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XXX.
Widrige Strömungen

Er gratulierte Mary warm zum Erfolge ihres Diners. Er habe noch nichts dergleichen gesehen, seit er England verlassen. Mary errötete vor Freude.

»Ich hätte nicht geglaubt, daß es möglich wäre, zu dieser Jahreszeit solches Geflügel zu bekommen,« bemerkte Lukas.

»O, die Nachbarn waren gut, Hochwürden,« erwiderte sie.

»Die Nachbarn?«

»Jawohl. Mrs. Mahony sandte die Hühnchen; die Enten kamen aus Mrs. Clearys Garten; und –«

»Sie überraschen mich,« fiel Lukas ein. »Wie kamen die Leute dazu, sie uns zu schicken? Sie kauften sie natürlich?«

»Gewiß nicht,« erwiderte Mary. »Das Geringste, was die Leute tun können, ist doch, daß sie ihren Priestern, die Tag und Nacht für sie arbeiten, aushelfen.«

»Aber mein gutes Mädchen, es war ganz und gar nicht angebracht, von diesen armen Leuten zu verlangen, daß –«

»Ich verlangte es ja auch nicht,« versetzte Mary, die allmählich gereizt wurde.

»Wie konnten die Leute dann aber wissen, daß ich ein Diner zu geben hatte?« fragte Lukas verwirrt.

»Wissen?« erwiderte Mary und schüttelte ihren Kopf. »Die Leute wissen mehr als das. Die kennen Sie innen und außen.«

Lukas schwieg einige Sekunden.

»Ist viel Glas zerbrochen worden?«

»Jawohl, Hochwürden,« gab sie zur Auskunft. »Aber es gehörte nicht uns.«

»O, also vom Pfarrer! Dann ist es umso nötiger, daß wir es zurückerstatten.«

»O, er wird es nicht vermissen,« meinte Mary. »Er hat gewiß doppelt soviel Einkommen als Sie.«

»Nein! Nein! Nein!« schrie Lukas, der über diese freisinnige Theologie erstaunt war. »Er ist sehr zuvorkommend gewesen, und wir müssen ihm jeden Gegenstand, den er uns geliehen, wieder zurückgeben.«

* * *

»Das wird ein schönes Loch in deinem Vierteljahrslohn abgeben,« sagte Mary zu John in der Küche. »Du wirst alles Glas, das du zerbrochen hast, bezahlen müssen.«

»Konnte ich denn was dafür?« fragte John. »Jeder weiß doch, daß Sachen zerbrechen müssen

»Du mußt sie aber bezahlen. Und sie gehörten dem Pfarrer und jedes Glas kostete eine halbe Krone.«

»Bei Gott, aber wenn ich's zahlen muß, dann soll er mir's büßen!«

»Aber solange ich da bin, nicht!« erklärte Mary, »wenn du irgend etwas anrührst, solange ich da bin, dann kannst du was erleben!«

* * *

Lukas besuchte seinen Pfarrer.

»Ich muß Ihnen meinen Glückwunsch zu dem prächtigen Diner von letzthin aussprechen,« sagte der liebe alte Herr. »Es war ein seltenes Vergnügen!«

»Mit Ausnahme dieser unseligen Debatte,« erwiderte Lukas. »Ich muß jedes derartige Gespräch in Zukunft vermeiden. Es regt mich zu sehr auf.«

»Das ist aber noch immer besser als törichtes Reden über den lieben Nächsten,« meinte der Greis. »Die Jugend ist die Zeit der Probleme; das Alter kennt nur die eine große Gewißheit.«

»Sie müssen mich noch für ein paar Tage entschuldigen,« bat jetzt Lukas, »bis ich die zerbrochenen Gläser wieder erstatten kann. Ich hoffe, sie in einer Woche aus der Stadt zu erhalten.«

»O, machen Sie sich nichts daraus, mein lieber Junge! Ich bringe das kleine Opfer ja freudig, da Sie den armen Burschen so rasch verändert haben. Sie müssen ihn mir in Zukunft leihen, wenn ich unsere kleinen Gesellschaften hier gebe.«

Lukas war von der Aenderung Johns nicht so ganz erbaut.

Fast jeden zweiten Tag erschienen auf seinem Frühstückstisch kleine Rechnungen.

Für ein paar Hühner, die das Pferd zertreten hat, 5 Schilling.
Mary Haigerty.

