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V.
Eine neue These

Es läutet schon Angelus, Lukas!« rief ängstlich Margarete Delmege ihrem Bruder entgegen, der eben, mit dem Brevier in der Hand, von den Feldern hereinkam. »Du mußt dich beeilen, wenn du noch rechtzeitig eintreffen willst. Vornehme Leute läßt man nicht auf sich warten.«

Lukas gab keine Antwort. Er hatte einmal von einem Heiligen gehört, der gerade seine Tageszeiten betete, als ein König bei ihm angemeldet wurde. Der Heilige betete ruhig weiter, »denn er war ja bei dem ›König der Könige‹ in Audienz«. So las auch Lukas ruhig zu Ende, ohne auf die Angst seiner Schwester zu achten. Dann fragte er sie: »Hast du nicht vorhin etwas gesagt, Margarete?«

»Ich sagte, du seiest spät dran, und das sei nicht gut. Da hast du deine Manschetten; ich hab' sie mit den besten Knöpfen versehen. Laß mich noch nach deinem Kragen schauen. Den mußt du gleich wechseln. Der ist ja ganz durchnäßt. Was hast du denn gemacht?«

Lukas aber schaute ruhig auf die schwarzen Flechten seiner Schwester herab, während sie sich über seine Toilette aufregte und sorgte.

»Eine richtige Martha!« entfloh es seinen Lippen.

»Ach was, Martha oder nicht, du mußt einfach anständig aussehen, wenn du zu so vornehmen Leuten gehst. Komm aber zeitig heim, das heißt, so früh, als es geht, ohne unhöflich zu sein. Und wenn die Miß Wilson etwas Beleidigendes sagt – und das wird sie jedenfalls –, so strafe sie mit schweigender Verachtung!«

»Schon recht, Margarete!«

»Und komm früh heim, gelt! Vater Pat kommt zum Tee her.«

Margarete sah noch seiner zierlichen, schlanken Gestalt nach, als er rasch den Weg entlang eilte. Dann machte sie sich daran, die Vorbereitungen zum Tee zu treffen, ohne ein Gefühl schlimmer Vorahnung loszuwerden.

Die Erregung des Morgens verfehlte ihre Wirkung auf Lukas nicht. Sie stählte seine Nerven, sodaß er kräftig und selbstbewußt die Klingel an des Kanonikus Hause zog. Eine schmucke, kleine Magd führte ihn in den Salon und meldete ihn dann als »Vater Delmege«. Eine eisige Atmosphäre umfing ihn. Die zwei angejahrten Damen, die in schwarzen Seidentoiletten, mit Goldketten um den Hals, dasaßen, warfen ihm nur einen Blick zu und fuhren dann in ihrer Unterhaltung wieder fort.

»Wie ich schon sagte, meine Liebe, es heißt, sie seien schon geschieden oder würden es bald sein. Die Geschichte konnte ja auch gar nicht anders ausgehen. Diese Seeleute kommen ja alle jeden Augenblick hin, wie du weißt – – – doch mag dem sein, wie ihm wolle, wir dürfen nicht lieblos sein.«

