahrung spricht,
Befindet sich ein Tal, das heißt 'Warumdennicht',
Hart hinterm Hause, unterm Garten ists gelegen,
Mit Blütenseligkeit erfüllt und Früchtesegen.
Ein steinern Sträßlein führt hinunter weit und breit,
Doch keiner kommt dahin in alle Ewigkeit.
Nicht daß mit strengem Bott und Bann es jemand wehrte,
Bewahre, daß ein Hindernis den Weg durchquerte.
Niemand begreift, weshalb denn und warum denn nicht,
Doch in das Tal hinab gelangt kein Angesicht.
Man darf, man kann, man möchte, aber kanns nicht wollen,
Und hätt es einer noch so sehr begehren sollen.
Du wandelst lustig bis zu einem Quittenbaum
Und lachst: ‹Warum denn nicht?› Doch kaum an diesem Baum,
Kommt unversehens dir ein Einfall in die Krumm,
Du stutzest, denkst ein Weilchen nach, dann kehrst du um.
Wie schon gesagt, den Grund kann niemand dir erklären,
Doch jedem wird es die Erfahrung neu bewähren.
Nur eines weiß man: Im geheimen, in der Stille,
Im Quittenbaume höckelt eine blaue Grille,
Äugelt und reibt das Bein. Sobald die Grille zirpt,
Ists mit dem Wunsch vorüber, und der Wille stirbt.»

So sprach mit heller Stimme die Erzählerin.
Und fröhliches Gelächter schallte her und hin.
Drauf setzte sie die Hirtenflöte an den Mund
Und spielte süße Himmelsweisen Stund um Stund.
Indes die andern schlummernd durch den Obstwald träumten
Nach fernen Hügeln, drob sich Wolkenburgen bäumten.
Bis daß die Sonne sank und allenthalb die Schatten
Die durstgen Hälse streckten in die feuchten Matten.
«Nun aber», mahnte Hebe, «ists zum Aufbruch Zeit:
Das heißt, wenn ihr bereit und einverstanden seid.»
Doch siehe da, gefangen von den Blütensträußchen
Des Baumes saßen sie in einem Kerkerhäuschen,
Verdeckt, verschlungen von der grünen Kronenhaube.
Mit Not erzwangen sie den Ausweg durch die Laube.

Danach gelangten sie in einen greisen Wald
Halsstarriger Eichenriesen, knorrig von Gestalt.
Geflüster stieg vom Dach und aus den Höhlen Schweigen,
Und Dämmernacht begrub des Pfades rauhe Steigen.
Verwundert aber fragten ihre Führerin
Die Wandrer: «Mägdlein, launenhaft und kraus von Sinn,
Was führst du uns die krummsten und die gröbsten Pfade?
Und unten läuft ein Sträßlein lieblich und gerade.»
«Vernehmet», sprach sie ängstlich, «dieser Eichenhain
Schließt ein entsetzlich Wunder und Geheimnis ein.
Darum, daß hier die Wiege ist, die Wurzelstätte
Der Erde, die er hält mit straffer Gürtelkette.
Den Dünger saugt er aus dem Moder des Verderbens,
Und seine Wipfel schauen in das Land des Sterbens.
Ich aber, als ein lichtes, schönes Himmelskind,
Dem Lust und Frohsinn teuer, Tränen lästig sind,
Ich meide jenes falschen Sträßchens Heuchelei,
Das an der Grotte 'Tod und Leben' führt vorbei.»

«Sag an! Was ist es mit der Grotte 'Tod und Leben'?»
Begehrt ihr Vorwitz, «rede! woll uns Auskunft geben!»

