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XL.
Vereinigung

Schmerz adelt! Jawohl. Der Schlag war scharf, aber die Folge ein gewaltiger Antrieb. Und gerade das brauchte Lukas. Alle großen Seelen bewähren sich im Leid; und Lukas war eine große Seele, wenn er es auch selbst nicht wußte; wenn er auch sein ganzes Leben bestrebt gewesen war, seine erhabenen Regungen zu unterdrücken und sie auf dem modernen Altare der Gewöhnlichkeit und Achtbarkeit zu opfern. Die Umstände, oder vielmehr die Vorsehung, hatten ihm Leiden und sogar Schande gebracht, und er jubelte darüber. Denn wenn es auch eine Glorie im Gefängnisse gibt und einen Sonnenblick auf dem Schafott, so schließt doch schon der bloße Gedanke persönlicher Beschränkung und das Gefühl des Verlustes der Freiheit, des höchsten menschlichen Gutes, eine tiefe Demütigung in sich. Dann aber kommt die Reaktion und das Gefühl der Freude; und der scharfe Griff des Schmerzes übt eine belebende Kraft auf Seele und Nerven aus, die der Egoismus noch nicht ganz in seinen Bann gezogen hat.

Dann fand Lukas auch, daß er ein Gegenstand ehrlicher Sorge für alle um ihn herum war. Der Arzt schickte ihn sofort ins Krankenzimmer. Seine rechte Hand war fürchterlich angeschwollen, und erst nach mehreren Wochen ließen die gefährlichen Symptome nach.

»Wenn die Hand noch einmal verletzt wird,« erklärte der Arzt, »stehe ich für sein Leben nicht ein.«

Das waren Tage der Niedergedrücktheit für Lukas – oder Augenblicke der Niedergedrücktheit in Stunden tiefen Nachdenkens. Da er vollkommen sich selbst überlassen war, übersann sein Geist einzeln die Vorgänge seines Lebens. Da hatte er sich nur wenig vorzuwerfen. Und doch war er nicht befriedigt. Er dachte an Barbara Wilson, die ihm vor zehn Jahren im »Schweizerhof« als das Symbol des Leidens und des Heroismus der irischen Rasse erschienen war; und der Eindruck von damals war noch verdoppelt und verstärkt durch alles, was er jetzt von ihrer jahrelangen Entsagung und Selbstverleugnung gehört und gesehen hatte. Und seine Gedanken spannen von diesem hehren Symbol zum Symbolisierten weiter; und die seltsamen Aussprüche so vieler Priester über Irland fielen ihm wieder ein.

»Was wären die Juden, wenn sie Christus nicht verworfen hätten?«

»Wir müssen uns unsere eigene Zivilisation schaffen, wir dürfen nicht die anderer Länder borgen.«

»Wir sind die Lehrer der Welt, nicht die Schüler ihrer Gewöhnlichkeit und Selbstsucht.«

Eines Nachts in den ersten Wochen seiner Haft lag Lukas wach und warf sich schmerzzerwühlt von einer Seite auf die andere. Sein Geist war ungewöhnlich tätig, und der plötzliche Gedanke erfaßte ihn, eine visionäre Zukunft seines Landes zu skizzieren, die auf sein Ideal der Einfachheit und Selbstverleugnung aufgebaut wäre. Wie diese Ideen immer mehr Gestaltung gewannen und er sich seinen christlichen Musterstaat weiter ausbaute, vergaß er ganz seiner Qual und verfiel gegen Morgen in Schlaf. Der Arzt fand seine Temperatur bedeutend gestiegen, als er ihn des Morgens besuchte; trotzdem konstatierte er eine Besserung in seinem Befinden.

»Herr Doktor, ich vermisse etwas schmerzlich. Kann ich es haben?« fragte Lukas.

