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XXXIV.
Cremona und Calvaria

Es war der Wunsch des Kanonikus, Lukas möge einige Tage in seinem Pfarrhaus verbringen. Aber Lukas zog Seaview Cottage vor. Der Kanonikus war stets höflich, gütig, gastfreundlich. Vater Martin war stets offen, manchmal sogar rauh. Aber Lukas zog die leichte Behaglichkeit von Seaview Cottage der ruhigen, ungestörten Würde beim Kanonikus vor. Auch die besten Menschen lieben einen Lehnsessel und die Bequemlichkeit, die Beine übereinanderschlagen zu können. Aber selbst im sonnigen Bibliothekszimmer war die Atmosphäre in diesen dunklen Tagen trübe. Nur die Augen Tinys und das Lachen Tonys erhellten sie etwas. Einmal abends, ehe die Kinder zu Bett gebracht wurden, betrachtete Tiny den ernsten, feierlichen Fremdling aufmerksam und lange, worauf sie heimlich einen Stuhl hinter den seinen schob, hinaufstieg und ihre Arme zutraulich um Lukas' Hals schlang. Er zog das Kind zu sich herüber, und küßte es.

»Da ist etwas, das Ihnen weh tut,« sagte das Kind und deutete auf seine Brusttasche.

»Ja, du hast recht, mein Liebling,« sagte er und zog ein Bündel Briefe heraus, die er in all seiner Eile uneröffnet von zu Hause mitgebracht hatte. Jetzt hatte er Muße.

Der erste war von seinem Bischof. Ein Kondolenzbrief, dachte Lukas. Als er aber las, ging sein Gesicht in die Länge. Er reichte das Schriftstück Vater Martin. Es war eine milde Zurechtweisung; aber es war eine Zurechtweisung, und ein Bischofswort trifft tief. Man hatte dem Bischof hinterbracht, Lukas erlaube nicht nur die Proselytenmacherei in seiner Pfarrei, sondern fördere sie sogar. Die Sache war dann an seinen Pfarrer weitergeleitet worden, der zu seinen Gunsten berichtete. Die Tatsachen ließen sich aber nicht leugnen; und der Bischof warnte nun Lukas, in Zukunft vorsichtiger zu sein.

»Es ist mein trauriges Geschick«, sagte Lukas melancholisch, »das Gute zu wollen und das Gegenteil zu vollbringen.«

»Du schaust zu viel auf Prinzipien – und zu wenig auf die Menschen,« entgegnete Vater Martin.

»Kann es etwas Besseres geben, als die zwei großen Klassen unseres Landes zu versöhnen und gegenseitig tolerant und hilfreich zu machen? Es ist jedenfalls die einzige Lösung eines scheinbar unlöslichen Problems.«

»Gewiß! Aber hast du je bedacht, daß du bei diesem Versuche nicht nur hoffnungslos widerstreitende Interessen, sondern sogar den Geist der Bejahung und Verneinung versöhnen willst?«

»Das sehe ich nicht ein,« erwiderte Lukas kopfschüttelnd.

»Erkennst du denn den Kern dieser Klage nicht? Das Volk widersetzt sich der Entthronung seiner Heiligen und Heroen. Diese sind ihm die Verkörperung einer großen Idee, eines Prinzips. Es ist der feste Glaube, daß es Heroismus, Tapferkeit, Wahrheit auf dieser elenden Welt gegeben hat und daher auch wieder geben kann. Da kommen nun deine vornehmen Damen und führen in der besten Absicht den Geist der Verneinung ein. ›Wer bist du?‹ sagte der Famulus zum Geiste des Bösen. ›Ich bin der Geist, der stets verneint,‹ war die Antwort. Und der kleine Pudel der Reformationsirrlehre, der die letzten drei Jahrhunderte im Kreise herumgegangen ist, ist jetzt zum dicken Ungeheuer angeschwollen. Und aus dem geschwollenen Ungeheuer Materialismus heraus tritt, begleitet von der Musik der Geister der Poesie und der schönen Künste, der feingebildete, höfliche Gelehrte, der seinen Bückling macht: ›Ich bin der Geist, der stets verneint‹.«

Lukas schauderte.