«Oben in diesem Forst, in einer schroffen Kluft»,
Erklärte schaudernd sie, «starrt eine Mördergruft,
Von waldgekrönten Mauerwänden rings umgeben.
Das ist, die jeder flieht, die Grotte 'Tod und Leben'.
Zwei Höhlen lugen oben aus dem Felsenhaus,
Und jede Höhle läuft in eine Treppe aus,
Die fallen durch ein Dickicht, wo der Blick erlischt,
In einen Teich, der immerfort im Aufruhr zischt
Und speit und sprudelt lästerliche Fluchgebete.
Willst du des Teiches Namen wissen, nenn ihn 'Lethe',
Merkt: Aus der untern Höhle, gräßlich zu erzählen,
Verwirft des Todes Rachen die erwürgten Seelen
Der Tier und Menschen. Auf der obern Treppe Stufen
Ziehn sie empor, zu neuem Erdengang berufen,
Jeder mit einer andern Mißgestalt behaftet,
Doch sämtliche mit eklem Schleim und Blut besaftet
Und Lotterfleisch, das ihnen bei lebendigem Herzen
Von ihrer Seele fault mit tausendfältigen Schmerzen.
Wer ist der Zaubrer, der sie dergestalt verwandelt?
Und wer der Schwärzer, der sie in den Leib verhandelt?
Das ist, verkrochen in des Teiches Uferschäre,
Das fürchterliche Weib, die scheußliche Megäre,
Anankes eigne Tochter, gleich wie er von Erz,
Kein Flehen rührt, kein Jammer schmelzt ihr steinern Herz.
Wie sie gestaltet und geformt ist, weiß man nicht,
Denn nie bekennt das Weib ihr feiges Angesicht,
Weil ihr die Erde flucht, der Himmel sie verfemt,
Weil sie sich ihrer selbst und ihrer Taten schämt.
Doch ob verborgen sei der Greuel ihres Leibes,
So kennt man doch die Werke dieses argen Weibes:
Da, wo der Buschwald unten um den Sprudelweiher
Dem Blick den Durchlaß wehrt mit seinem dicksten Schleier,
Dort braut sie aus dem Lethesaft mit Kunst und Mühe
Und schwarzen Zauberformeln eine Höllenbrühe,
Zwingt erst die abgeschiednen Sterblichen zum Trunke
Und laugt sie dann und mangt sie in der giftigen Tunke.
Worauf sie, je nachdem des Weibes Finger handeln,
In Menschen oder Tiere schmählich sich verwandeln.
Und alle steigen triefend aus dem Zauberbad
Und straucheln auf die Treppe nach dem Lebenspfad.
Wohl schütteln sie und schleudern angstvoll Haupt und Glieder,
Doch aus dem Netz des Fleisches zieht sich keiner wieder.
Der heiligen Seele ist der Schleim nun Herr und Meister.
Du lebst, du klebst, verkittet in dem blutigen Kleister.»

«Arglistiges Mägdlein», zürnten sie, «du willst uns necken
Mit Nachtgespenstern, die nur gläubige Kinder schrecken.
Gestehe, deine Sage ist ein Wahngesicht.
Denn Fleisch und Blut und Tod und Leben gibt es nicht.»
«Laß sehen», widerhielt sie, «wenn ihr mir nicht glaubt,
Laß sehn, ob euch der Augenschein den Zweifel raubt.
Erst aber eßt von diesen Nüssen, deren Zimt
Dem, der sie ißt, den herben Schmack des Mitleids nimmt.
Denn wer da merkt und schmeckt, was sich begibt auf Erden,
Könnt ohne diese Nüsse nimmer fröhlich werden.»
So sprach die Führerin. Die andern aber taten
Nach ihrem Wort und aßen, wie sie angeraten,
Zur Vorsicht von den Nüssen, folgten überdies
Ihr eifrig nach, sich schlagend durch das Waldverlies,
Bis daß sie über einer rätselhaften Lücke
Gewahrten ob den Flühen eine Kanzelbrücke.
«Hört ihr?» bemerkten sie, «mir ist, es flüstern Stimmen!
Ähnlich wie wenn von Käfern oder emsigen Immen
Unzählige Schwärme unter schnellem Flügelsausen
Und Summen würden stetig auf und nieder brausen.
Indes ein Giftgeruch, ein fauler Salbenbrodem
Die Seele mir umschnürt und hemmt mir Herz und Odem.»