Für fünf Säcke Hafer fürs Pferd 2 Pfund Sterling 7 Schilling 2 Pence.

Für ein Schaf, das Ihr Wagen überfuhr und das ein Bein brach, 1 Pfund Sterling 10 Schilling.
James Daly

»Das geht nicht,« sagte Lukas. »Das bedeutet meinen Bankerott. Kommen Sie her, Bursche,« wandte er sich an John, »und lesen Sie diese Rechnungen! Was soll das heißen?«

»Heißen? Das heißt, daß diese Leute die größten Lügner und Schelme sind, die ungehenkt herumlaufen. Den Hafer gebe ich zu, aber das andere ist reiner Betrug.«

»Die Leute werden mir aber doch kaum ohne jeden Grund Rechnungen senden,« meinte Lukas.

»Sie würden nicht, wenn sie Sie nicht für so unschuldig hielten.«

»Das muß aber jetzt aufhören. Sie geben auch dem Pferd zu viel Hafer. Es wird störrig.«

»Wie Sie wollen, Hochwürden. Aber tadeln Sie mich dann auch nicht, wenn es uns auf dem Weg zusammenbricht.«

»Wie mir scheint, haben Sie diesen Morgen auch schon Schnaps getrunken. Und Sie haben mir doch versprochen, das nie zu tun?«

»Ich – Schnaps?« rief John voll Schrecken. »Teufel – nein – keinen Tropfen, seit ich dem Pfarrer das Versprechen gab, so wahr mir –«

»Sch–, sch–,« sagte Lukas erschreckt. »Ich kann mich ja irren. Unsere Sinne täuschen uns oft. Es riecht aber entschieden nach Alkohol hier im Zimmer.«

»Vielleicht ist die Karaffe zerbrochen,« meinte John und blickte ängstlich aufs Büffet.

»Kaum,« erwiderte Lukas. »Nun, seien Sie ein Mann und gestehen Sie offen ein, daß Sie Ihr Versprechen gebrochen haben!«

»Würde es das Versprechen schon brechen,« fragte John im Tone eines Kasuisten, der ein schwieriges Problem zur Entscheidung vorlegt, »Alkohol zu riechen oder ihn einzuatmen?«

»Wohl kaum. Aber ich begreife nicht, wie eine so entfernte Berührung solch bleibende Wirkungen zurücklassen könnte.«

»Hochwürden,« erwiderte John mit der Miene eines schuldlos Angeklagten, der jetzt seinen Haupttrumpf zur Entlastung ausspielt, »ich sage Ihnen, was vorgefallen ist, und Sie werden sehen, daß ich unschuldig bin. Ich ging heute morgen zu Mrs. Dennehy hinunter mit einem Auftrage für Mary, die Haushälterin –«

Lukas nickte.

»Und wie ich eben zur Türe hineingehe, was glauben Sie, daß sie machten?«

Lukas lehnte die Antwort ab.

»Sie wässerten den Schnaps! Sie wässerten den Schnaps!« Er sprach wie von einem Sakrileg.

»›Was zum Teufel macht ihr denn da?‹ fragte ich. ›Versucht, ob er schwach genug ist,‹ sagte Mrs. Dennehy. ›Ich will nicht,‹ sagte ich; ›ich habe mein Wort gegeben, und das halte ich auch, so Gott will.‹ ›Versucht ihn!‹ sagte sie nochmals. ›Ihr braucht ihn ja nicht hinunterzuschlucken; wenn Ihr keinen zu trinken pflegt, habt Ihr nur einen besseren Geschmack.‹ Unterdessen füllte sie ein Glas voll. ›Laßt das,‹ sagte ich, ›laßt das!‹ ›Es ist ja nur eine Probe,‹ sagte sie. ›Ihr braucht nicht mehr zu trinken, als Ihr wollt.‹ So roch ich denn am Glase. ›Er ist noch stark,‹ sagte ich. ›Das dachte ich mir,‹ sagte sie. ›Er muß noch besser gewässert werden.‹ ›Es würde ihn verderben,‹ sagte ich. ›Verkostet ihn und sagt, wie schwach er ist,‹ sagte sie. ›Ich kann nicht, Weib,‹ sagte ich, ›ich kann nicht.‹ ›Habt Ihr je schon so einen Narren gesehen? Ich bitte Euch doch nicht, ihn zu trinken, sondern ihn zu verkosten.‹ Darauf nahm ich einen Schluck in den Mund, als der junge Mensch dort über mich lachte. Da wurde ich wütend, Begor, und wollte etwas sagen, vergaß aber ganz, daß ich den Schnaps im Munde hatte und schluckte ihn in die Kehle hinunter. Und ich hustete und hustete, als ob ich ersticke. Und Dennehy mußte mir auf den Rücken schlagen; aber, Begor, auch das half nichts. Ich hustete und hustete, bis ich ganz schwarz im Gesicht wurde. ›Begor,‹ sagte sie, ›jetzt müßt Ihr den Tropfen hinunterschlucken, ob Ihr wollt oder nicht; sonst bekommen wir eine Leiche ins Haus.‹ So mußte ich nun den Rest trinken, Begor; ich tat es aber mit Wasser. Das ist alles, Hochwürden, und gerade so, als ob ich das Buch geküßt hätte.«