Sonst befand sich niemand mehr in dem Gemache, als ein junger Mann, der ungefähr sechsundzwanzig Jahre zählen mochte. Er war in tadelloser Abendtoilette und lehnte nachlässig am Kaminsims. Daß er nicht unsagbar gelangweilt aussah, kam nur daher, daß er sich mit der Betrachtung seines Konterfeis im Spiegel über dem Sims beschäftigte. Er hatte sogar noch zwei Bronzevasen zur Seite gerückt und selbst die Uhr mit den Singvögeln entfernt, die Lukas vor ein paar Tagen so fasziniert hatte, nur um sich dieser schwärmerischen Träumerei besser hingeben zu können. Doch um es gleich zu sagen: das Bild, das der Spiegel wiedergab, war ohne Zweifel hübsch. Eine dunkle Haarmasse umrahmte ein Gesicht voll interessanter Blässe, aus dem zwei blauschwarze Augen auf das schöne Spiegelbild starrten. Müdigkeit, tiefe, schläfrige Müdigkeit war das hervorstechendste Merkmal dieses jugendlichen Gesichtes; ein Ausdruck der Qual lag in ihm, wie wenn der Gedanke an die Freuden des Abends für den jungen Herrn ein fortwährender Aerger wäre. Er warf einen ruhigen Blick auf den Priester und nahm dann seine Träumerei wieder auf. Lukas ward kalt bis ins Herz hinein. Er warf sich in einen Lehnstuhl und begann ein Album zu durchblättern. Er hatte aber dessen Schloß noch nicht aufgemacht, als auch schon eine Spieldose zu musizieren anfing. Schleunig wollte er das Album wieder zuklappen, aber es war schon zu spät. Das schreckliche Klimpern ging weiter. Dann langte er nach einem Buch mit der Aufschrift »Große Männer unserer Zeit«. Eben begann es ihn zu interessieren, als die Türe sich öffnete und ein anderer Gast, ein Rechtsanwalt, gemeldet wurde. Die beiden Damen begrüßten ihn warm, und der phidische Apollo am Spiegel nickte ihm blasiert zu. Von Lukas nahm er keine Notiz. Dann öffnete sich die Türe nochmals, und unangemeldet trat ein schönes, junges Mädchen ein, dessen Antlitz außerordentlich dem des Apoll glich und von bezauberndem Liebreiz war. Lukas machte sich schon auf eine neue kalte Dusche von guten Gesellschaftsmanieren gefaßt, als Barbara Wilson geradewegs auf ihn zuschritt und ihm ihre Hand entgegenstreckte: »Es ist so lieb von Ihnen, Vater Delmege, daß sie gekommen sind! Mutter, das ist Lukas Delmege, von dem man uns so oft erzählt hat. Das ist meine Tante, Vater Delmege. Louis, hast du Vater Delmege schon begrüßt?«

Der phidische Apollo wandte sich müde um; dann nickte er und fragte, ohne seine Hand aus der Tasche zu ziehen: »Wie geht es Ihnen?«

»O Mama, was hast du versäumt heute Morgen! Vater Delmege feierte seine Primiz. Und es war so himmlisch schön! Und unser lieber Vater Pat war dabei, und die Sonne spielte auf seinem schönen weißen Haar wie ein Heiligenschein. Und wir alle bekamen Vater Delmeges Segen, und warum haben Sie nicht gepredigt, Vater? Wir sehnten uns so schrecklich, Sie einmal zu hören.«

»Es ist nicht gebräuchlich, wie Sie wissen, Miß Wilson,« erwiderte Lukas, »bei seiner Primiz zu predigen.«

»Natürlich, unter gewöhnlichen Verhältnissen. Aber wir mußten Sie eben hören. Wo haben Sie Ihr blaues Band? Warum tragen Sie es nicht?«

»Das ›blaue Band‹?« staunte Lukas.

»Jawohl, das ›blaue Band‹! Haben Sie es nicht in Maynooth bekommen? Vater Martin sagte mir, daß noch niemand in den letzten fünfzig Jahren so ausgezeichnet worden sei.«

»Vater Martin ist zu gütig,« murmelte Lukas, der jetzt auftaute und ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit gegen dieses liebe Mädchen empfand, das mit dem feinen und unfehlbaren Takt der Nächstenliebe all die eisigen Schranken der sogenannten guten Gesellschaft durchbrochen hatte. Mrs. Wilson und ihre Schwester zeigten jetzt auch etwas Interesse an unserm jungen Geisteshelden. Sogar der Advokat rieb sich die Hände und murmelte etwas über seinen alten Freund Mike Delmege und meinte: »Ihr verehrter Vater ist ein Mann, kein besserer in der ganzen Grafschaft«; selbst der Apoll am Spiegel blickte mit etwas Interesse und Eifersucht auf Lukas.

Dann trat der Kanonikus mit ein paar andern Besuchern, die mit ihm Geschäfte abgewickelt hatten, ins Zimmer, und man rief zum Diner.

»O nein!« antwortete Barbara ihrem Onkel auf eine Einladung, »ich will während des Diners neben Vater Delmege sitzen. Ich habe ihm so viel zu sagen.«

O Margarete, Margarete! dachte Lukas bei sich, wie hast du so rasch abgeurteilt!