Und als nun auf der Brücke überm Felsensatz
Die Götter bebend nahmen längs der Brüstung Platz,
Da lag die Schlucht und alles einzelne genau
Wie Hebe vorverkündet ihrem Blick zur Schau:
Die Höhlen mit den Treppen und der Doppelschwall
Der Seelen auf und nieder gleich dem Wasserfall.
Und schaudernd folgten ihre Augen dem Gewühle
Und Wirbelsturm der fürchterlichen Geistermühle.
Myriaden in das enge Kesseltal gezwängt,
Die Luft sogar von flüchtigem Seelenvolk durchsprengt.
Und überall, wohin du mit dem Blicke langst,
Kein frohes Antlitz, nur Entsetzen, Schrecken, Angst.
Jetzt aber, während grausend sie dies Schauspiel schauten,
Den Tränen wehrend, die auf ihren Wangen tauten,
Stockte der fleischgewordnen Seelen Erdenlauf,
Und traurig sahn die Tiere zu den Göttern auf,
Mit innigen Augen, die die ewige Sprache sprachen,
Mit Bruderblicken, die den garstigen Leib durchbrachen:
«O sagt uns, welch Verbrechen haben wir verschuldet,
Daß solch ein blutig Schicksal wird von uns erduldet?
Auch ich bin Geist, mit eurem Fühlen fühlen wir,
Weswegen sind wir Tiere, aber Götter ihr?»
So sprachen ihre Augen, und zu gleicher Zeit
Gab ihrem Spruch die Stimme weinend das Geleit.
Doch von dem schnöden Leib, darinnen sie vertiert,
Ward auch der Ton der Stimme schmählich parodiert,
So daß der angsterfüllten Opfer Wehgesang
In Possenlauten ihnen aus der Kehle drang,
Und statt des Schluchzens zwängte sich ein wildes Grölen
Und Grunzen greulich aus den rauhen Rachenhöhlen.
Ein tausendstimmger, schauerlicher Maskenchor,
Worin der Seele heiliger Psalter sich verlor.
Und wie sie flehentlich die Hände streckten, boten
Sie keine Hände, sondern Krallen, Tatzen, Pfoten.

«Kommt her, ich will euch etwas zeigen», lockte Hebe.
Und in den Seelenschwarm, der angstvoll in der Schwebe
Die Luft durchtaumelte, umsonst den Wirbelzug
Zu fliehn bestrebt, der sie zum Lethesprudel trug,
Griff sie mit Fingern, übers Kanzelbord gebückt,
Ob ihrer eine sie erhasche. «Ha! Geglückt!»
Nicht einzig eine hatte sie gefangen: zwei.
Und wundernd drängte sich die Götterschar herbei:
«Oh, was für schöne Augen daß sie haben, schau!»
«Und große!» «Und der feine luftige Gliederbau!»
«Sie tun ja gar nicht scheu! Man könnte leicht sie zähmen.
Gehts wirklich nicht, wie schade, sie mit heimzunehmen?»
Und fanden der verliebten Gönnerschaft kein Ende,
Und jeder gab sie weiter in des Nachbarn Hände.
Bis daß sie, der Betrachtung müde, sie zum letzten
In Freiheit auf den Rand der Kanzelbrüstung setzten,
Wo jene erst, ans Holz geklammert, einige Zeit
Sich duckten, mit den Flügeln schlagend, fluchtbereit,
Hernach, den Kopf erhebend, auf der Kanzelwehr
Einander immer näher rückten, mehr und mehr,
Mit prüfendem Betasten die Bekanntschaft schürend
Und Zwiegespräche, scheint mir, mit den Fingern führend.
«Wie du, so ich.» Und nach verschämtem Zaudern viel
Gings plötzlich an ein übermütig Liebesspiel,
Sich neckend und sich jagend über das Geländer.
Doch Hebe kramt aus ihrem Haar zwei Schleifenbänder,
Ein weißes und ein rotes, die mit zarter Hand
Sie um das linke Fußgelenk der beiden band,
Je einer eins, worauf sie alle beide scharf
Im Schwung – «Halt ein! Was tust du?» – in die Tiefe warf:
«Nun wartet, welch ein Fell das Weib den zweien gönnt.
Die Bänder dienen, daß ihr sie erkennen könnt.»
Erwartungsvoll zur obern Treppe eifrig sah
Nun jedes Auge. Nach geraumer Zeit – «Aha!» –
Entdeckten sie im Zug der Tiere allerhand
Ein Schwälblein, dessen linken Fuß ein weißes Band
Verzierte. «Gruß dir!» «Aber den Gesponsen finde
Ich ewig nicht. Sieht niemand ein rote Binde?»
«Dort kommt er!» «Wo?» «Nicht weit davon.» «Wie sieht er aus?»
«Ein Habicht oder Falk mit wilden Augen graus.»
«Ob wohl, wenn jenseits angekommen auf der Erden,
Sie herzlich sich erinnern und sich suchen werden?»
«Ich wette: nein.» «Ich: ja.» «Das wird sich bald erproben,
Schon sind sie vor der Höhle auf der Treppe oben.»
«Ich seh sie nicht mehr.» «Weil verschwunden in der Gruft.»
«Schaut jetzt nur fleißig aufwärts in die Erdenluft!
Sie kommen plötzlich!» Wirklich: kaum gesprochen, schossen
Eins nach dem andern aus dem Erdwald die Genossen.
«Doch seh ich richtig? Nein, unmöglich! Doch, fürwahr!
Das Schwälblein flieht, der Falk verfolgt es offenbar.»
«Getrost! Er spielt bloß.» «Nein, so hetzt man nicht zum Spaß,
So leidenschaftlich stößt zum Ziel allein der Haß.»
«Pfui ihm und Schande, welche Bosheit unerhört!»
Und suchten ihn mit lautem Schreien, zornempört,
Und heftigem Gebärdeschwenken wegzuscheuchen.
Vergebens ihr Bemühn, umsonst ihr Eiferkeuchen.
Schon war das Schwälblein eingeholt und überfallen.
«Ach Bruder», kreischte, zuckend in den grimmen Krallen,
Das Schwälblein, «Liebster, sieh mich an, erkenne doch
Die Freundin, die vor wenigen Augenblicken noch
Zutraulich mit dir spielte. Nimm die Schleife wahr
An meinem Fuß, den Zwilling deiner. Wir sind Paar.»
Weil aber von dem argen Weib mit Geierblut
Gefüllt, beharrte blind und taub des Habichts Wut,
Sah nicht das Zwillingsmerkmal, überhört ihr Kreischen,
Sein Mordzahn zwang ihn, die Gespielin zu zerfleischen.