»Gewiß! Was ist es denn?«

»Federn, Tinte und Schreibpapier.«

»Noch nicht,« gab der Arzt zurück. »Oder haben Sie gelernt, mit Ihren Zehen zu schreiben?«

Das war auch besser, denn Lukas hatte so Zeit, recht nachzudenken und seine Gedanken besser zu entwickeln, bevor er sie dem Papier anvertraute.

Dann fanden der Schmerz und das Opfer Lukas' ihre sofortige Belohnung. Seine Entlassung aus dem Gefängnisse ging in aller Stille vor sich; es gab keine Ovation. Er war ja eine politische Null. Selbst in Roßmore erhielt er keinen feierlichen Empfang. Man fühlte, daß er über solche Dinge erhaben war. Aber während seines Aufenthaltes im Gefängnisse war jede Art von Güte und Aufmerksamkeit an seinen Vater, seine Schwester und deren Kinder, die seine Gäste in seinem kleinen Heim geworden waren, liebreich verschwendet worden. Und dasselbe stille, sanfte Mitgefühl empfing ihn auch, als er zurückkehrte. Mary weinte herzbrechend und küßte leidenschaftlich seine Hände; und als sie sah, wie das Leiden ihn hager und sein Gesicht bleich gemacht hatte, da weinte sie noch mehr.

Alle möglichen Fragen, die von Besorgnis und Mitgefühl zeugten, richteten diese braven, mitleidigen Leute an ihn; jede Art von sanfter, unaufdringlicher Güte bewiesen sie ihm. Sie konnten sich zwar diesem ernsten, schweigsamen Mann gegenüber nicht zuviel herausnehmen; sie gaben aber ihre stille Liebe und Bewunderung in hundert verschiedenen Arten zu verstehen. Es ging in ökonomischer Beziehung doch manchmal knapp bei ihm her. Will McNamara war nach Amerika gegangen; aber der Vater, Lizzie und die Kinder waren noch da. Und Kinder brauchen auch Brot und Kleider. Die Natur gebietet so, und der Mensch muß ihren Willen erfüllen.

Eines Tages spazierte Lukas in seiner stillen, verträumten Art die Dorfstraße hinab, als er sich etwas herausfordernd angerufen hörte:

»Was ist denn mit meinem Fleisch los, Hochwürden?«

Er wandte sich um und stand dem Dorfmetzger Joe Morissey gegenüber. Joe schien erzürnt zu sein. Zwischen dem Kaplan und Joe hatte lange ein bedenklicher Mangel an Sympathie obgewaltet. Denn Joe war ein Nationalist und ein extremer dazu. Er war 1867 dabei gewesen; er hatte die Telegraphendrähte zwischen dem Eisenbahnknotenpunkt und Limerick durchschnitten; er war einer der letzten gewesen, die von dem jungen Iren ließen, der in den Wäldern bei Shrahaola tapfer sein Blut für sein Heimatland vergoß. Und er hatte es als ausgemacht betrachtet, daß der abgeschliffene, gutgekleidete junge Priester, der immer die Tugenden der Angelsachsen predigte –, ihre Sparsamkeit, Pünktlichkeit usw., und infolgedessen die Mängel seiner Landsleute übertrieb –, kein Nationalist oder Patriot sein könne. Seine Ansichten hatten sich jedoch nach der Predigt von Cremona etwas geändert und waren nach der Austreibungsszene und der darauffolgenden Ritterschaft des Gefängnisses total andere geworden.

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Morissey,« sagte Lukas bescheiden, denn die Erfahrungen des Lebens hatten ihn jetzt sehr demütig gemacht.

