Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Zweiter Gesang
Boreas mit der Geissel

                                Den Haarbusch Harpalykes zerrte Boreas.
Heiß schnellte sie herum, im Auge Hornishaß.
«Ach, du bists!» Freundlich lächelt ihrer Wimpern Blink,
Mit eins versöhnt. «Komm mit», verständigte sein Wink.

Draußen im Freien auf dem blachen Feld hernach
Sah Boreas sich um, worauf gedämpft er sprach:
«Merk auf und schweig! Wir rüsten einen Sonderzug
Nach Erden: nämlich mit dem Wolkenschiff im Flug.
Dann kommen wir den andern vor, so daß ich ahne,
Das Fett der Erde abzuschöpfen und die Sahne.
Achtzig Gefährten, die ich selber mir erkoren,
Warten abseits im Holz, zum Beutezug verschworen.
Du kennst die meisten. Stramme Jägerinnen zwei:
Kallisto und Dromaia hab ich auch dabei.
Ich bin der Fürst, ich bin es, der die Beute teilt.
Soviel wie mir, soviel auch dir. Rasch jetzt! Es eilt.»
Hoch hüpfend schnalzte Harpalyke: «O Genuß!»
Und zu den Raubkumpanen stürmten sie im Schuß.
«Vorwärts!» «Hurra!» Erst ging es diebesduck im Walde,
Dann gleich dem Wildbach stürzend durch die Uferhalde.

Ein hölzern Häuslein, klein, doch schmuck in seiner Art,
Dem Aiolos, dem wackern Wind- und Wolkenwart,
Gehörig, klebt am Abgrund, welcher bolzgerade
Kopfüber fällt vom felsigen Olympgestade.
Von Blumenstöcklein lustig, kinderübervoll,
Und alle Stuben sind von närrischem Lärmen toll,
Da wird getanzt, geharft, georgelt und gepfiffen,
Nach eines Kunst und nach des anderen Begriffen,
Indes die meiste Zeit in einer nahen Grotte
Die Nebelknechte schmausen mit dem Wolkengotte.

Nach diesem Häuslein sauste der verwegne Trupp.
«He, Aiolos, du Fauler! Heissa, hoppla, hupp!
Die Winde angezäumt! Das Wolkenschiff gerüstet!»
«Wozu? Wohin?» «Erdwärts.» «Warum?» «Weils uns gelüstet.»
Murrend bequemt er endlich sich zur Wetterhöhle,
Von wo ein wüstes ohrenwidriges Gegröle
Den Meister grüßte. Schauerliche Raubtiertöne
Von heiserm Heulen, Fauchen, hustendem Gcstöhne.
Doch zärtlich mahnend, mit verliebter Stimme wehrte
Der Windgebieter seiner ungebärdigen Herde:
«Ruhig, ihr Kälblein! Sachte, sachte, meine Tauben!
Biswind, beschweig dich! lobä! Föhn, was soll das Schnauben?»
Und während an der Tür die stürmischen Gewitter
Aufsprangen, ihre Tatzen hauend durch das Gitter,
Schwang er die dreigeschwänzte Geißel, hob sie hoch
Und öffnete das Tor ein wenig. Durch das Loch
Die Schmitze zwickend, dann geschwind den Leib nachdrängend
Und jeden einzeln durch den Spalt des Ausgangs zwängend
Mit Zuspruch und Gewalt. Die Fliehenden empfing
Der treuen Flügelhundemeute Doppelring,
Der sie geschickt trotz ihrem Rasen allerwegen
Dem Schiffsgestad und Wolkenwagen trieb entgegen.
Und als das Räuberfahrzeug richtig angespannt
Und reisefertig war, vollzählig auch bemannt,
Mit Speisen, kriegerischen Waffen, Jagdgeschossen
Beladen, klugen Hunden, schnellen Flügelrossen,
Samt einem Wagenpark mit Kisten, Stricken, Schnüren,
Lebwar und andre Beute abends heimzuführen:
«Fertig!» Da horch, hihi, ein Flennen aus der Stube.
«Ach Zephyros!» schalt Aiolos, «der dumme Bube!
Der meint natürlich wieder heut, bei jedem Ritt,
Der unvernünftige näsige Nichtsnutz, müss er mit.»
Alekto bat, die Mutter: «Ei, so nimm ihn doch!
Er schadet niemand. Und wer weiß, er hilft dir noch.»
«So nimm», erlaubte Boreas, «so nimm den Rangen.»
Und gnädig ward der Freudestrahlende empfangen.