«Fluch deiner Grausamkeit, Ananke!» so vergaß
Der Mund der Götter sich im Zornesübermaß.
Und ihren Fäusten widerfuhr es ohn ihr Wissen
Und Wollen, daß sie Stücke von den Mauern rissen
Und rachedurstig steinigten den bösen Busch,
Worin das unbarmherzige Weib die Seelen wusch.
Da wars, als ob ein Schatten aus dem Dickicht wankte
Und riesenhaften Schrittes nach der Kanzel schwankte,
Die Hand zum Griff bereit. Von bleichem Schreck erfaßt,
Entflohen kreischend sie mit atemloser Hast
Und schauten nimmer um und hemmten nicht die Flucht,
Bis daß sie endlich, tauchend aus der Grottenschlucht,
Das Sträßchen wiederfanden. «Hast du Nüsse mehr?
Mach schnell! Gib hurtig deinen ganzen Vorrat her!»
So keuchten sie. Und als die letzte Nuß zu Ende,
Begehrten sie, daß man die Schalen ihnen spende.

Und wie sie langsam wieder mit gebognen Knieen
Aufstrebten durch des Eichwalds stumme Galerieen:
«Ach!» seufzten die Bedrückten, «dieser Wald ist schaurig!
Und was wir jüngst vernahmen, ist so trüb und traurig!
Obschon dem Blick entschwunden, ists noch unverwunden,
Und unsre Seele kann vom Mitleid nicht gesunden.
Drum überlege, was du wieder uns erzählest,
Wovon es immer sei, und was du irgend wählest.»
«Ach nein doch!» widersprach bestürzt die Führerin,
«Beharret nicht auf diesem frevlen Eigensinn.
Euch mangelt Trost, den Gram mit Tränen zu benetzen,
Ich aber weiß nur windige Märlein zum Ergetzen.»
«Nichts da! Man soll den Gram uns nicht mit Tröstlein kränken!
Wir wollen ihn betäuben, wollen ihn ertränken.
Drum her mit deinen Märlein! Zier dich nicht des weitern!
Wir wollen wieder leben, lachen, uns erheitern.»

«Wohlan!» gewährte sie, «so will ich euch bewirten
Mit einer Mär von Utis, jenem schlauen Hirten,
Der jenseits aller Welt mit seiner Ziege zog
Und mit verschlagner List Ananke selbst betrog:
Vor alten, grauen Zeiten, als noch Uranos
Nicht König war und kein geräumig Himmelsschloß
Versicherte den frommen Engeln Schutz und Frieden,
Waren die Grenzen von den heutigen verschieden.
Zu beiden Seiten neben dem Lawinengraben,
Den ihr ja heute werdet überschritten haben,
Stießen die Marken einst zusammen: Oberwelt
Und Unterwelt, die Erde zwischendrin gestellt.
Allein bei jener Zeiten schlichterem Bedarf
Nahm mans nicht so genau, bestimmte nicht so scharf.
Da gab es Inseln, Höhlen, drin man unbehellt
Sich bergen konnte zwischen der und jener Welt.
Auf einer solchen Insel der Lawinenbahn
Kam Utis einst vom Menschenlande heimlich an,
In finstrer Mitternacht, Ananke nicht zu wecken,
Mit bloßen Füßen, um den Tod nicht aufzuschrecken.
Kaum angekommen, glitt er in die Höhlen, brach
Hier einen Riegel durch, half dort dem Durchschlupf nach,
Bis daß er sich gekünstelt einen Maulwurfsbau
Mit Ausgangspförtchen gegen jeden Weltengau.