»Ich will wissen, Hochwürden,« sagte Joe und schlug mit seinem flachen Fleischmesser auf die Innenfläche seiner Hand, »was mit meinem Fleisch los ist, daß Sie es so verachten?«

»Ich kann Sie versichern, Mr. Morissey,« erwiderte Lukas ganz verlegen, »daß ich mir gar nicht bewußt bin, etwas Nachteiliges gesagt zu haben –«

»Schauen Sie nur das Fleisch an!« rief Joe, ohne Lukas' Worte zu beachten, und schlug mit dem Messer auf die Stücke, die im offenen Fenster hingen. »Gibt's in der ganzen Grafschaft Limerick noch so etwas? Wie ist das mager, rot und saftig! Und das da fett, weiß und köstlich! Und was kann ein armer Mann tun, wenn seine Geistlichen und die Häupter seiner Kirche –«

»Seien Sie ihm nicht böse, Hochwürden,« fiel Mrs. Morissey ein, die eben herausgekommen war und sich mit der Schürze die Tränen abwischte, die ihr über das Gesicht gelaufen waren, »er meint es ganz anders, Hochwürden –«

»Willst du deinen Mund halten, Weib?« brummte Joe ärgerlich. »Kannst du mich nicht ausreden lassen, wenn ein Herr in den Laden kommt? Ich sage Ihnen, Hochwürden, es ist eine Schande, daß unsere Geistlichen ihren anständigen Pfarrkindern den Rücken kehren und sich ihr Fleisch von Limerick und anderswoher kommen lassen, statt –«

»Hören Sie nicht auf ihn, Hochwürden,« fiel Mrs. Morissey, die immer noch weinte, dazwischen. »Er will ja nur sagen, daß jeden Samstag in Zukunft ein Schlegel- und Lendenbraten zu Ihnen hinunterwandern wird; und gelegentlich können Sie uns bezahlen. Und wenn Sie uns nie bezahlen, dann ist's auch recht.«

Joe war in seiner Entrüstung mitten auf die Straße gelaufen und schaute sehr entschlossen den Weg hinauf und hinunter. Lukas folgte ihm und wollte ihm eben seine tiefe Dankbarkeit ausdrücken, als ihn Joe unterbrach:

»Ich möchte Sie noch um eine Gunst bitten, Hochwürden,« sagte er.

»Bitte, reden Sie! Ich will sie Ihnen gern gewähren, wenn ich kann,« erwiderte Lukas erstaunt.

»O gewiß können Sie das,« sagte Joe heiter. »Als ich erst so hoch war,« fuhr er fort, bückte sich nieder und streckte seine offene Hand sechs Zoll hoch über dem Boden aus, »hat mich kein Mensch anders als Joe genannt. Mein Vater rief mich Joe; meine Mutter rief mich Joe; meine Geschwister riefen mich Joe; der Schulmeister rief mich Joe, wenn er mich gerade keinen ›verdammten Schlingel‹ schimpfte. Und als ich groß wurde und heiratete, da nannte mein Weib mich wieder Joe; und als Gott mir Kinder schenkte, eins nach dem andern, bei Gott! da riefen sie mich nie anders als Joe. Der Jüngste in der Wiege kennt mich so gut wie Ew. Hochwürden; und bei Gott! er sagt zu mir nie ›Papa‹, sondern ›Joe‹! Und wenn ich aufrichtig sein soll, Hochwürden, so weiß ich nie, zu wem Sie sprechen, wenn Sie Mr. Morissey sagen. Würde es Ew. Hochwürden etwas ausmachen, wenn Sie zu mir Joe sagten, wie alle Nachbarn?«

»Gewiß nichts, Mr. – Joe,« erwiderte Lukas tief gerührt und streckte dem Manne seine Hand hin. »Gott segne Sie!«

»Sie ist zwar schmutzig,« meinte Joe, und rieb seine Hand rasch an seinen Hosen ab, »aber sie gehört einem ehrlichen Mann.«

Und Joe empfing die Belohnung für seine Großmut. Sie kam schnell und in ihrer anziehendsten Form. Das will sagen, der kleine Vorfall gab ihm Gelegenheit – die liebste, die einem Iren in dieser Welt begegnen kann – einen guten Witz zu machen. Und als er diesen Abend vor seinem offenen Fenster saß und seine Pfeife anzündete, war er ein glücklicher Mann.