Das Diner selber war einfach, aber tadellos. Die Unterhaltung drehte sich um die üblichen Gegenstände, den Sport, der damals einen großen Teil des öffentlichen Interesses in Irland in Anspruch nahm. Ein junger Athlet, der ein schweres Gewicht unglaublich weit geschleudert hatte, wurde besonders bewundert; seine Muskeln, Nerven, sein Gewicht und die Art seiner Trainage besprach man eingehend. Wenn wir je ein reiches Volk werden, so wird unser Nationalschrei kein anderer sein als der der alten Römer: Panem et Circenses! Dann kam die Pferdeausstellung, die kommenden August abgehalten werden sollte, als Thema an die Reihe. Von da ging das Gespräch auf die Blumenausstellung über, die eben in einem Nachbarstädtchen abgehalten wurde. Hier war der Kanonikus so recht in seinem Element. Mit einer Miene leichter Geringschätzung bemerkte er, man hätte ihm versichert, daß: »Meine Maréchal Niel – hm – unbedingt den ersten Preis erhalten wird; aber ich weiß, daß meine Gladiolus Cinquecentus unterliegen wird. Eine glückliche Niederlage! Denn Lady – hm – Descluse hat mir versichert, daß ich ihr wenigstens diesmal den – hm – Sieg lassen muß.«

»Aber mein lieber Kanonikus!« fiel hier der Advokat ein, als ob er keinen professionellen, sondern nur einen väterlichen Rat gebe und in einem Ton voll der tiefsten Besorgnis: »Sie dürfen nicht! Ich versichere Sie, ein solcher Sieg darf nicht so leichthin geopfert werden. Bedenken Sie nur den Geldwert der Preise!«

»Ha, ha!« lachte der Kanonikus, »der Mann des Gesetzes bedenkt immer nur die – hm – die praktischen Folgen. Die Tage der Ritterlichkeit sind vorüber.«

»Nun ja,« wandte der Advokat etwas kleinlaut ein, »Sie müssen natürlich Ihren Spaß haben; aber im Ernste gesprochen, Sir, bedenken Sie nur, wie wichtig es ist, daß man in einem solchen Wettbewerb einen Preis gewinnt. Trotz allem ist der Gartenbau doch ein Zweig der Aesthetik; und es ist für Sie mit Ihrer riesigen Erfahrung ein Leichtes, einzusehen, wie wichtig es heutzutage für die Kirche ist, vor unsern getrennten Brüdern repräsentiert zu werden, und zwar siegreich repräsentiert zu werden in solch einer entzückenden, erhebenden und verfeinerten Bestrebung, wie es die Blumenzucht ist.«

»Ganz gut, Mr. Griffiths; aber wo bleibt dann die Ritterlichkeit?«

»Ritterlichkeit ist ein köstlich Ding!« gab Griffiths zurück. »Aber unser vorderstes Interesse, unser einziges Interesse sogar, ist die Kirche. Und bedenken Sie doch nur Ihre Stellung als der erste Vertreter der Kirche im ganzen Bezirk, ich möchte sagen, im ganzen Lande. Bedenken Sie nur: Welcher Schaden für unsere Religion wäre es, wenn Sie unterlägen! Es handelt sich freilich nur um eine Blume. Aber es ist doch eine Niederlage! Und die Kirche darf in nichts unterliegen, oder sie unterliegt in allem.«

»Es ist etwas daran an dem, was Sie sagen – hm – wirklich!« entgegnete der Kanonikus, »und ich werde der Sache meine weitere Beachtung widmen. Aber nehmen Sie ein Glas Wein!«

»Ja, das ist ein Weinchen!« rief Griffiths, sog den Duft ein und hob das Glas prüfend in die Höhe. »Wenn ich so frei sein darf und mir eine Meinung gestatten könnte, so möchte ich den Wein wenigstens auf hundert taxieren.«

»Zählen Sie noch – hm – zwanzig dazu!« bemerkte der Gastgeber.

»Ja, das habe ich gleich gemerkt. Das ist etwas anderes, als der Krätzer, den wir in unsern Hotels zu trinken bekommen. Freilich, das ist nur Wasser, Essig und Süßholz! Sie haben aber echten Wein!«