«Jetzt aber auf die Bänke! Huida! Hupp! Nehmt Platz!»
Hops flog die Kumpanei herein mit Schwung und Satz.
Dann Abschiedsjauchzen hin und her mit Tücherschwenken.
«Kommt glücklich heim!» «Ich hoffs.» «Mit Schätzen und Geschenken!«
«Kann sein.» Und rauschend wetterte, fahr wohl! im Saus
Das Wolkenungeheuer in den Raum hinaus.
Die aufgeregten Wind- und Wolkenrosse zogen
Im Sturmgalopp, daß Locken und Gewänder flogen
Und öfters einer, willenlos vom Ruck geprellt,
Ward lachend auf des Nachbarn Hals und Schoß geschnellt.
Und alles schwankte, jeder hielt und stützte sich.
«Nicht also», kreischt ein Schrei, «nicht so unsinniglich!
Langsamer! Hört ihr?» Doch die Geißel jetzt entriß
Fürst Boreas dem Aiolos vor Ärgernis:
«Mauskopf! Verdroßner! Allzeit mürrisch und verschlafen!
Meinst du, mit Schnecken woll ich fahren oder Schafen?»
Und klatsch! versetzt er einen Doppelpeitschenstreich
Dem Nordwind und dem Biswind um den Bauch zugleich.
Hei, wie die Flüchtigen angstvoll winselten und schnoben,
Die heftigen Füße schleuderten, die Mäuler hoben!
Vor Schrecken jug das Fahrzeug heulend in die Höh.
Der Nordwind schlug die Trommel, Flöten pfiff die Böh.
«Halt! Seht doch!» tönt ein Ausruf. «Seht dort oben, ech!
Der unverschämte Erdenfalk, gesund und frech!»
Vom Pfeilgeschwirr ward zick und zack die Luft durchquert.
«Zu hoch!» «Zu tief!» «Zu kurz!» Der Falk blieb unversehrt.
«Jetzt ich», schrie Harpalyke, «wartet! ruhig! still!
Er muß. Ich schwöre ihm, ob er nicht will, ob er will.»
Da purzelte der Falk, absausend als ein Stein,
Begrüßt, verfolgt von Harpalykes Siegesschrein.

Hallo! Jetzt in die Enge, juch! durchs Erdentor.
Die Pförtnerinnen juckten feindgesinnt hervor.
«Woher?» «Freigötter vom Olymp.» «Wie heißt das Schiff?»
«Despoina.» «Wohinaus? Was habt ihr im Begriff?»
«Wir schulden niemand Rede weder Rechenschaft.»
«Wer gab zur Fahrt euch die Befugnis?» «Mut und Kraft.»
Da schrie das Fräulein Oreithyia: «Um und kehr!»
Sprang vor und hielt die Lanze vor den Eingang quer.
«Nein, schau!» rief Boreas, «das soll der Hades walten!
Solch zipprig Nebelfräulein will Olympier halten!»
Stracks schwang er sich vom Schiffe, stach sie in die Flucht,
Trieb sie ans Ufer, jagte sie von Bucht zu Bucht,
Danach landeinwärts, berghinauf im Zickzackband
Mit Schraubenzügen um das Schneegebirg Niphant.
Oben am Gipfel schrie sie: «Gnade!» «Allsofort!»
Und trug die Zappelnde, gilts Biß, gilts Kuß, an Bord.
Da floh das Nebelvolk in kreischendem Gemenge:
«Hilf, hilf!» Die Sieger aber jauchzten durch die Enge.