»Und doch,« erwiderte er, »sind das die edelsten, schönsten Seelen, die ich je drüben über dem Kanal traf. O welch ein Rätsel, welch ein Rätsel!«

»Lasse das Rätsel doch Rätsel sein und schließe dich enge an dein eigenes Volk an – das Volk der Ewigkeit! Lasse die Söhne und Töchter der Menschen gehen!«

Das Volk der Ewigkeit! Ja, wahrhaftig! Das sind die Iren, wie Lukas jeden Tag mehr und mehr erkannte. Zeit und Welt scheinen dieser Rasse nichts zu bedeuten, die alles mit den Augen von Wesen betrachtete, die selbst schon körperlos sind.

Lukas saß in der dunklen Sakristei von Roßmore am Abend von Allerheiligen – am Vorabend von Allerseelen. Eine lange Liste lag vor ihm – die Namen der Verstorbenen, für die am nächsten Morgen gebetet werden sollte. Die ganze Sakristei war voll von Leuten, und von draußen herein hörte man die Stimmen der Wartenden. Einer nach dem andern traten sie heran und legten die kleine Gabe auf den Tisch, während sie mit skrupulöser Genauigkeit die Namen der Toten nannten. Tränen lagen auf manchem Antlitze, und manche gebrochene Stimme wiederholte den Namen des Verstorbenen, und immer mit Dankbarkeit und Achtung. Nicht nur der Verwandten, sondern sogar vorübergehender Bekanntschaften im Leben wurde dabei gedacht.

»Für meinen armen Buben, Hochwürden, der im Schnee des Himalaja begraben liegt.«

»Für den guten Vater, der mich nüchtern und ehrlich erzog.«

»Für Mary Carmody, Hochwürden,« flüsterte eine Stimme.

»Ihre Schwester?«

»Yerra, nein, Hochwürden! Sondern ein armes Geschöpf, das wir von der Straße auflasen.«

»Für meinen Kameraden Mike Mulcahy, Hochwürden,« sagte ein wetterharter Pensionist, die Finger an die Stirne legend.

»Getötet?« fragte Lukas, der nie zu viele Worte machte.

»Bei Gott, jawohl, Hochwürden,« entgegnete der Pensionär und setzte sich zu einer langen Erzählung nieder, unbekümmert um die fünfzig oder sechzig Personen, die hinter ihm warteten und die Geschichte schon hundertmal gehört hatten. »'s war in der Krim, vor Sebastopol, und wir lagen dort in den Laufgräben, bis an den Hals herauf im Schmutz; und die russischen Granaten flogen über unsere Köpfe weg wie eine Schar Krähen am Abend. ›Schau,‹ sagte ich, ›und richte deinen Kopf in die Höhe!‹ ›Das geht nicht,‹ sagte er. ›Macht nichts,‹ sagte ich und danke Gott heute noch jeden Tag, daß ich nicht an seinem Tod schuld bin. ›Sie sind jetzt ruhig,‹ sagte er, ›und da geht –‹ ›Was hast du gesehen?‹ fragte ich. Keine Antwort. ›Was hast du gesehen?‹ fragte ich nochmals. Wieder keine Antwort. Da blickte ich um. Sein Kopf war ihm rein weggeblasen worden und –«

»Armer Kerl!« sagte Lukas, der die Ungeduld der Menge merkte. »Hoffentlich war er vorbereitet.«

»Vorbereitet? Ja, das war er! Wir hatten alle ein paar Tage vorher Vater Walsh gebeichtet.«

»Wissen Sie was,« sagte Lukas, »ich möchte die Geschichte gar zu gern vollständig hören. Möchten Sie nicht morgen Abend zu mir kommen und mir alles von Anfang bis zu Ende erzählen?«

»Ja, das will ich schon, mit dem größten Vergnügen,« erwiderte der wackere Veteran; und er ging gar stolz hinweg ob der Ehre, die ihm widerfahren. Nach der Zusammenkunft sprach er von Lukas nie mehr anders als »mein Freund Vater Lukas« und fügte hinzu: »Solche Leute brauchten wir als Armeekapläne. Wenn der Herzog ihn kennen würde, hätte er ihn in einem Monat in Aldershot.«

»Für meine Eltern und verstorbenen Freunde,« sagte ein starker, rauher Mann, der in sehr überlegener Weise sprach, als ob er beleidigt wäre, daß sein Vorgänger so wenig Takt besessen hatte. Lukas notierte die Namen.