»Mr. Sumner, Sie langen ja nicht zu! Versuchen Sie doch mal diesen Madeira!«

Mr. Sumner erwiderte nichts. Er beschränkte sich darauf, fortwährend große Quantitäten des guten Weines zu vertilgen. Er war einer jener stillen Trinker, denen die Geister des Weines nichts anhaben können. Lukas beobachtete ihn mit Staunen, ja fast mit Bewunderung. Das Fremdartige der Umgebung und das Tischgespräch, das jetzt von Athleten zu Pferden, dann wieder von Blumen zu Kurszetteln übersprang, zwang ihn förmlich zum Schweigen. Er hatte im Anfang der Unterhaltung immer gehofft, es würden Themata berührt werden, die auch ihn interessierten, irgend eine große philosophische oder literarische Streitfrage der Vergangenheit, eine häretische Behauptung oder auch nur eine historische Tatsache, daß er sich an sie hätte halten und das Interesse seiner Zuhörer fesseln können. Fiel es denn niemand ein, das Schlagwort »Canossa«, »Occam«, »Liberius« oder nur »Wegscheider« fallen zu lassen? Wollten sie denn die Unterhaltung nie auf etwas Höheres, Geistiges führen und ihm die Möglichkeit geben, daran teilzunehmen? Nur einmal hatte Barbara durch ein geistreiches Zitat dem Gespräch eine höhere Wendung gegeben. Aber ach! Das verpuffte wie eine Rakete in dieser Atmosphäre seichter Nichtigkeiten. Gerade war Lukas im Begriff, ihr ein artiges Wort der Anerkennung zu sagen, als schweigend das Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde, und die Damen sich erhoben. Er war aber so sehr mit dem beschäftigt, was er sagen wollte, daß er einen Wink des Kanonikus völlig übersah. Erst als dieser ihn andonnerte: »Vater Delmege!«, bemerkte er, wie er ärgerlich nach der Türe wies.

Armer Lukas! Er hatte alle Zeremonien eifrig studiert und kannte aufs genaueste jede Verneigung und Kniebeugung; aber von diesem Zeremoniell hatte er nie etwas gehört. Er errötete, stotterte, blieb sitzen und stammelte: »Ich bitte Sie um Verzeihung; ich verstehe nicht –«

Um seine Verwirrung noch zu erhöhen, bemerkte er, daß Miß Wilsons Kleid sich an seinem Stuhl verfangen hatte. Niedergeschlagen und verwirrt versuchte er, die graue Seide loszulösen; aber er machte alles nur schlimmer. Da erhob sich Apoll mit einem feinen Lächeln, machte das Kleid frei, und die Türe mit einer Verbeugung öffnend, die dem Grafen d'Orsay alle Ehre gemacht hätte, geleitete er die lachenden Damen aus dem Speisezimmer. Der Kanonikus war so entzückt darüber, daß er Lukas fast vergab. Der aber fragte sich ärgerlich: Was nützt jetzt alles Lernen und aller gelehrte Plunder? Und warum lehren uns denn die Professoren in den Schulen nicht auch etwas fürs praktische Leben?

»Gibt's was Neues in eurer Wissenschaft?« fragte der Kanonikus aufgeräumt, als die Herren ihre Stühle zusammenrückten und ihre Zigarren ansteckten.

»O gewiß!« entgegnete Louis gelassen. »Wir sind immer vorne dran, und bei uns geht's stets mit vollem Dampf, während ihr Herren vom Jus und von der Kirche schwerfällig die alten Geleise nachtretet.«

»Ha, ha!« lachte der Kanonikus. »Gut gesagt: Die alten Geleise! Nun, so rück mal heraus mit diesen neuesten Entdeckungen in der Medizin! Gewiß habt ihr wieder ein gutes Mittel entdeckt, das menschliche Leben zu verkürzen?«

»O nein! Ich meine, wir fangen jetzt an, in euer Gebiet hinüberzugreifen. Unsere Pioniere sind schon daran, eure Fundamente zu untergraben.«

»Aber ihr werdet den alten Riesenbau doch nicht zum Sturz bringen wollen?« sagte Griffiths. »Ihr könnt's ja auch gar nicht. Ihr findet zwar Schädel und Gerippe, und das schlägt ja in euer Fach. Aber dem Bau selber werdet ihr nichts anhaben können! Oder doch, Kanonikus?«

»O nein, gewiß nicht!« entgegnete dieser. »Aber diese Herren von der Wissenschaft sind doch sehr – hm – unternehmend und kühn. Aber ich begreife nicht, wie eure edle Wissenschaft mit der Theologie in Konflikt geraten kann, Louis. Die zwei Gebiete, Medizin und Theologie, sind doch so – hm – verschieden.«

»Aber sie berühren sich beide in der Psychologie,« erwiderte Louis. »Und Psychologie wird immer mehr Physiologie.«

Jetzt endlich, endlich naht für dich die ersehnte Gelegenheit! Da hast du's ja, wovon du den ganzen Abend schon geträumt hast, die Psychologie! Das ist ja das Wort, das dir schon tausendmal auf der Zunge lag! Die Seele, die Seele! Psyche, die seine Göttin war, die er studiert, beobachtet und analysiert hatte an der Hand der Größen der Wissenschaft! Kein Hund, der eine Spur verfolgte, konnte je so alle Nerven und Muskeln anspannen, wie Lukas tat, als sich ihm durch das Wort Psyche tausend Ausblicke auf Wissen und Erkennen eröffneten.