»Ich möchte Ihnen aber doch raten, Ihr Versprechen zu erneuern,« erwiderte Lukas. »Ich müßte Sie sonst entlassen.«

»Ich habe Ew. Hochwürden oft von der Kanzel sagen hören, daß etwas kein Uebel ist, wenn man's bessern kann,« gab der verwirrte John zurück.

»Ich will's also diesmal hingehen lassen. Bringen Sie mir aber eine Bescheinigung vom Pfarrer, daß Sie Ihr Versprechen erneuert haben!«

* * *

»Einige dieser armen Leute,« erzählte Lukas kurz darauf seinem Pfarrer, »haben mich gebeten, die Präsidentschaft des Ortszweiges der Liga anzunehmen. Würden Sie mir raten, die Würde anzunehmen, oder halten sie es für klug, sie abzulehnen?«

»Ich weiß keinen Grund, sie abzulehnen. Nur wird sie Ihnen viele Mühe und selbst Enttäuschungen bereiten.«

»Ich würde mir aus der Mühe nichts machen, aber ich fürchte die Enttäuschungen. Ich finde immer noch nicht heraus, warum mein guter alter Pfarrer, der Kanonikus Murray, seine Pfarrei in ein kleines Paraguay verwandeln kann, während alle andern Bemühungen fruchtlos scheinen?«

»Es ist die Furcht vor den überlegenen Mächten, die dem Volk feindlich gegenüberstehen, die alles lähmt,« erwiderte der alte Pfarrer.

»Wenn man die Leute nur so weit bringt, daß sie ihr Haupt aufrecht tragen und männliche Unabhängigkeit zeigen, dann ist's schon der Mühe wert.«

»Da haben Sie ganz recht,« meinte resigniert der Pfarrer.

So wurde Lukas Delmege Präsident der Ortsgruppe der Liga. Seine erste Rede machte Aufsehen.

»Ich möchte euch deutlich zu verstehen geben,« sagte er, »daß, wenn ich euer Präsident bleiben soll, es nur unter der Bedingung geschehen kann, daß die Bestimmungen eingehalten werden. Ich werde kein Krebsen erlauben, (Hört! Hört!) Ebensowenig werde ich einen Unterschied der Person anerkennen. (Hört! Hört!) Wenn die Satzungen verletzt werden, werdet ihr sehen, wie ich vorgehe. Wie ich höre, wünscht ein Herr eine Resolution vorzuschlagen. Schaut euch den Wortlaut genau an, damit keiner nachher kommt und sagt, er habe ihre Bedeutung nicht verstanden.«

Die Resolution lautete:

»Es wird beschlossen: Wir, die Mitglieder des Roßmore-Ortszweiges der Landliga, verpflichten uns hiermit feierlich, in Zukunft vor keinem andern Menschen, als unsern Priestern, den Hut abzunehmen.«

Es gab eine lange und hitzige Debatte. Alle wußten, wem es galt – einem Dorfmagnaten, der wenig geliebt, aber viel gefürchtet wurde und der es liebte, auf öffentlichem Platze gegrüßt zu werden. Man flüsterte sogar, daß er schon diverse Silbermünzen unter die Dorfjungen verteilt habe, um sich bei Anwesenheit englischer Gäste gewisse Ehrenbezeigungen zu sichern.