Emporion heißt im Erdenland ein Bergesriff.
Da hielt und warf die Anker aus das Götterschiff.
Und als dem Schiff mit Roß und Troß die Räuberschar
Entstiegen und das Kriegsgerät entladen war
Und auf der Bergeswiese, ordentlich gereiht,
Die ungeduldigen Pferde stampften, sprungbereit,
Und jedermann, mit Murren meist und ungern bloß,
Den Renner angenommen, den das blinde Los
Ihm zugesprochen, Harpalykes Hand die Stute
Tisiphone empfangend, heiß, doch zahm von Mute,
Und Boreas den starken Phlogistos, den Hengst,
Des Laufkraft alle andern übervorteilt längst:
«Hussa! Ans Werk!» schrie Boreas, «die Zeit ist kurz.»
Und abwärts stobs wie Steinschlag im Lawinensturz.
Fürst Boreas voran, die Wolkengeißel schwingend,
Mit Harpalyke neben sich, durchs Hifthorn singend.
«Verteilt euch», lärmt er, «trennt euch doch! Zum Hades hin!
Alle zugleich nach einer Richtung – hat das Sinn?
Die bravste Geiß, gemelkt an einer einzigen Zitze
Von hundert Händen, gibt dir eine magre Gitze.
Die Welt ist rund, von allen Seiten winkt Erlaub.
Die Männer in die Weiler auf den Jungfernraub,
Und was sonst Leckres lockt: 's ist unser ungefragt.
Die Jägerinnen in den Wald, das Wild gejagt.
Daß niemand euch entschlüpfe, peitsch ich jeden Schnauf
Vorn mit der Geißel aus den Mäuselöchern auf.»
Gehört, gehorcht. Ein gellend Kriegsgeschrei: und fort
Sauste die Mannschaft in die Weiler hier und dort.
Von Tränen ungerührt, für Recht und Sitte taub,
Betrieben sie mit roher Faust den Jungfernraub,
Auch andern Speck – weswegen hätten sies gesollt? –
Drum nicht verschmähend: sie begriffen Gut und Gold.

Die Jägerinnen aber mit den Hunden allen
Beflissen sich, des Waldes Wildfleisch anzufallen.
Halli! im dunklen Busch welch lustiges Geläute!
In Haufen floh das Vieh, in Herden vor der Meute.
Umsonst. Denn stets begleitet ihre Wanderschaft
Der schrecklichen Dromaia Mörderleidenschaft,
Die, hochausgreifend, mit geschwinden Sprüngen zäh
An ihrer Seite federte, und wen sie je
Zum Ziele sich erkoren, nimmermehr vergaß,
Eh ihm der Lanzenbiß im Schulterblatte fraß
Oder der flinke Jagdger zittert im Gekröse.
Da horch! Von wuchtigem Großtier polterndes Getöse.
«Man hat ja», schnob der Auerochs, «nicht Ruhe mehr!»
Der Wolf flog an, das Elen trampte hinterher,
Und störrisch widersprach des Ebers grunzend Knurren.
«Ei hört doch», rief Kallisto, «hört mir doch das Murren!
Ich will euch, wart, olympische Götterkunde lehren!»
Gesagt, und überfiel im Hui den nächsten Bären,
Rittlings auf seinen Rücken; riß den Bogen vor,
Schlug ihn dem Zottling ums Geschnäuz, die Faust ums Ohr.»
«Schaut her», frohlockte sie, «ihr Brüder, Schwestern wert,»
Welch seltnen Reitgaul ich besitzen mag zum Pferd.»
Der Bär, der solcherlei Behandlung nie erfuhr,
Fiel grölend auf das Elen, dieses auf den Ur.
Ob diesem Anblick raste, sinnlos aufgestürmt,
Das Wildzeug vor sich, eins aufs andere getürmt.
Der Luchs geriet dem Wolf, der Wolf dem Hirsch zum Träger.
Wer wird nun eigentlich gejagt? Und wer ist Jäger?
Da bauzte Hundebiß, da zischten Speer und Pfeile,
Und toller wälzte sich des garstigen Knäuels Eile.