Nunmehr versteht ihr: wohnend zwischen dreien Welten,
Konnt er den Anspruch sämtlicher mit Hohn vergelten.
Denn kamen, sag ich beispielsweise, ihn zu fangen,
Die Häscher morgens von der Oberwelt gegangen,
So taucht er unten auf mit Unerschrockenheit,
Vom Wetter redend und der argen Trockenheit.
Nahten im Gegenteil vom Tale nach den Bergen
Mit Strick und Galgen nachts die erebinischen Schergen,
Erschien er diesmal obenher zur Neuerung,
Von Nässe sprechend und der schlimmen Teuerung.
Er konnte sich gelassen auf sein Recht versteifen,
Sie durften ihn nicht jenseits ihrer Grenzen greifen.

Darüber aber ward allmählich ein Geschrei
Und Zank und Zwietracht in Anankes Weltenei.
Empört verwahrten sich die ewigen Gesetze,
Daß ihrer kleinsten eins man ungestraft verletze,
Des Lebens und des Todes Rechenschaftsbericht,
Verglichen einer mit dem andern, stimmten nicht.
Bald die, bald jene Wahrheit forderte Entlassung,
Und in den Fugen lotterte die Weltverfassung,
Bis daß Ananke des Versprechens sich befliß,
Daß er ein Ende mache solchem Ärgernis.
Fürs erste suchte man im guten und im frommen
Dem ungefügen Hirten glimpflich beizukommen.
Mit Mehl verzuckert, angetan in Feierstaat,
Begab der Tod sich, wie beschlossen war im Rat,
Beim Sonnenuntergang und Abendglockenklang
Auf neuen Schuhen friedlich zum Lawinengang;
Durchsuchte alle Winkel, schnupperte und roch
In jede Uferspalte, jedes Höhlenloch,
Bis daß er endlich ein verhalten Atemzittern
Vernahm und glaubte lebend Fleisch und Blut zu wittern.
Jetzt faltet er die Hände, überschlug ein Bein
Und sagte weise Sprüche in den Berg hinein,
Vom Jammertale redend und von ewiger Ruhe
Der seligen Toten in der stillen Grabestruhe.
Und also trefflich schüttelt er und walkt und schürte
Des Sünders Herz, daß Utis, den die Botschaft rührte,
Mit lauter Stimme segnete des Todes Namen,
Sang Halleluja, sprach zu allem Ja und Amen,
Stöhnte und schluchzte unaufhörlich zum Erbarmen:
Allein hervorzukommen mocht er nicht erwarmen.
Ob solchem Trotz ergrimmt Ananke dergestalt,
Daß er den Frevler töten wollte mit Gewalt.
Vereinte Reisige aus jedem Weltenreich
Umzingelten die Höhle rundherum zugleich,
Verstopften sorgsam alle Spalten, alle Löcher,
Und Bogenschützen wachten mit gespicktem Köcher.
Nach sieben Tagen hörten sie ein röchelnd Stöhnen
Wie eines Sterbenden herauf von innen tönen.
Am achten Tag ein Wimmern, welches mehr und mehr
Erstarb, am neunten schien die Grube lebensleer.
Doch als des zehnten Tages Abend war verblichen,
Kam eine Ziege traurig aus der Gruft geschlichen,
Trug unterm Hals ein Täflein, drauf mit schwachem Stift
Entworfen stand des Abschiedsgrußes schwanke Schrift:
‹Ihr lieben Leute, was ich Übles je getan
Voreinst im sündigen Leben, seht mir das nicht an.
Verzeih mir jeder, und nachdem ich abgeschieden,
Vergönnt mir, ach, ein Grablied für der Seele Frieden.›
Ergriffen stand umher der Krieger rauhe Menge
Und brachte Reden dar und dumpfe Grabgesänge.
Die Bogenschützen senkten feierlich den Bogen,
Worauf sie nach drei Seiten düster sich verzogen.
Kaum waren sie verschwunden um die nächsten Ecken,
So trippelte die Ziege mit vergnügtem Mecken.
Aus einer Bodenspalte lugt ein Kopf heraus,
Und Lust und Freude herrscht in Utis' Höhlenhaus.