»Schreiben Sie jetzt den Namen Martin Conollys hin, Hochwürden, Soldat der föderierten Armee, der an den Wunden verstarb, die er bei dem glänzenden Angriff der irischen Brigade bei Fredericksburg erhielt.«

»Das ist kaum nötig,« sagte Lukas.

»Doch, doch, Hochwürden. Mein armer Kamerad muß sein Recht in der andern Welt erhalten, da er es in dieser nicht bekam.«

»Das war Meaghers Brigade,« entschlüpfte es Lukas in einem Augenblick der Begeisterung.

Der arme Soldat lächelte, stellte sich in Positur und streckte seine rechte Hand hin.

»Ah, Sie wissen es, Hochwürden. Gott segne Sie! Legen Sie Ihre Hand hierher!«

Und Lukas legte seine Rechte in die große, breite Handfläche. Der alte Mann aber hob sie ehrfürchtig empor und küßte sie.

»Schreiben Sie die Seele Thomas Francis Meaghers hin, Hochwürden,« seufzte er. »Ihn darf ich nicht vergessen. Ich stand so nahe neben ihm wie jetzt neben Ew. Hochwürden. ›Jungens,‹ sagte er, ›denkt, wer ihr seid! Ich bin so stolz, die tapfersten und besten Männer der föderierten Armee zu Sieg oder Tod führen zu dürfen! Jungens,‹ sagte er, ›macht eurer Fahne keine Schande! Wollte Gott, ich hätte euch auf den Abhängen des Slievnamon. Würden wir da die Rotjacken nicht zum Teufel jagen?‹ Dann hielt er inne, als ob er alter Zeiten und Kameraden gedächte. ›Dimpsey,‹ sagte er zum Stabstrompeter, ›spiel uns Brian Borus Marsch auf! Senkt das Gewehr – vorwärts!‹ Und in den Tod hinein ging's! Vater Walsh, aber nicht der Vater Walsh von diesem da,« sagte er, verächtlich auf den ersten Pensionär weisend, »sondern unser eigener Vater Walsh – Gott segne ihn, er war ein feiner Mann – saß auf seinem Pferde, als wir vorübermarschierten. Er war ein großer Mann mit einem großen, schwarzen Bart und er hob seine Hand segnend über uns, als wir abzogen. Ich legte meine Hand auf sein Knie und sagte: ›Vater,‹ sagte ich, ›geben Sie mir einen doppelten Segen, denn ich bin ein doppelter Spitzbube.‹ Er lachte, der arme Mann, es war das letzte Mal, daß wir es sahen. Denn wir standen noch keine zwanzig Minuten im Feuer, um die Höhen zu erstürmen (wir hätten freilich ebenso gut die Himmelstore erstürmen können), als ich niederstürzte, von einem Granatsplitter im Schenkel getroffen. Und der arme Martin stürzte ebenfalls nieder; eine Kugel hatte seinen linken Lungenflügel durchbohrt. Wir mußten die ganze Nacht in der Kälte auf dem Schlachtfelde aushalten; wir starrten die Sterne an und hatten nichts zu essen und zu trinken. Ringsum aber stöhnten und ächzten die Verwundeten. Um Mitternacht sahen wir Lichter, und als sie nahe genug herankamen, erkannten wir die Generäle der Konföderierten, die sich nach ihren Leuten umsahen. ›Da hab' ich noch eine Kugel für die rebellischen Schurken,‹ brummt da Martin und schiebt eine Patrone ins Gewehr. ›Dann sterbe ich leicht.‹ ›Denk' an deine Seele, du Raufbold,‹ sage ich, und mehr sagte ich nicht, Hochwürden – ›willst du mit einem Morde auf deiner Seele vor Gott hintreten?‹ ›Sie töteten heute manchen tapferen Mann,‹ sagt er und spuckt Blut. ›Ehrlich Spiel ist gutes Spiel,‹ sage ich und reiße dem Raufbold das Gewehr aus der Hand. Und mein Wort drauf, Hochwürden: wenn er den Schuß abgefeuert hätte, wären augenblicklich alle Rebellen auf uns losgestürzt und hätten wie der Teufel um sich geschlagen und geschossen. Aber ich fürchte, ich halte die Nachbarn zu sehr auf, die der Krimkriegpensionist so lange warten ließ.«

»Diese Gabe ist zu viel für Sie,« sagte Lukas und schob ihm eine halbe Krone zurück. »Ich behalte gerade die Hälfte.«

»Keinen Pfennig nehm' ich zurück, Hochwürden,« rief der Alte, die Münze zurückschiebend. »Wir amerikanischen Veteranen sind keine armen englischen Pensionisten mit einem halben Schilling den Tag.«

Triumphierend zog er ab. Nach einigen Minuten kam er aber schon wieder und bahnte sich durch die Weiberschar einen Weg zu Lukas hin.