Man schlug verschiedene Aenderungen vor, besprach sie und verwarf sie wieder. Einer beantragte, man solle die Klausel »außer beim Eintritt in die Kirche« einsetzen. Ein anderer bestand darauf, man solle hinter den Priestern noch »unsere Angehörigen« anfügen. Ein Dritter meinte, hinter dem Worte »Hut« solle man noch »oder die Mütze« einfügen, »weil Leute genug da seien, die ihren Hut nur deshalb zu Hause ließen, um der Strafe zu entgehen.« Schließlich wurde aber die Resolution doch in ihrer ursprünglichen Fassung angenommen. Darauf nahm Lukas das Wort: »Die Resolution ist ganz nach meinem Herzen. Ich bin vollständig Demokrat in dem Sinne, daß ich glaube, jedermann ist nur so viel wert, als er im Angesichte Gottes ist, nicht mehr und nicht weniger. Und ich sage euch, daß unsere Generation keine Aussicht hat, die Freiheit Irlands zu erringen, solange ihr keine solch hohe Meinung von euch selbst fasset und die Notwendigkeit der sie begleitenden Selbstachtung nicht versteht. Männer brauchen wir und keine Puppen!« Viel mehr noch sagte er ihnen, so daß sie staunten und sich freuten. Und er las ihnen eine Seite oder zwei aus Carlyle vor, und schloß mit der Erklärung, »daß die wahre Schechina, die Offenbarung Gottes in der Welt, der Mensch sei!«

Das rief stürmischen Beifall wach, und Lukas trieb auf der Hochflut der Popularität.

»Yerra, das ist der Mann, den wir brauchen.«

»So muß man reden! Begor, jetzt werden wir aber sehen, wer Herr ist!«

»Diese stillen Leute haben wirklich den Teufel im Leib. Der wird sie noch zittern machen!«

»Der alte General wird ein Gesicht machen am Sonntag! Da darf er viel Geld an die Jungen verschenken, bis sie ihn grüßen.«

In anderen Sachen konnte es Lukas seinen Bewunderern jedoch nicht so ganz recht machen. Sein Vorschlag, eine junge Dame aus Dublin kommen zu lassen, um die Bauernfrauen zu lehren, wie sie ihr Geflügel für den Markt herrichten sollten, begegnete allgemeinem Widerwillen. Man verstand ihn einfach nicht. Lukas erklärte ihnen die Sache und predigte ihnen viel über die Anatomie des Geflügels, die verschiedenen chemischen Bestandteile des Futters und die fleischlichen Gelüste der Engländer, die für gutes Geld fette Ware wollten, vor. Es war vergeblich. Der Gedanke, ein Stadtfräulein kommen zu lassen, um den Bauernweibern Geflügelzucht zu lehren, war zu absurd. Als die guten Frauen von der Sache vernahmen, entstand große Heiterkeit unter ihnen. Und Lukas mußte sich viele beißende Witze gefallen lassen. Aber er ließ sich nicht abschrecken. Er hatte eine Aufgabe und wollte sie auch erfüllen. Er kam immer wieder auf den Vorschlag zurück, zeigte, wie viel tausend Hühner jedes Jahr von der Normandie und den Inseln im Kanal jährlich nach England eingeführt würden, zählte die Millionen Eier, die eine englische Biskuitfabrik jährlich benötigte, und sprach die Gewißheit aus, daß sich in London auch ein Markt für Früchte und Gemüse eröffnen ließe und daß Tausende allein an den Stachelbeeren zu verdienen seien. Sie schüttelten aber nur ihre Köpfe, lachten und faßten die Sache spaßhaft auf. Da sah denn Lukas, daß der Appell an die Begehrlichkeit dieser Leute nichts nütze. Eine andere Saite mußte angeschlagen werden.

Seine Predigten waren aus ähnlichen Gründen auch verfehlt. Lukas verschmähte es, sich an die Leidenschaften oder Gefühle des Volkes zu wenden. Er hatte irgendwo gelesen, daß das griechische Aequivalent für Prediger ein Interpret oder Ausleger – daher ein Darsteller oder Schauspieler – ist. Und mit seiner hohen Auffassung der Menschheit und seiner Abneigung gegen einen unschönen Sieg suchte er durch Beweisgründe zu überzeugen und verschmähte es, mit dem letzten Wort oder der letzten Geste das Gefühl des Volkes auf Kosten der Vernunft zu beeinflussen. Auch die Wahl seiner Themata war originell. Er predigte über Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Pünktlichkeit, Vorsicht, all die großen natürlichen Tugenden, die die Grundlage des übernatürlichen Aufbaues sein müssen. Aber ach! Was konnten die armen Leute, die nach den Wassern des Lebens dürsteten, wie Pflanzen nach dem Abendtau, mit all der Philosophie und all den Vernunftgründen machen?