»Wie kann Psychologie mit Physiologie zusammenhängen?« fragte Lukas nervös und mit gepreßten Lippen. »Ich war immer der Ansicht, Physiologie handle nur von tierischem Mechanismus.«

»Und Psychologie handelt von?« fragte Louis fein zurück.

»Von – von – der Seele nun natürlich,« sagte Lukas.

»Und ist die Seele denn kein Teil des tierischen Mechanismus?« fragte sein Gegner.

»Ganz gewiß nicht!« rief Lukas. »Sie ist damit zwar verbunden, besteht aber für sich ganz allein.«

»Verbunden damit? Wo denn?« fragte Louis erstaunt. »Ich habe viele Leichen seziert, und ich kann Sie versichern, meine Herren, ich habe dabei alle anderen Teile der menschlichen Anatomie entdeckt; das Ding aber, das Sie Seele zu nennen belieben, habe ich noch nie gefunden. Wo ist sie denn? Sagen Sie mir doch, in welchem Körperteil sie einlogiert ist?«

»Nun, nun,« bemerkte der Kanonikus beschwichtigend, »das ist ein bißchen weit gegangen. Aber ich verstehe schon – natürlich – du tust es nur um des – hm – Beweises willen. Ueberhaupt ist es ja nur eine akademische Erörterung, um die Verdauung zu befördern. Fahren Sie nur fort, Mr. Delmege!«

Unser armer Lukas wurde nun etwas erregt. Er hatte nie Selbstbeherrschung und Zurückhaltung, diese ersten Gebote des guten Tones, gelernt. Er war es so gewohnt, bei allen gelehrten Disputationen im Kolleg den Sieg davonzutragen, daß ihn schon der bloße Gedanke, von diesem jungen, läppischen Mediziner widersprochen und zurechtgewiesen zu werden, in Erregung versetzte. Und wenn er nur in der alten scholastischen Art begann: » Sic argumentaris, doctissime Domine!« dann war sein Gegner auch schon verwirrt aus dem Felde geschlagen gewesen. Schon der bloße Gedanke, daß dieser junge Grünschnabel die Grundpfeiler der katholischen Philosophie anzugreifen wagte, war ihm unerträglich. Mit einem Worte, Lukas verlor seine Selbstbeherrschung.

»Der größte Neuling in der Philosophie« – das war ein Lieblingsausdruck von ihm, wenn er einen Gegner vollständig zu Boden schmettern wollte – »weiß schon, daß die Seele eine einfache Substanz ist, die ganz und unteilbar in jedem Teile des menschlichen Körpers ihren Wohnsitz hat.«

»Da haben Sie einen Teil des menschlichen Körpers,« rief Louis und riß ein langes, schwarzes Haar aus seiner Stirnlocke. »Ist nun meine Seele da drin? Wenn ja, dann gehe, du meine Seele, ins ewige Nichts zurück!« Dabei zerriß er das Haar in kleine Stücke und verbrannte sie am glühenden Ende seiner Zigarre.

»Das ist törichtes Gerede, um nichts Schlimmeres zu sagen,« entgegnete Lukas. »Kein Mensch behauptet, daß die Seele in einem losgelösten Teile weiterlebt.«

»Glauben Sie nicht auch, daß jede menschliche Seele für sich neu erschaffen wird?«

»Gewiß! Das lehrt uns ja der Glaube,« erwiderte Lukas.

»Wo finden Sie aber die Notwendigkeit hierfür? Wenn jedes Leben seinen Ursprung von einem andern Leben herleitet (und das ist ja euer Hauptbeweis gegen die Biologisten), und wenn die Seele in jedem Teile des Lebens vorhanden ist, geht dann die Seele nicht auch auf das neue Leben über und wird das belebende Prinzip seines Werdens?«

»Das ist Häresie,« erklärte Lukas. »Das ist der Irrtum des Tertullian. Der heilige Thomas –«

»Ich dächte,« meinte sein Gegner spöttisch, »wir sollten Tatsachen ins Feld führen und nicht bloße Meinungen.«

»Aber ich kann nicht zugeben, daß Meinungen und Tatsachen sich widersprechen,« entgegnete Lukas schüchtern.