Zu Harpalykes Jauchzersang und Hifthornklang
Behielt indes die Geißel Boreas im Schwang.
So oft die Luft durchschnitt des Zwickes Pfeifensausen,
Verneigte bücklings sich der Wald mit hohlem Brausen.
Gischtschäumend brandete der See, der Ströme Lauf
Vor feiger Angst kroch halskopfüber talhinauf.
Kreischend Gevögel in den winddurchwühlten Lüften
Schoß heimatlos umher, verscheucht aus allen Schlüften.
«Sag!» meinte Boreas, «gib deine Meinung kund:
Entdeckst du, sag mir, irgendeinen Gegengrund –
Vorausgesetzt, versteht sich, daß dirs nicht mißfällt –
Die Erde aufzupeitschen bis ans End der Welt?
Um Neues aufzuspüren, muß man sich entfernen.
Ich möchte gern den Schwanz der Erde kennen lernen.
Willst du bis an den Schwanz der Erde? Rede frei.»
«Eja! ich sehe keinen Gegengrund dabei.»
Schön, wie nunmehr die Renner über Ried und Rasen
Gleich Vögeln flogen, pustend mit gesenkten Nasen!
So fährt der Sauberwind, der vor der Sonne schwebt.
Kaum daß das Halmfeld sich bewegt, der Boden bebt,
Wenn die beflüggten Hufe leicht das Erdreich drücken.
«Wohl mir!» sprach Boreas. Sie rief: «Ich laß mirs glücken.»
Doch da mit Phlogistos' gestählter Sehnenstrenge
Tisiphone nicht eifern mochte auf die Länge:
«Soll ich», geruhte Boreas, «gelinder fahren?»
«Nicht so! Merk auf! Ein Kunststück wirst du gleich gewahren!»
Gesagt, sprang ab und schenkelte zu Fuß im Saus
Immer der Stute nebenher und oft voraus.
Wenn als die Stute sie erreichte, gab sie sanft
Der Herrin eine Mahnung mit des Maules Ranft.
Wenn als ein Graben oder eine Hecke kam,
So hing sich Harpalyke an die Mähne, nahm
Den Schweif als Hebel. Eins, zwei, drei! ein Schwung: und hiß!
Hopsa! so flog sie über jedes Hindernis.
Also erheitert und des Mehrgewichts entlastet,
Genas Tisiphone, gekräftigt als gerastet.
Nun setzte Harpalyke sich gemächlich auf,
Und mit verjüngter Schnelligkeit geriet der Lauf.