»Beim Himmel, er muß das Geld außerordentlich gern haben. Er spricht immer davon. Postämter, Sparkassen und Zinsen! Warum erzählt er uns nichts vom heiligsten Herzen Jesu oder von unserer lieben Frau, und warum sagt er uns nichts Erhebendes, um uns über die Woche hinwegzuhelfen?«

»Meiner Treu, Cauth, du hast recht. Jetzt sind andere Zeiten. Unsere alten Priester sagten stets: Seid guten Muts! Gott ist gütig, vertraut auf ihn! Schaut auf die heilige Familie! Sie wußten nicht, wenn sie frühstückten, wo sie ihr Abendbrot herbekommen sollten; noch wenn sie zu Abend aßen, wo sie ihr Frühstück bekamen. Aber jetzt heißt's nur immer: Geld, Geld, Geld!«

»Er hat wohl recht viel davon, Maurya?«

»Wie man hört, ja. Aber er ist ein kurioser Mann. Er macht sich nichts daraus, einem armen Mann eine halbe Krone oder einen Schilling zu geben, aber bei Gott, wenn ihr eure Nase in seinen Gartenzaun hineinsteckt, um eine Blume oder einen Kohlkopf zu begucken, dann würde er euch auffressen. Seht nur die arme Hexe, die Katharina Mahoney an! Früher saß sie immer in des Priesters Kaminecke, und wenn Essenszeit war, dann steckte sie ihre Hand in den Topf, nahm hübsch was heraus und aß es. Oder sie nahm etwas vom Hähnchen oder Schinken weg. Pillalu! Als er das hörte und sah, geriet er in eine fürchterliche Wut. Die arme Käte wird nie mehr des Kaplans Küche von innen sehen! Aber trotzdem gibt er ihr jede Woche einen Schilling.«

»Jawohl, und ich hab' sogar gehört, daß er den armen Kerl von Burschen, den er hat, entlassen wollte, weil er ihn erwischte, wie er eine Handvoll Hafer in seinen zwei Taschen hatte, die er der armen Witwe Maloney für ihre kleinen Hühnchen geben wollte.«

»Ja, das glaub' ich. Aber was hat er denn, als was das Volk ihm gibt? Und was die Leute ihm geben, gehört doch ihnen.«

»Er stammt wohl aus einer recht hochgestellten Familie?«

»Meiner Treu, das ist schwer zu sagen. Niemand weiß heutzutage, wo einer herkommt. Aber wenn er mit den Delmege von Lisnalee verwandt ist, ist er ein Vetter von mir –«

»Sagen Sie das im Ernste, Cauth?«

»Gewiß. Aber ich will es ihm um die Welt nicht merken lassen. Gott sei Dank, brauche ich weder Schmalz noch Suppe von ihm. Wenn wir auch arm sind, so sind wir doch anständige Leute.«

* * *

Der ereignisreiche Sonntag, der den Triumph der Demokratie, den ersten Beweis männlicher Unabhängigkeit bei den Leuten Roßmores sehen sollte, war herangekommen. Es herrschte großer Jubel bei den Männlichen und Starken, Schlachtenlärm und Siegesrufen, und entsprechende Niedergeschlagenheit bei den Schwachen und Bebenden. Denn der »General« war eine Großmacht. Ein tadelloser Fuchser, war er bei der Armee herzlich verhaßt gewesen. Er brachte nun ins Zivilleben die eiserne Disziplin seines Berufes. Er war auch eine schöne, glänzende, mitleidlose Maschine. Alle seine Untertanen suchte er sich möglichst zu assimilieren. Er allein hatte Roßmore zu dem gemacht, was es war: ein englisches Dorf mitten in einer irischen Bevölkerung. Mit großem Stolz fuhr er stets durch die eine Straße des Ortes, wenn er seinen englischen Besuchern zeigen wollte, was er geleistet hatte. Aber das Volk haßte ihn. Er war ein schlauer, gefühlloser Autokrat, der jedem unnachsichtlich die Pacht nahm, wenn nicht alles sauber in Ordnung war.