»Mir fiel ein, Sie könnten es vergessen haben. Haben Sie Martin Conolly, Soldat in der föderierten Armee, der an den Wunden starb, die er durch einen Kanonenschuß erhalten hatte, in Ihrer Liste aufgezeichnet?«

»Gewiß! Gewiß!«

»Und Thomas Francis Meagher, Brigadegeneral?«

»Gewiß! Gewiß!« versicherte Lukas.

Es war eine düstere, sternenlose Nacht, als Lukas wieder in seine Wohnung zurückkehrte. Sorgfältig Schritt für Schritt ausgreifend, war er die unebene Dorfstraße entlang geschritten und trat eben in den Vorgarten vor seinem Hause ein, als er eine Gestalt bemerkte, die ihn augenscheinlich erwartete. Sie folgte ihm ins Haus.

»Ich bin so kühn gewesen, zu Ew. Hochwürden zu kommen,« sagte die Stimme eines alten, gebrechlichen Weibleins, dessen Gesicht und Gestalt unter einer Masse von Kleidern verborgen war.

»Schon recht, gute Frau. Was kann ich für Sie tun?« fragte Lukas.

»Ich hatte Ihnen nichts zu geben,« sagte sie, »und wollte in der Sakristei nicht gesehen werden; aber wenn Ew. Hochwürden in der Messe der Seele Vater O'Donnells gedenken wollten –«

»Vater O'Donnell? Vater O'Donnell? Ich habe den Namen noch nie gehört!«

»Das glaube ich, Hochwürden! Sie sind noch zu jung, Gott segne Sie! Er ist schon seit vierzig Jahren tot. Ich pflegte ihn in seiner letzten Krankheit, und er sagte immer: ›Nellie, vergessen Sie mich in Ihren Messen und Gebeten nicht! Die Leute meinen, für uns gebe es kein Fegefeuer; aber sie wissen nicht, wie streng wir für all die Gnaden, die wir bekommen, gerichtet werden.‹ Ich habe die Worte nie vergessen. Und doch, wenn jemand den Himmel verdient hat, dann war er es, der arme, liebe Priester! Aber ich habe seine Worte wohl im Gedächtnis und ließ noch kein Allerseelen vorübergehen, ohne daß ich ihn in der hl. Messe für die Toten erwähnt bekam.«

»Es soll auch diesmal geschehen, meine liebe Frau,« sagte Lukas gerührt.

»Gott segne Ew. Hochwürden!« dankte sie und trat demütig in die Nacht hinaus.