«Obacht! der Boden, Harpalyke, hier ist hohl!
Und was bedeuten, meinst du, all die Gruben wohl?
Mit deinen scharfen Habichtaugen, gelb und grau,
Spring doch einmal geschwind vom Pferd und geh und schau,
Ob nicht in dieser Maulwurfsfestung etwas heckt,
Kein Volk, kein Vogel oder Frosch darinnen steckt.»
Mit eins schwang Harpalyke sich vom Pferd, begab
Sich emsig kletternd vor das nächste Höhlengrab,
Und als sie dort ein Weilchen, auf die Knie geduckt,
Mit feinem Ohr gehorcht, mit klugem Aug geguckt:
«Ich seh etwas, weiß nicht, von welcher Gattung Leute;
Ich melde, was ich sehe, rate du und deute:
Ich seh ein Volk auf ausgehockten Schemeln hocken,
Gewohnheit säugen und vor jedem Lichtstrahl bocken.»
Rief Boreas: «Dem Hock, dem muß man Beine schlagen!
Die will ich mit der Geißel von den Schemeln jagen!»
Drauf kniete Harpalyke vor ein ander Loch
Und sah hinein. Sprach Boreas: «Was siehst du noch?»
«Ich sehe Brauch und Sitte Überliefrung lutschen,
Vor tausendjährigem Unsinn Ehrerbietung rutschen.»
«Zum Hades», überschäumt er, «mit den Sittenbräuchlern!
Die Geißel ums Gerutsch den ehrerbietigen Heuchlern!»
Drauf kniete Harpalyke vor ein ander Loch
Und sah hinein. «Eja, was siehst du, rede, noch?»
«Ich seh verdroßnen Mißmut Langeweile gähnen,
Doch keines rührt sich. Die bemühn sich nicht zu jenen.»
«Der Langenweile», schnob er, «muß den Steiß man stupfen,
Zickzick! den Mißmut lehr ich übers Springseil hupfen.»
Drauf kniete Harpalyke wieder vor ein Loch
Und sah hinein. «Was siehst du, rede, ferner noch?»
«Ich seh ein Ungeziefer überlegen grinsen,
Dem Quell, der Kraft, dem Glauben Hohngelächter zinsen.»
«Das Grinsen», knirschte Boreas, «ist Krötenstil.
Die Überlegenheit begehrt den Peitschenstiel.»
Vor manches andre Troglodytenhöhlenloch
Begab sich Harpalyke dienstgefällig noch.
Doch sprach: «Es ist ein buntes, wüstes Einerlei:
Es fault und rührt sich nicht und ist kein Trieb dabei.»
«Was gilts?» rief Boreas, «den Faulberg werd ich kehren.
Wart nur, ihr Lungerer, ich will euch leben lehren.
Ergreif dein klares Hifthorn, diesen Troglodyten
Die Tagfanfare in ihr dumpfes Haus zu tüten,
Daß sie der Angstschreck an die blaue Luft bewege
Und meine mutige Geißel ihnen Tatgeist fege.
Wie? Sterbliche, die nach Unsterblichkeit sich sehnen,
Und finden zwischen Grab und Wiege Zeit zum Gähnen!»
Und als nun herdenweise, gleich Myriaden Mäusen,
Die Troglodyten juckten aus den Erdgehäusen
Und männiglich mit Tugendkrächzen und Sittio
Vor der beherzten, kraftbeschwingten Geißel floh,
Sprach Boreas zufrieden: «Wenig, ob du maulst:
Sag Dank, du rührst dich doch, du lebst, bevor du faulst.»

Dann lief die Rennfahrt weiter, wie das Glück gelang,
Mit Jubeljauchzen, Hifthornruf und Peitschenklang,
Ohne Verzug und Rast und ohne Wank und Wende,
Bis sie gelangten zu der Erde Schwanz und Ende,
In eine wirre Wildnis, wo Gesteingewalt
Den nimmermüden Reitern trotzt ein stummes Halt.
Jenseits der Wildnis lag die Wüste Aorist,
Die niemand nütz und not, dafür unendlich ist.
Erhabne Stille um und um, und Schweigen rings.
Und siehe, in der Wüste lagerte die Sphinx,
Die unerforschliche, die tiefe Göttin Ma.
Geheimnisvoll im Schleierbette lag sie da.
Doch welch ein Rätsel! In den eignen Hinterhuf
Biß immerfort die Sphinx mit düsterm Weheruf.
Und seufzte himmelan und stöhnt in einem zu:
«Wer gibt, wer gibt mir vor den bösen Zähnen Ruh?»
«Was stöhnst und wimmerst du und nagst an deinem Bein?»
Rief Boreas verwundert, «laß es einfach sein!»
Von diesem Lästerwort im Innersten verletzt,
Blökte mit feierlichem Ton das Rätsel jetzt,
Und alle seine Borsten, seine Läus und Flöhe
Empörten sich und starrten strafend in die Höhe.
Andächtig aber nahte sich mit würdigem Schritt
Und mahnte mit dem Blick ein greiser Eremit:
«Bet an das Schöpfungswunder, dessen Sinn vergebens,
Erschaffner Geist, du spürst die Tage deines Lebens.
Sieh dort von tausend Philosophen die Gerippe:
Es hat der Denkerhäupter weise Stirn und Lippe
Doch niemals noch, wieviel Systeme sie geschweißt,
Erklärt, warum die tiefe Ma sich selber beißt.»
Rief Boreas: «Ich weiß, warum: Sag ‹di›, sag ‹dumm›.
Mir graut. Kehr um, o Harpalyke, komm, kehr um!»