Die Urheber und Verteidiger der bekannten Resolution hatten den ganzen Weg entlang, den der General kommen mußte, Wachposten aufgestellt. Er wußte seinen Triumphzug immer so einzurichten, daß er der Hauptmasse der Dorfbewohner begegnete, wenn diese aus der Kirche kamen. Es überraschte ihn heute nicht wenig, als die erste Gruppe vorbeiging und fast krampfhaft über eine besonders amüsante Geschichte lachte. Sie waren so vertieft, daß sie den General nicht einmal sahen. Er wandte sich zu seiner Tochter, die neben ihm im Wagen saß, und meinte: »Da ist etwas los!«

Gruppe um Gruppe kam heran, lachend und plaudernd. Sie schienen alles zu sehen, nur den General nicht. Er wurde wütend, und obwohl er zur Kirche fuhr, um wahrscheinlich ein Friedensevangelium zu hören, fluchte er zwischen den Zähnen auf die schurkischen Rebellen. Er sah den Riesenbau seines Despotismus schon zusammenfallen. Die Wachposten triumphierten. Es war das große Erwachen des neuen Geistes, der gerade damals das träge Blut des irischen Lebens wieder in Wallung brachte. Sie mußten unwillkürlich lächeln, als Gruppe um Gruppe vorbeiging und die Männer ihre Hände tief in die Taschen vergruben und dort festhielten, damit ja nicht die Macht der Gewohnheit das große Prinzip, das auf dem Spiele stand, wieder umstürzte. Der General wurde bleich vor Wut, hieb auf sein Pferd ein, bis es dahinraste, und zügelte es dann plötzlich wieder, daß es sich auf die Hinterfüße stellte. Er war ein geschlagener Mann. Da kam ihm Frauenlist zu Hilfe. Seine Tochter ahnte rasch die Natur der Verschwörung; schnell riß sie die Zügel aus ihres Vaters Händen und zog das Pferd und den Wagen ganz an den Straßenrand hin, so daß die Leute auf ihrer Seite vorübergehen mußten. Dann heftete sie ihre braunen Augen auf eine kleine Gruppe und rief mit dem süßesten Lächeln: »Guten Morgen, Pat! Guten Morgen, Darby! Freut mich sehr, Sie so wohl zu sehen, Jem!«

Einen Augenblick gab es Verwirrung und Schrecken. Dann trug irische Ritterlichkeit, die immer irische Schlachten verliert, den Sieg über irischen Patriotismus davon. Sie zogen ihre Hände aus den Hosentaschen, nahmen ihre Hüte ab und sagten beschämt: »Guten Morgen, Miß Dora!«

Der General lüftete artig seinen Hut. Es war das erste Mal, daß er sich dieser Höflichkeit gegen seine Leibeigenen schuldig machte, deren Schlafzimmer er sogar mit dem Hut auf dem Kopfe betrat und durchforschte. Aber der Augenblick war kritisch. Die Schlacht war gewonnen. Jede folgende Gruppe folgte jetzt dem Beispiel; und Dora lächelte und grüßte sie und schmeichelte ihnen, während die Wachposten wüteten und donnerten und schreckliche Rachepläne ersannen.

Punkt drei Uhr nachmittags wurde eine Versammlung der Liga einberufen. Lukas war außer sich vor Unmut. Was ihn besonders schmerzte, das war diese entsetzliche Servilität. Er glaubte, der erste Schritt zur Unabhängigkeit Irlands sei die Schöpfung einer neuen, selbstbewußten Männlichkeit. Und heute brach er auch die Kruste höflicher, englischer Umgangsformen gänzlich durch und strömte ein Lavameer keltischer Beredsamkeit aus. Seine Zuhörer wurden bleich und zitterten unter seinen Worten. Sie hatten geglaubt, die ganze Geschichte hinwegscherzen zu können; nun wurde sie ernst. Es mußte etwas geschehen.

»Ist Ew. Hochwürden jetzt fertig?« fragte einer der Delinquenten.

»Vorläufig schon,« erwiderte Lukas.