»Bei Gott,« sagte er zu einer Gruppe, die seinen Laden stets umlagerte, »das ist die beste Geschichte, die mir seit langem passierte. ›Achtet auf die Pennys,‹ sagt er; ›und die Pfund Sterling kommen dann von selber.‹ Ha! ha! ha! ›Seht euch für Regentage vor,‹ sagte er, ›und macht Heu, solange die Sonne scheint.‹ Ha! ha! ha! ha! Der arme Mann kam zu einem schlechten Schulmeister, als er sich selber zu belehren begann. Er hat keinen roten Heller für sich übrig.«

»Wie sollte er auch?« warf einer der Umstehenden ein, »wenn er das dem und jenes einem andern schenkt? Meiner Treu, das könnte die Bank von England nicht aushalten.«

»Aber so laß dir doch sagen, guter Mann,« erwiderte Joe Morissey und nahm die Pfeife aus dem Mund, »das ist ja alles recht und gut, und ich bin der letzte, der ihn darob tadelt. Aber was brauchte er uns immer vom Sparen zu predigen, wenn er es selbst nicht tat? Und was von Sitte und Art der Engländer, wenn er selber ein irisches Herz in der Brust trägt, mag er es auch noch so verbergen? Das ist es, was mich ärgert. Der alte Spruch ist gewiß wahr – tut, was die Priester euch sagen; aber handelt nicht nach ihren Taten!«

So brandete die öffentliche Meinung in diesen Tagen einer harten Prüfung um Lukas.

Lizzie und ihre Kleinen aber mußten jetzt Roßmore und Irland verlassen. Der wackere, kräftige junge Bauer hatte Arbeit in den Docks von New York erhalten und seinen Angehörigen das Ueberfahrtsgeld geschickt. Und mit brechenden Herzen auf beiden Seiten schieden sie von allem, was ihnen teuer auf Erden war, und vertauschten die frische, reine Seeluft, die rauschenden Winde, Freiheit und Glück und die süße Heimat, für eine Mansarde in einem großstädtischen Mietshause und das Fiebern und Mühen eines neuen Lebens. Ach! wird es denn nie aufhören, das traurige Verpflanzen von Existenzen, die nur für den stillen, heiligen Frieden ländlicher Verhältnisse geschaffen waren, in ungewohnte und schädliche Umgebungen? Und eines Tages beugte der alte Mike Delmege, dem die Sehnsucht nach seinen Enkelkindern das Herz brach, sein müdes Haupt und ward zu seinen Vätern versammelt.

Da entstand eine große Oede in Lukas' Leben. Er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, und ohne mürrisch oder zurückhaltend zu werden, löste er sich von allem Irdischen los und strebte nach dem Göttlichen. Nur die wenigen Bande, die die Verhältnisse ihm geschaffen hatten, zogen ihn von Zeit zu Zeit aus seiner Einsamkeit heraus und schufen ihm das vollkommene Gleichgewicht zwischen Gott und der Welt, das sonst von einem mürrischen Asketentum oder einem zu großen Hinneigen zur Kreatur gestört worden wäre. So unterhielt er einen beständigen, gegenseitig erbauenden Briefwechsel und Verkehr mit Vater Tracey und Vater Martin, und zuzeiten sah er sich enger mit seinem Bischof befreundet, als er je zu träumen gewagt hatte.

Und eines Tages hatte er in einer kleinen Szene im Salon des Kanonikus den glücklichen Vermittler zu spielen, was ihm eine schöne und gottgewollte Lösung des Knotens in dem kleinen Drama schien, in dem er nicht immer ein glücklicher Mitspieler gewesen.