Und als nun mehr und mehr die müde Sonne sank
Und trüppchenweise auf Emporions Bergesbank
Die Schar der beuteschwerbeladenen Kumpanen
Sich sammelte, von Harpalykes Hifthornmahnen
Bestellt, und Boreas die Zahl der Seinen zählte
Und jeder seinen Namen sprach und keiner fehlte,
Geschah ein großer Räubermarkt und Handelskram.
Weil aber keiner lassen wollt und jeder nahm,
Entstand vor allzufettem Überfluß der Neid.
Und aus der rücksichtslosen Selbstsucht sprang der Streit.
«Das Ganze mein», schrie Boreas, «die Bleibsel dein!
Wems nicht gefällt, dem peitsch ichs mit der Geißel ein.»
«Ich bin die Fürstin», herrschte Harpalyke, «hier.
Hand weg! Mund weg! Das Beste mir, die Reste dir.»
Da rief Kallisto: «Freunde, pfuida! Neid schafft Leid.
Komm, Zephyros, der Zufall spreche den Entscheid.»
Beifall. Und Zephyros empfangend, setzte sie
Sich ab, klemmt ihm die Wangen zwischen Knie und Knie,
Zaust ihn im Haar und zupft ihn tüchtig an den Ohren:
«Für wen, du Schlingel, hast du jenes Pfand erkoren,
Das Boreas jetzt hinter deinen Rücken führt
– Still! blinzle nicht! – und mit dem Peitschenstock berührt?»
Und als nun Zephyros, mit Mühe hörbar bloß,
Erstickte Namen munkelt in Kallistos Schoß,
Versöhnte sich der zornige Hader im Gelächter,
Und jeder nahm, was kam; wars gut nicht, um so schlechter.

Drauf war das Schiff geladen zur olympischen Fahrt.
Doch jammernd um Emporions Felsenfuß geschart,
Wehklagte der verwaisten Eltern flehend Greinen,
Und die gefangnen Töchter stimmten zu mit Weinen.
So, wenn in Menschenlanden Hochzeit wird gefestet
Und saftige Schaf und Zicklein, feist zum Tod gemästet,
Meckern erbärmlich, bebend vor des Schlächters Grimme,
Doch ihres angsterfüllten Herzens Klagestimme
Erzielt nicht Grauen, sondern Schmunzeln bei den Leuten,
Weil sie den Tonfall auf den leckern Festschmaus deuten.
«Ihr schrecklichen Olympier, kennt ihr kein Erbarmen?
Die Jungfraun, Gnade, gebt zurück den Mutterarmen.»
Laut lachte Boreas: «Ich nehms vom andern Pol:
Nicht was euch wehtut, frag ich, sondern was mir wohl.
Indes sie werden sich mit ihrem Los versöhnen.
Getrost, man kann sich an die Seligkeit gewöhnen.
Fort jetzt! – Du, Aiolos, spiel auf! und geig und harf
Mit deinen Nebelknechten! Aber fest und scharf!
Wir wollen aller Welt zum Trotz und Gott und Geiern
Im Wolkenschiffe auf dem Heimweg Hochzeit feiern.»
Er sprach das Wort, dem Beifallstosen dröhnend dankte.
Und das beladne Wolkenungeheuer schwankte
Vom Erdgebirg empor heimwärts mit schwerem Steigen,
Durchlärmt, durchtanzt von Hochzeitsjubel, Pfeifengeigen
Und Lustgeschrei, vermischt mit schallenden Gesängen.
Doch als sie nachmals schwenkten durch die Felsenengen
Zwischen Olymp und Erde, ward im Luftgefecht
Der Oreithyia Raub mit bitterm Krieg gerächt.
Denn ihre Sippschaft hinderte den Weg mit Macht.
Und um die Eingangspforte wütete die Schlacht.
Da ward von Wetterwolken, himmelhochgetürmt,
Der Donner losgeschossen und das Schiff gestürmt.