Schwermütig ward vor Gram und Grimm Ananke da.
Da zischelte zum Tod das Schlänglein Satana:
‹Soll ich dir sagen, wie du Utis fängst?› ‹Hei ja!›
‹Wohlan, so hör: Ein einziges Mittel gibt es bloß.
Denn mit Gewalt ihm beizukommen: aussichtslos.
Du kannst ihn weder angeln noch zutage jagen,
Anschlich und Überraschung müssen auch versagen.
Weil scharfen Auges unermüdlich Tag und Nacht
Die treue Ziege auf der Auslugwarte wacht,
Die, kaum daß sie von fern Verdächtiges entdeckt,
Sofort mit kurzem Warnruf seine Vorsicht weckt.
Ihn locken oder ködern? Torheit! Selbstbetrug!
Der kommt in keine Falle, der ist viel zu klug.
So wüßt ich rundum keine Hoffnung, die verbliebe,
Hätt er nicht eine kleine Schwäche, eine Liebe.
Nämlich, es sei Gewöhnung, Macht der Einsamkeit
Oder was sonst, vielleicht auch einfach Dankbarkeit,
Kurzum, er hat die Ziege, seinen Hausgenossen,
Mit solcher Hätschelliebe in sein Herz geschlossen
Und sorgt und kümmert sich um sie und hangt an ihr,
Als wärs sein Kind und nicht ein hornbehaftet Tier.
Bedien dich dieser blinden Freundschaft, drehe sie
Zum Strick, den Alten einzufangen. Lerne, wie:
Mit Korb und Spachtel, einem Wunderdoktor gleich,
Der Bitterkräuter sammelt, durch die Alpen streich,
Bis du von fern die Ziege wahrnimmst auf der Wache.
Jetzt krümme dich und halte dir den Bauch und lache,
Und mit der stärksten Stimme, die dir je gedieh,
Beschimpf ihm seine Ziege, lästre, höhne sie;
Ruf 'Käshorn', nenn sie eine schäbige Lottergeiß
Und was für Ärgernamen deine Spottkunst weiß.
Was gilts? Er hälts nicht lange aus, er kommt mit Toben
Plotz! aus der Höhle humpelstolpernd angeschnoben.
Dann tust du ängstlich, wendest blökend dich zur Flucht
Und packst ihn selber, wenn er dich zu fassen sucht.›

Den Anschlag riet dem Tod das Schlänglein Satana.
Und pünktlich also, wie vorausgesagt, geschah.
Kaum daß der Tod die Ziege auf der Warte sah,
So hielt er sich den Bauch vor Lachen, krümmte sich
Und schimpfte nach der Ziege laut und lästerlich,
Sie 'Schandgeiß' nennend und so fort nach Herzensluste
Mit allen schnöden Ärgernamen, die er wußte.
Bis endlich Utis, dem die Galle überfloß,
Krebsrot vor Zorn, steifstolprig aus der Höhle schoß:
‹Wo ist der Lump, der Lausbub, der sich untersteht,
Der Schuft, der Trottel, daß er meine Ziege schmäht?›
Nun wandte kläglich blökend sich der Tod zur Flucht.
Utis ihm wütend nach in heißer Rachesucht
Und holt ihn ein, indem er wild den Stecken schwang.
Ihn nahm des Todes harter Knöchel in Empfang.
So fand der Schlaue schließlich doch den Untergang.

Das also war das Märlein, das ich euch versprach.
Doch schaut, wie prächtig durch der Eichen Kronendach
Des Abends rote Feuerhand den Wald erhellt!
Nach wenigen Schritten steht ihr auf der Oberwelt.
Schon hör ich draußen Stimmen schallen, Hufe scharren.
Ich aber darf nun länger nicht bei euch verharren.
Auf Schmugglerpfaden muß ich flugs voran mich schwingen,
Von eurer nahen Ankunft die Gewähr zu bringen.»

Sie riefs und lächelte, gönnt einen kurzen Wink
Zum Abschied den Gefährten, dann entfloh sie flink,
Verschmähend, daß ihr einer Dank zum Gruß erwiese.
Sie aber traten staunend auf die Staffelwiese.


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