Der gute Kanonikus hatte nach der aufregenden Szene bei der Vertreibung der Pächter einen Rückfall gehabt und war in einen Zustand äußerster Hilflosigkeit verfallen. Die eine Seite war hoffnungslos gelähmt, und er mußte sich in einem Rollstuhl von Zimmer zu Zimmer schieben lassen. Er hatte aber seine Pfarrei doch behalten, wie das in Irland so Sitte ist, wo ein alter Pfarrer, der die »Last des Tages« getragen hat, sein Amt in hartnäckiger Unabhängigkeit bis zu seinem Tode weiter führt. Und es war schön und erbaulich mitanzusehn, wie der gebrochene Riese in seine kleine Kirche gerollt wurde, wo er einen großen Teil seiner letzten Lebenstage zuzubringen pflegte. Die Kinder stritten sich jedesmal um die Ehre, ihren alten Pfarrherrn über den Kiesweg von der Kirche zurück schieben zu dürfen. Sie hatten jetzt alle Furcht vor ihm verloren, sogar der lange schneeige Bart, der ihm auf die Brust herabfiel, schreckte sie nicht mehr. Und immer noch kamen die Leute zu ihm und fragten ihn um Rat in ihren Nöten und redeten vom goldenen Zeitalter, das einst gewesen. Und so glitten seine Tage ruhig und friedlich dahin. Nur eines störte in etwas diesen ruhigen Lebensabend: das Geheimnis, das seine geliebte Nichte umgab. Ihre seltsame Geschichte hatte man ihm sorgfältig verheimlicht, bis alles zur Enthüllung reif sein würde.

Er schlummerte ruhig an einem schönen Sommernachmittag in seinem Rollstuhl, als Lukas angemeldet wurde. Lukas hatte seinen alten Pfarrer schon oft besucht, um Gedanken mit ihm auszutauschen und die Monotonie seiner Krankheit zu unterbrechen. Der Kanonikus war daher über die Anmeldung nicht überrascht, sondern tief erfreut.

»Ha, mein lieber, junger Freund,« sagte er, »Sie haben mich – hm – im Schlafe überfallen. Nehmen Sie einen Stuhl und setzen Sie sich neben mich. Ich weiß nicht, mir scheinen heute nachmittag alte Zeiten besonders lebhaft wiedergekehrt zu sein.«

Er schwieg dann eine Weile, während sein Geist den abgerissenen Faden der Vergangenheit wieder geschäftig zu knüpfen suchte. Lukas suchte seine Aufmerksamkeit dadurch abzulenken, daß er ihm seine eigenen Erfahrungen mitteilte.

»Meiner Schwester und ihrem Manne in New York geht es gut,« sagte er. »Ich habe letzthin einen Brief von ihnen erhalten, worin sie fragen, ob jemand Lisnalee gepachtet hat.«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich,« erwiderte der Kanonikus. »Lisnalee bleibt ein Denkmal, und für immer – doch wir dürfen nicht rachsüchtig sein. Aber die Ereignisse dieses – hm – schrecklichen Tages hatten wenigstens eine gute Wirkung. Das Entsetzliche ist nicht – hm – wiederholt worden; aber die Leute sind ängstlich, erschreckt, entmutigt. Sie wissen nicht, wann der böse Geist wiederkehrt.«

»Ja,« entgegnete Lukas traurig. »Das goldene Zeitalter der armen Pfarrei ist vorüber für immer. Und doch,« fuhr er heiterer werdend fort, »ist die Welt nicht ganz der Hoffnung bar, noch das Leben ein vollständig unlösbares Problem.«

»Haben Sie etwas gehört, das Ihnen – hm – Hoffnung und – hm – Freude einflößt?«

»Jawohl, ich habe etwas gehört, das mich tief berührt, und –«

»Ich hoffe, meine Vermutung hat sich erfüllt,« meinte der Kanonikus achtlos; »und Seine Lordschaft hat meinem wiederholten – hm – Drängen nachgegeben und Ihnen in Anbetracht Ihrer einzigen Verhältnisse eine Pfründe gegeben –«

»Es ist nicht gerade das, Sir,« erwiderte Lukas nervös, denn die Salontüre ging jetzt auf, so sanft, als ob nur der Sommerhauch sich hereingestohlen und sie mit leichtem Finger berührt hätte. »Es ist etwas, das, wenn Sie mir erlauben, auch Sie berührt.«

Lukas war noch niemals so nervös gewesen, nicht einmal bei seinem ersten Besuch als Student.