Doch Oreithyia winkte: «Brüder, gebt Erlaub!
Oft sprießt ein frommes Recht empor aus schnödem Raub.
Wer ist das Opfer? Ich bins. Das Gericht ist mein.
Drum wenn ich selbst vergebe, müßt auch ihr verzeihn.
Denn siehe, seit der Wilde zärtlich mich geminnt,
Bin ich dem ungestümen Helden wohlgesinnt.
Gern mag um Boreas ich Hof und Heimat meiden,
Denn Freundschaft waltet nun und Eintracht zwischen beiden.»
So sprach das Fräulein. Friedlich lenkte durch den Paß
Jetzt zum olympischen Gestade Boreas.
Nun donnerndes Geschrei zum Gruß und Gegengruß,
Und auf die heimatliche Küste trat der Fuß.
«Ins Glied! Achtung! Vorwärts!» Im Stampf mit Sturmgesang
Eroberte die Kumpanei den Haldenhang.

Und als am Abend Schar um Schar und Zug um Zug
Die Götter heimwärts mündeten vom Erdenflug,
Da hielten sie dieselbe Nacht nach diesem Tage
Im Hain Orgieion ein unendliches Gelage,
Die Glieder auszuruhn, die Geister aufzufrischen
Im Freien, auf den langen Bänken vor den Tischen,
Scherzhafte Reden stichelnd, liebe Torheit plauschend
Und des entschwundnen Tages Abenteuer tauschend,
Samt Musensang, Mainadentanz und Minnespiel.
Und jeder tat, was ihm beliebt und wohlgefiel.
Doch welcher Freudesturm und Volkszusammenlauf
Bewegt sich vom Gestade her den Rain bergauf?
Und siehe da – «Willkommen! Gruß dir!» – Aiolos
Trollte daher mit Kind, Gesind und Vetterntroß,
Die ganze weltberühmte tönekundige Bande.
Und jeder hielt ein Spielzeug unter dem Gewande:
Baßgeigen, Fiedeln, Pfeifen, Hörner und Trompeten –
Ein ganzer Möbelwald von lustgen Lärmgeräten.
Und als nun Aiolos den Finger hob empor,
Erscholl von dem gesamten Tausendgötterchor
In scharfen Schwüngen, laut und fest, tonauf, tonab
Ein Schrittgesang mit Händeklapp und Fußgetrapp,
Daß das Gespenst im Walde sich entsetzt beschwörte,
Daß mans auf Erden, in des Hades Tiefen hörte.
Und staunend starrte Mensch und Tier, gebannt zur Stelle:
«Wie läuft der Schrittgesang der lustigen Götter schnelle!»
Bis unversehns mit spöttisch lächelndem Gesicht
Vom Himmel sah das heiterhelle Morgenlicht.
Darob Geschrei und Aufruhr: «Weh! wo ist mein Schlaf?»
Doch als die Sonne selbst die durstigen Augen traf:
«Sprich, bist du müde?» «Ich nicht. Aber du? Bekenn!»
«Ich auch nicht.» «Kommt nach Erden, auf die Reise denn!»
«Hallo!» Und gleich wie gestern stob weitaus der Zug.
Jene zu Fuß und Wagen, die im Wolkenflug.


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