Und Lukas setzte sich ans Kaminfeuer seines Arbeitszimmers. Er las aber nicht. Er hatte so viel zu denken. Auch das wurde ihm bald unerträglich. Er setzte sein Birett auf und trat auf seinen kleinen Gartenweg hinaus. Die Nacht war sehr dunkel, nur da und dort schien ein Licht im Dorfe. Und weit über dem Orte, mitten aus dem Schoße der Finsternis heraus, erglänzten die Lichter des Herrenhauses. Der Wind klagte unheimlich; aber es war ein warmer Wind; und für den, der glaubte, daß gequälte arme Seelen wieder auf die Erde kamen, um Buße für ihre Verfehlungen zu tun und das Almosen des Gebetes zur Sühne zu erbitten, war das mitleidweckende Flehen: Miseremini mei! miseremini! der stete Refrain des klagenden Windes. Aber nicht das, sondern die tiefe Anteilnahme dieses armen Volkes an seinen Toten war es, was auf Lukas so großen Eindruck machte. Er gedachte der Worte seiner Schwester: »Lieber Lukas, liebe die Armen, und dein Leben wird voll Sonnenschein sein!« Und er liebte sie auch, tief und ernstlich; aber in der harten, mechanischen Art, die nicht zu Herzen dringt. Er wollte sie emporheben, und siehe, sie waren schon auf dem Gipfel der ewigen Hügel, weit über ihm! Er wollte ihnen alle Süßigkeit und alles Licht des Lebens zeigen, und sie wandelten schon in den Gärten der Ewigkeit! Wozu nützte es, vom Sparen zu einem Volke zu reden, dessen täglicher Gedankengang es weit in die Regionen entführte, wo die Zeit nichts mehr gilt? Und den Wert des Geldes jenen begreiflich zu machen, die, wenn sparsam und nüchtern, die physische Behaglichkeit vollkommen verachteten und den Tod des Reichen als den Gipfelpunkt alles irdischen Unglücks betrachteten? Es begann in Lukas' Geiste aufzudämmern, daß es moralische, und nicht nur ökonomische, Gründe waren, die das Volk von seinem Heimatland forttrieben. Der Mammon verdrängte sie und die Unruhe, die Glück und Frieden im Salon, auf den von elektrischen Lampen beleuchteten Straßen, in den Opernhäusern und Theatern suchte. Und er begann zu verstehen, was seine Konfratres meinten, wenn sie von der Schöpfung einer neuen Zivilisation sprachen, einer Zivilisation, die spartanische Einfachheit des Lebens mit christlicher Moral vereinte und das Volk zu einem höheren Dasein emporhob. Alle Bemühungen seiner Rasse erstrebten eine solche neue Kultur statt des stetigen Herabsinkens, das sicher folgen mußte, wenn die neuen, rein materialistischen Dogmen, die sich auf nur natürliche Tugenden gründeten, das Licht des Evangeliums einmal verdunkelt hatten. Und wenn für einen Augenblick seine Gedanken an eine selbstsüchtige, kluge, hartherzige und mit allen den vorteilhaften Eigenschaften des Luchses und des Eichhorns ausgestattete Rasse zurückkehrten und seine Vernunft zu der Schöpfung eines geistigen Reiches Utopia! Utopia! sagte, – dann fielen wieder die Stimmen der Nacht mit ihrem Miseremini mei! miseremini mei! ein, die Kinder der Ewigkeit, welche die Kinder der Zeit um die Almosen des Gebetes und des Opfers anriefen.

Lukas war außerordentlich tätig diese Woche. Er fand keine Zeit eine Sonntagspredigt vorzubereiten. Er hatte seine ganze politische Oekonomie erschöpft und fing an, ihrer überdrüssig zu werden. Es wurde Samstag abend. Er war von seinem Beichtstuhl zurückgekehrt und in gedrückter Stimmung. Auch da mied ihn das Volk. Nichts verursachte ihm solche Pein, als wenn er Samstags oder an den Vorabenden von Festtagen die Kirche betrat und seinen eigenen Beichtstuhl leer sah, während eine große Menge den des alten Pfarrers umlagerte; selbst die kleinen Kinder, die er doch so liebte, senkten ihre Köpfe, halb erschrocken, daß er sie sah, oder warfen einen scheuen, verstohlenen Blick auf den ernsten, feierlichen Kaplan. Er verstand das nicht. Er war doch immer gütig, mild und nachsichtig gegen alle Beichtenden. Warum mied man ihn? Er hatte den Schlüssel zum Uebernatürlichen verloren und wußte es nicht. Ein einziges Wort über Gnade und Ewigkeit, über das hl. Herz Jesu oder sein kostbares Blut, über die jungfräuliche Gottesmutter oder den hl. Joseph, würde ihm Ströme der Reue und Liebe eröffnet haben. Ja, selbst wenn er sie gescholten hätte und hart mit ihnen gewesen wäre um ihres Seelenheils willen, so hätten sie ihn geliebt. Aber Güte aus Klugheit, das verstanden sie nicht; und alle seine Ermahnungen fielen welk und trocken auf Herzen, die nach Höherem dürsteten.

Er nahm ein Zeitungsblatt zur Hand. Zufällig fiel sein Blick auf den kurzen Bericht einer Schlacht, die vor mehreren hundert Jahren im fernen Cremona geschlagen worden. Die Einzelheiten amüsierten ihn, sie waren so charakteristisch. Er legte die Zeitung weg.