»Ach!« sagte der alte Mann schwach, »wenig berührt mich noch außer dem einen, das vor mir liegt – dem Tode. Ich glaubte – – vielleicht nennen Sie es – hm – harmlose Eitelkeit – der Bischof würde mir noch das Archidiakonat anbieten, ehe ich sterbe. Aber das sollte nicht sein! Das sollte nicht sein!«

»Die Diözese erwartete auch vom Bischöfe, daß er es tun würde,« entgegnete Lukas, angestrengt auf die Türe blickend, »aber der Bischof schaut mehr auf die Jungen. Trotzdem würde er unserm alten Freund, Vater Tracey, eine Auszeichnung verliehen haben, wenn dieser große Heilige etwas von diesen Dingen hätte annehmen wollen.«

»Ich bin nicht immer mit diesem vortrefflichen, aber – hm – sehr exzentrischen Geistlichen einer Meinung gewesen,« versetzte der Kanonikus, »aber ich muß sagen, er hat recht – ganz recht.«

»Worauf ich jedoch anspiele, Sir,« sagte jetzt Lukas in einer Art Verzweiflung, »das ist etwas, was Sie noch tiefer als das berührt, etwas, das der Gedanke und Traum Ihres Lebens war.«

Der alte Mann verfiel in eine Art Erstarrung; aber etwas in Lukas' Worten schien ihn wieder zu neuem Leben zu erwecken, denn er zuckte plötzlich auf und fragte in erregtem Flüstertöne: »Barbara?«

Es war die Frage, die er schon zwölf lange, lange Jahre gestellt hatte. Er fürchtete, auch jetzt wieder die ewige Antwort: Nein! zu erhalten. Und sein Gesicht flehte beredt dagegen.

»Sie wissen etwas?« sagte er dann. Und Lukas versetzte »Ja!«

»Das ist ein seltsames Zusammentreffen,« rief der Kanonikus, dessen sich eine große Aufregung bemächtigte, »daß ich eben von Barbara träumte, als Sie heute nachmittag ankamen. Ich glaube, es ist Altersschwäche oder Abnehmen der Verstandeskräfte infolge meines Zustandes; aber ich sah im Halbschlummer – meine liebe Nichte – hereintreten, gerade so, mit derselben Anmut und Würde, mit der sie früher in diesen Salon schwebte. Weh mir! Das waren glückliche Tage, aber wir wußten es nicht. Aber Sie wollten ja sagen – hm – mein lieber junger Freund, daß Sie etwas von Barbara wüßten. Da ist diese – sonderbare Täuschung – – schon wieder. Ich fürchte, mein junger Freund, mein Verstand wird schwach. Es ist eine sonderbare Täuschung, aber jetzt denke ich – natürlich, es ist nur eine Halluzination, daß da unter der Türe – o – was – mein Gott –!«

Ach ja! Diesmal war es keine Täuschung; denn eine Lichtgestalt stand da in der dunklen Umrahmung der Türe, ganz in weiß gekleidet mit Ausnahme eines dünnen blauen Streifens. Und diese Lichtgestalt zitterte am ganzen Körper unter der süßen Furcht, durch zu plötzliches Glück den gebrechlichen alten Mann zu erschrecken. Aber jetzt gab es kein weiteres Verbergen mehr, und mit einem schwachen Schrei der Freude und des Schmerzes warf sich Barbara, die jetzt in das schöne, weiße Gewand der Nonnen vom guten Hirten gekleidet war, ihrem Onkel zu Füßen und küßte unter Tränen seine zwei welken Hände. Lukas hatte seine Sache gut gemacht; er war ruhig aus dem Zimmer getreten und hatte Onkel und Nichte allein gelassen.