»Möchte der Sekretär nicht die Güte haben und die Resolution nochmals verlesen?«

Es geschah mit großer Feierlichkeit.

»Ich erkläre, Hochwürden,« sagte der Hauptschuldige, »daß keiner von uns, die wir hier vor diesem Tribunal angeklagt sind, schuldig ist. Wir grüßten Miß Sebright, nicht den General, und die Resolution sagt nichts von Damen.«

»Das ist nur eine elende Ausflucht!« erwiderte Lukas zornig. Ein Sturm des Unwillens ging durch den Saal.

»Sie wissen sehr wohl,« fuhr Lukas fort, »daß das nur eine List war; und wie es Ihre Landsleute stets machten, so ließen auch Sie sich in der Falle fangen.«

»Ich weiß das nicht, Hochwürden,« nahm ein anderer Angeklagter das Wort, »wollen Sie aber nicht so gut sein und uns sagen, was Sie unter den gleichen Umständen tun würden?«

»Was ich tun würde?« widerholte Lukas.

»Jawohl, Hochwürden, was würden Sie tun, wenn Sie von einer Dame auf öffentlicher Straße gegrüßt würden?«

Lukas errötete, erbleichte und stammelte schließlich: »Darum handelt es sich nicht!«

»O ja! Gerade darum handelt es sich. Wenn Sie Sonntags von der heiligen Messe heimgingen und Miß Sebright sagte zu Ihnen: ›Guten Morgen, Vater Delmege‹, was würden Sie tun?«

»Ich würde jedenfalls den Gruß erwidern,« entgegnete Lukas tonlos.

»Das ist aber auch alles, was wir verbrochen haben,« rief der Sieger, triumphierend im Kreise herumblickend.

Und Lukas mußte bei sich selber zugeben, als das Meeting zu Ende war, daß diese Rasse ihre Ritterlichkeit verlieren und roh werden müßte, bevor sie je frei werden könnte in unseren Tagen der brutalen Gewalt. Aber ist die Freiheit überhaupt dieses Opfers wert? Hier also wieder das Rätsel, das Problem der Rasse!

Während der folgenden Woche blieb das Wetter stets warm, und an einem schwülen Nachmittag, als Lukas auf einem Krankenbesuche abwesend war, entfloh Mary der Hitze ihrer Küche und setzte sich ans offene Fenster in einem der oberen Zimmer. Es war da sehr angenehm kühl, und das Geisblatt trieb seine duftenden Blüten über die Blumentöpfe, die auf dem Fenstersims standen. Alles lud zum Träumen ein; und Mary war eben daran, sich dem Zauber hinzugeben, als ein Geräusch sie aufschreckte. Sie schaute auf und sah zu ihrem Schrecken die Gartentüre offen und den General kaltblütig auf seinem Schlachtroß den engen Kiesweg heraufreiten. Sein Haupt war jetzt, da er am Hause angekommen war, in einer Höhe mit dem Fenster, wo Mary saß.

»Guten Tag!« rief der General und zwang das Pferd, stillzustehen.

»Guten Tag!« entgegnete Mary, ohne sich zu rühren.

»Ist der hochwürdige Mr. Delmege zu Hause?«

»Nein, er ist nicht zu Hause. Auch glaube ich nicht, daß es ihn besonders freuen wird, seine Blumenbeete bei seiner Zurückkunft zertreten zu finden.«

»Kommt er bald zurück?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Würden Sie nicht die Güte haben und ihm mitteilen, daß General Sebright bei ihm vorsprach?«

»General was?« fragte Mary, die mit plötzlicher Taubheit geschlagen war.

»General Sebright,« wiederholte der Besucher. »Warten Sie, ich glaube, ich habe eine Visitenkarte bei mir.«

»O, Sie brauchen sich nicht zu bemühen,« erwiderte Mary stolz. »Er hat eine Menge davon in seinem Salon.«

Der General steckte die verschmähte Karte wieder ein und starrte hoffnungslos auf die Haushälterin.

»Vielleicht können Sie mir sagen, was Sie vom Herrn Kaplan wollen?« fragte Mary.

»O, es war nur ein Höflichkeitsbesuch. Guten Tag!«

»Guten Tag und viel Glück!« rief ihm Mary nach; dann sotto voce zu sich selber: »das meine ich aber nicht so aufrichtig, du alter Tyrann!«

Beim Mittagessen erzählte sie Lukas von dem Besuche. »Ich glaube, das kommt von der Lektion, die er letzten Sonntag erhielt,« fügte sie hinzu.