»Sie wissen vielleicht nicht,« fuhr Wilson fort, »daß die Mehrzahl eurer Abhandlungen über Moraltheologie mit wirklich kindlicher Unwissenheit physiologischer Tatsachen abgefaßt ist, die jeder Student, der sein Physikum gemacht hat, längst weiß.«

»Und wissen Sie denn,« rief Lukas hitzig, »daß viele Ihrer Kollegen, die ihr Schlußexamen hinter sich haben, weise und demütig genug sind, um anzuerkennen, daß all das, was Sie Tatsachen nennen, immer noch die arcana und Geheimnisse der Natur sind?«

»Vielleicht,« bemerkte Wilson leichthin. »Aber Leute, die der Welt Moralgesetze geben wollen und diese auf die Wirkungen des Naturgesetzes basieren, sollten es doch vorher versuchen, diese letzteren kennen zu lernen. Uebrigens, haben Sie schon etwas von Elektro-Biologie gehört?«

»Nein!« sagte Lukas bescheiden.

»Haben Sie schon etwas über psychische Kräfte durch tierischen Magnetismus gelesen?«

»Nein!« sagte Lukas ein zweites Mal.

»Kennen Sie Reichenbach und seine Od-Theorie?«

Lukas schüttelte verneinend den Kopf. Die tönende Hohlheit dieser Namen verblüffte ihn völlig.

Wilson ließ ihn nun links liegen, als einen Gegner, der nicht ernst zu nehmen war, und wandte sich dann an Sumner.

»Kennen Sie das letzte Werk Maupassants, Sumner?«

»Sie borgten es mir ja,« entgegnete Sumner. »Es ist hübsch zerfetzt jetzt. Aber offen gestanden, Wilson, ich meine, diese Franzosen gehen doch etwas zu weit. Ich bin durchaus nicht prüde, wie Sie wissen; aber diese Kerls machen einem die Haare zu Berge stehen.«

Wilson lachte laut auf und zuckte mit den Schultern. »Weltmänner dürfen sich an solchen Kleinigkeiten nicht stoßen.«

»Meine Herren,« fiel jetzt der Kanonikus ein, »ich meine, wir sollten uns den Damen zum Tee anschließen.«

»Ich werde Ihnen einen Band von Gabriele d'Annunzio geben, dem neuesten italienischen Schriftsteller,« hörte Lukas Wilson zu Sumner sagen, als er unter der Türe stand, seine Zigarre fertig zu rauchen.

»Schade, daß diese jungen geistlichen Herren mit ihrer Lektüre nicht auf der Höhe der Zeit stehen.«

»Ich meine, Sie lesen zu viel, Wilson,« sagte Sumner. »Es ist nicht gut, wissen Sie, wenn man mit diesen Dingen zu vertraut ist.«

»Sumner, Sie haben aber doch auch einen harten Kopf für Spirituosen.«

»Der Alkohol hat keine Macht über mich,« gab Sumner bescheiden zurück.

»Nun gut, ich habe eben einen harten Kopf für andere Sachen,« entgegnete Wilson. »Haben Sie schon einmal Opium eingenommen?«

»Nein!« erklärte Sumner. »Ich gehe über einen richtigen Schnaps nicht hinaus.«

»Sie sollten es aber mal probieren. Nichts stärkt mehr als das. Sie sehen doch, wie's diesen Geistlichen ganz an Beweglichkeit fehlt, weil sie alle Reizmittel vermeiden. Ich bin überzeugt, mein Onkel würde fast vernünftig werden, wenn er etwas anrührte. Und der junge Grünschnabel da –«

»Wer?«

»Dieser junge Geistliche, der gewöhnliche Bauernsohn, – wissen Sie denn nicht, daß es auf der ganzen Welt nichts Unbeholfeneres gibt, als so einen geistlichen Seminaristen? Aber wenn er ein bißchen Opium nähme, ganz nach de Quinceys Vorschrift, gut gekocht und mit hübsch viel Zitronen- oder Orangensaft, so wäre er ganz annehmbar.«

»Ja, ja, Louis, Sie würden ihn schon in die Höhe bringen.«

»Herrgott, und diese Aussprache! Ich möchte ihn nur einmal singen hören!«


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