Er spazierte zur alten Hütte am Meeresufer hinunter, um seine alten Freunde zu besuchen, die arme Moira zu trösten, die langsam an Schwindsucht dahinsiechte, und seine Gefängniserlebnisse mit Mona, seiner Gefährtin im Martyrium, auszutauschen. Als er in den Salon zurückkam, saß Barbara immer noch zu Füßen ihres Onkels. Der alte Mann spielte eben mit verzücktem Antlitz mit ihrem weißen Skapulier und murmelte etwas, das wie Sans tache! klang.

Ach ja! Makellos und unbefleckt, und mit all der Reinheit einer feuererprobten Seele, war sie durch's Joch Christi gegangen, der ihr sein eigenes Leidensgewand umgelegt hatte. Aber seltsam –, obwohl sie jetzt der glorreichen Schar von Jungfrauen angehörte, die dem Lamme folgen, wohin es geht, und das Lied singen, das sonst niemand singen kann, so verfolgte sie doch der Gedanke, daß schließlich der Tag der Prüfung süßer war als der des Sieges, und daß es nach dem Beispiele des hl. Alexis besser oder glorreicher gewesen wäre, als verachtete Büßerin zu sterben, mit einem Gefühl des Schmerzes und der Furcht. Denn heilige Seelen, wie diese, sind ehrgeizig. Sie brauchen das Höchste und Edelste. Das Martyrium muß bis zum letzten Atemzuge währen, und sie machen sich nichts daraus, mit einem Seufzer des Schmerzes und all der Qual der Verlassenheit ihre Seele auszuhauchen. Aber auch hier galt das höchste Gesetz, der Wille Gottes. In seinen Schutz flüchtete sie sich, wenn das Bedauern über den verlorenen Adel beständigen Schmerzes sie erfaßte. Und wenn sie daher in der Seligkeit dieses Wiedersehens, das der einzige irdische Wunsch gewesen war, den die Natur von ihr verlangte, der Gedanke anwandelte: Würde es anders besser gewesen sein? oder wenn dieses Zusammentreffen mit dem geliebten Onkel erst in der Ewigkeit hätte stattfinden können? so unterdrückte sie den Gedanken als eine Versuchung und sprang wie ein Kind um das liebe, alte Pfarrhaus. Und sie zeigte ihren Mitschwestern alle Herrlichkeiten des Platzes – die Milchkammer, wo sie – wirklich – gebuttert hatte; und den Hühnerstall mit denselben alten Orpington- und Dorkinghühnern, mit denen Onkel Kanonikus so manchen Preis gewonnen hatte; und die Blumenbeete, die ach! jetzt nicht mehr so hübsch und tadellos waren wie damals, als ihre sanften Hände sie gepflegt hatten. »Und hier,« sagte sie, »stand Vater Delmege und lehnte sich auf den Kaminsims an dem Abend, als er das wilde Rebellenlied sang; und ich unbesonnenes Mädchen lief ihm bis zur Gartentüre nach und bat ihn, nach Louis in England zu schauen! Ach, der arme Louis! Wenn er doch jetzt hier sein könnte!«

Und Barbara wischte sich in ihrem Glücke eine Träne mit ihrem Taschentuche ab. Und nach dem Tee schüttelten die Vögel in ihrem Glaskasten nur allzufrüh ihre Schwingen und das tiefe Gong schlug sechs Uhr – und dann hieß es Abschied nehmen, wie immer auf Erden, denn Lukas mußte die Nonnen noch auf den Abendzug nach Limerick fahren, wo sie eine Nacht zubringen sollten, bevor sie wieder ins Noviziat zurückkehrten.


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