Nun befand sich Lukas in einem andern Dilemma. Sollte er den Besuch erwidern oder nicht? Er wußte sehr gut, daß die Visite nur diplomatisch gewesen war. Der General hatte Monate verstreichen lassen seit Lukas' Anwesenheit im Orte, bevor er so höflich geworden war. Aber was tun? Es war wohl das Beste, Schlauheit gegen Schlauheit auszuspielen. Wie würden aber seine Pfarrkinder seine Handlungsweise deuten? Wie würden sie den Verkehr mit ihrem Todfeind auffassen? Er sah alle möglichen Folgen voraus, aber er verachtete sie. Die Frage war: Was ist recht, und was ist nicht recht? Jawohl, er wollte im Herrenhaus seinen Besuch machen.

Bald führte er auch seinen Entschluß aus und wurde mit einer Art höflicher Verehrung empfangen. Ueber eine Stunde blieb er beim Tee sitzen. Kein Wunder. Der herrliche Salon war voll hübscher Gemälde; und dann die sanften, schweren Portièren und Teppiche, die allen Lärm erstickten und im Zimmer ein trauliches Farbendämmer schufen; die großen Vasen voller Chrysanthemen in allen Farben und Größen; das prächtige Piano und das Holzfeuer im offenen Kamin – ach ja, das war wieder die Grazie, die Schönheit und das Licht der Zivilisation! Und Lukas, der einen so feinen Geschmack besaß, fühlte sich ungemein wohl in dieser Atmosphäre des Luxus und der Bequemlichkeit. Und er theoretisierte und brachte Klagen und Andeutungen vor, die für den General sehr schmeichelhaft waren. Warum tat denn der irische Landadel nicht, was seine Brüder in der ganzen Welt taten? Warum stieg er nicht aufs Niveau des Proletariats herab und führte mit etwas Eifer und Selbstverleugnung die Bequemlichkeiten und die Aufklärung des höheren Lebens ein? Hier, so dachte er, liegt der radikale Unterschied zwischen England und Irland; in England besteht ein vollkommenes Bindeglied zwischen den Klassen, da der Hoch- wie der Landadel durch das Medium des Geistlichen und seiner Familie mit den arbeitenden Klassen verbunden ist, während in Irland ein unüberbrückter Golf zu ihrem beiderseitigen Nachteil zwischen ihnen existiert. Der General, seine Gemahlin und Tochter, hörten ihm mit Sympathie, sogar mit Enthusiasmus zu. Das war eine glückliche Idee! Die genaue Wiedergabe ihrer eigenen Ansichten! Und Mr. Delmege wünschte also wirklich, sie sollten in herzliche Beziehungen zum Volke treten, wie er so schön gesagt hatte? Ohne Frage! Nun, sie waren für seinen Vorschlag sehr dankbar und wollten genau danach handeln. Und Lukas fühlte, als er den Weg hinabschritt, der durch Dickicht und Strauchwerk führte, daß er der Lösung des ewigen, unlöslichen Problems wieder um einen Schritt näher gekommen war.

Es dauerte keinen Monat, ohne daß Lukas an einem unbehaglichen Gefühl gemerkt hätte, daß etwas nicht in Ordnung war. Seine Worte bei den Versammlungen der Liga fanden keinen Widerhall, und auf den Straßen grüßte man ihn in mürrischem Schweigen. Der gute alte Pfarrer machte ihm Andeutungen über Versuche von Proselytenmacherei, von denen er gehört hätte. Gewisse Damen hätten bei ihren Besuchen in den Bauernhäusern und unter dem Vorwand, einen feineren ästhetischen Geschmack unter den Dorfbewohnern einzuführen, versucht, die altehrwürdigen Bilder von Patrioten und Heiligen zu entfernen und an deren Stelle gute loyale Gemälde aus dem »Graphic« zu setzen. Zu Hause hatte Mary kein einziges lustiges Lied mehr gesungen, wohl aber, ach! zwei- bis dreimal heftig die Türe zugeschlagen. Kurz und gut, Lukas fühlte sich zwischen Scylla und Charybdis, den widrigen Strömungen und erbarmungslosen Strudeln des täglichen Lebens.


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