»Bei Gott!« rief er. »Ja, das tue ich. Morgen predige ich über Cremona und Calvaria!«

Und er tat es auch; es kostete ihn aber eine furchtbare Anstrengung. Namentlich in seiner Sprache hatte er sich so an Selbstzucht gewöhnt, daß seine glatten, gemessenen Worte anfangs nur auf ein kaltes und gleichgültiges Auditorium fielen. Er leitete den Gegenstand mit einem Rückblick auf das Fest Allerseelen ein, das soeben vorüber war. Er wollte darlegen, daß die Liebe zu den Toten stets ein Merkmal des irischen Volkes war, daß Soldaten für ihre toten Kameraden, ja selbst für den Feind, den sie vernichtet hatten, beteten. Dann leitete er auf Cremona über; zwei irische Regimenter, Dillons und Burkes (die alte Mountcashelbrigade), lagen in der Stadt. Und er beschrieb die große französische Armee, die in der berühmten italienischen Stadt im Schlafe lag, die heimliche Annäherung des Feindes, sein erfolgreiches Eindringen, sein Biwak auf dem Marktplatz, während die Garnison schlief. Die Zuhörerschaft erwachte beim Klange der altvertrauten Namen Dillon, Burke, Mountcashel. Der Vereinigte Staatenpensionist und der Krimveteran erhoben sich in ihren Sitzen. Und als Lukas dann die Reveille um Mitternacht beschrieb, die die Schläfer mit dem fürchterlichen Rufe »Der Feind ist unter uns!« erweckte, wie alles rasch zu den Waffen griff und wie die zwei irischen Regimenter im Hemd sich auf den Feind warfen und ihn in heldenmütigem Ringen aus der Stadt warfen, dann die Zugbrücken aufzogen, die die Eingänge beherrschten, und Angriff auf Angriff der feindlichen Kürassiere abwiesen – und all das, während ihr Marschall sich in den Händen der Feinde befand –, da ließ er sich gehen, das erstemal seit langen Jahren, und zeichnete mit all der Emphase keltischer Einbildungskraft die Tapferkeit dieses Ueberbleibsels der irischen Brigade. Ein breites Lächeln trat auf das Gesicht der Leute, als er vom déshabillé und der mangelhaften Toilette der irischen Söldner sprach; als er aber fortfuhr, zu beschreiben, wie die Sieger nach der Schlacht hinaustraten, um die Toten zu bestatten, und einige Hunderte ihrer Landsleute unter den Oesterreichern fanden, die unter ihrem eigenen Feuer gefallen waren, und wie sie niederknieten und über den Toten beteten und dann ein mächtiges Kreuz über ihren Gebeinen errichteten, da trat keltischer Schmerz an die Stelle der keltischen Begeisterung; und zum ersten Male in seinem Leben sah Lukas Tränen auf den Gesichtern seiner Zuhörer. Er sprach dann weiter von den Kreuzen, die man überall in katholischen Ländern auf dem Kontinente antrifft – am Wege, auf Berghöhen, an Straßenecken; und er gab seinem Erstaunen Ausdruck, daß in einem katholischen Lande wie Irland diese Zeichen des Glaubens und der Frömmigkeit fast unbekannt seien. Er schloß seine Worte mit der Homilie über den Tod – sein eigener Trauerfall gab seinen Worten noch mehr Kraft – und kehrte mit einem vollen Herzen an den Altar zurück.

Die erste Frucht dieser Predigt zeigte sich in einem ausgezeichneten Mittagessen. Marys Laune wechselte häufig, und ihre Stimmung beeinflußte die Küche. Heute wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das Bild der irischen Soldaten, die aus ihren Betten auf den Feind sprangen und halbnackt viertausend Feinde aus der Stadt warfen, reizte ihre Phantasie. Aber der Gedanke an Lukas' Mutter, auf deren Tod er leise angespielt hatte, stimmte sie wieder traurig; und Lukas fand Delikatessen auf seinem Mittagstisch, deren Namen er nicht einmal kannte. Und Mary sagte vertraulich zu John: »Ich wußte es schon, daß der Herr das Herz auf dem richtigen Fleck hat; aber Priester können sich nicht aussprechen wie gemeine Leute.«

Auch in der Haltung der meisten Pfarrkinder zeigte sich eine plötzliche große Aenderung. Statt der scheuen, verstohlenen Blicke, die halb erschreckt und halb respektvoll waren, gingen die Männer jetzt heiter und freimütig auf ihn zu und redeten ihn an. Einige sagten sogar mit frohem Lächeln: »Ein prächtiges Wetter, nicht wahr, Vater Lukas?« Und die Frauen knixten und flüsterten: »Gott segne Ew. Hochwürden alle Tage Ihres Lebens!«

Der Dorfmetzger, der ein großer Patriot vor dem Herrn und für gewöhnlich schweigend, wenn nicht mürrisch, gegen Lukas war, wurde plötzlich ganz vertraut. Und Kalbsgekröse, Lebern und Kitzen strömten in Lukas' Küche. Und von weit her brachten ihm arme Frauen ihre ersten Truthähne, für die sie zehn Schillinge pro Paar bekommen konnten, und der Gartenraum ertönte wider von Hühnergegacker.

Und wenn er jetzt an den jungen Leuten auf ihrem Sonntagsspaziergang, oder wenn sie zur Arbeit gingen, vorbeikam, so wurde er statt der kalten Ehrfurcht, mit der sie früher ihre Hüte abgezogen hatten, nun mit zuvorkommender Freundlichkeit gegrüßt; und ein vertrauliches Lächeln auf den Gesichtern schien zu sagen: Das war ein guter Witz – der von den irischen Sanskulotten, die wie Verrückte die Straßen und Plätze Cremonas durchfegten.

Ungefähr vierzehn Tage später war es Lukas, als ob das Landschaftsbild verändert wäre. Er rieb sich die Augen und studierte sorgfältig jeden kleinen Zug des ihm jetzt so wohlbekannten Bildes. Endlich entdeckte er die Neuerung. Jenseits der roten Ziegeldächer des Dorfes stieg ein steiler Hügel an, der mit Wald bestanden war und an dessen Abhang das Herrenhaus sich anlehnte. Gerade über ihm und den dunklen Farben des herbstlichen Waldes, auf dem Gipfel des Hügels und sich scharf gegen den Himmel abhebend, befand sich ein riesiges schwarzes Kreuz. Lukas rieb sich die Augen nochmals und rief Mary herbei.

»Sehen Sie etwas Sonderbares da gerade über dem Herrenhaus?« fragte er.

»Wo, Hochwürden?« erwiderte sie lächelnd und schaute überallhin, nur nicht in die bezeichnete Richtung. Sie kannte das Geheimnis längst.

»Da!« sagte Lukas und zeigte mit dem Finger auf den Berg. »Da scheint etwas Ungewöhnliches am Horizont zu sein.«

»Ja, wirklich«, sagte Mary, die jetzt auch langsam die Entdeckung machte. »Das ist etwas wie ein Kreuz.«

Dann sah Lukas, daß Mary lächelte.

Da ging er die Straße hinunter, die das Dorf durchquerte und hinter des Generals Besitzung bis auf den Gipfel des Hügels führte. Auf dessen Spitze trennte der Weg die Domäne von den Farmen in der Nachbarschaft. Und von einer Hagedornhecke umgeben lag da ein großer Haufen moosbewachsener Steine, der noch aus der Druidenzeit stammte. Er war meilenweit ringsum sichtbar, und noch als Knockane-na-Coppaleen, der kleine Hügel der kleinen Pferde, bekannt. Niemand wagte ihn zu berühren, obwohl es bekannt war, daß Gold unter ihm vergraben war. Hatte nicht der Bauer Mahony, ein hartgesottener Ungläubiger, einmal ein paar Steine des Haufens weggenommen, um eine Grube auszufüllen, und war auf der Stelle tot liegen geblieben? Und waren die Steine nicht von unsichtbaren Händen zum Haufen zurückgetragen worden? Aber es konnte niemand schaden, das alles besiegende Zeichen der Erlösung hier aufzustellen; und da stand es nun auf der Spitze des Haufens, mit Speer und Schwamm und einer Krone von wirklichen Dornen darüber. Lukas schaute lange auf das mächtige Symbol; dann kehrte er wieder um und bemerkte im Hinunterschreiten, daß die Rasenoberfläche des Abhanges in regelmäßigen Stücken entfernt worden war. Ganz unten angekommen, schaute er aufwärts. Jawohl! In klaren Buchstaben und so riesig groß, daß man es von den fernen Hügeln von Clare hätte lesen können, stand da auf dem Rasen zu lesen:

»Gelobt sei Jesus Christus in alle Ewigkeit!«


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