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XXXIX.
Martyrium

Als Lukas am folgenden Tage nach Hause zurückgekehrt war, überwältigten ihn Schmerz und Reue fast. Der plötzliche Gegensatz zwischen seinem eigenen Leben, das zwar fleckenlos und ohne Makel, aber alltäglich und unheroisch war, und dem Leben dieses armen Priesters, der sich um Christi willen aller Dinge entäußerte, und der noch größere Kontrast mit dem erhabenen Heroismus dieses jungen Mädchens erfüllten ihn mit der heftigsten Selbstverachtung, die edle Seelen fühlen, wenn sie das Leben der Heiligen Gottes betrachten.

»Ich habe mich stets mit Problemen abgequält,« sagte er. »Hier ist die große Lösung; verliere alles, um alles wiederzufinden!«

Selbst die Güte des Bischofs, die große Dinge für die Zukunft versprach, konnte dieses Empfinden nicht verscheuchen. Im Gegenteil, sie erhöhte es.

»Ich bin mit großen Seelen in Berührung gekommen,« sagte er. »Ich will sehen, ob ich ihrer nicht würdig sein kann. Könnte ich den großen alten Mann ohne Rührung und die junge Heilige ohne tiefe Beschämung wiedersehen? Und doch sind Heroismus und Himmel ebensogut für mich da, wie für sie!«

Er begann sofort. Ein Ausstattungsstück nach dem andern verschwand aus seinem Schlafzimmer, bis nur noch das Allernötigste vorhanden war. Dann machte er es ebenso mit seinem Salon. Nur seine Bücher behielt er zurück. Dann bat er um ein Kreuz. »Schneide, brenne, zerstöre!« Er setzte Gottes Willen keine Schranken. Er flehte um das Unbekannte und schloß seine Augen. Und das Kreuz kam.

Eines Morgens erhielt er einen Brief von Vater Cussen des Inhalts, daß die Austreibungen aus der Pacht in Lough und Ardavine voraussichtlich nächste Woche beginnen würden. Lisnalee müsse wahrscheinlich zuerst dran glauben. Schon nach ein paar Tagen teilte ein zweiter Brief mit, daß der Schreckenstag herangenaht sei. Eine Kompagnie Soldaten sei in das Dorf gelegt worden, und die Polizei sammle in der benachbarten Stadt Mannschaften. Er entschloß sich, sofort Roßmore zu verlassen, und nach Seaview Cottage zu gehen, um dort die Ereignisse abzuwarten.

Während er diese Briefe las, bemerkte er, daß Marie unter irgend einem Vorwand zögerte, das Zimmer zu verlassen. Sie machte sich am Kamin zu schaffen und rückte die Vasen auf dem Sims hin und her, bis Lukas sagte:

»Nun, Marie, was gibt's denn?«

Marie stotterte heftig zitternd heraus:

»Ich wollte Ew. Hochwürden den Vorschlag machen, sich um eine andere Haushälterin umzusehen.«

»Was, Sie wollen mich verlassen? Ich glaubte immer, Sie wären gerne hier, Marie.«

»Das war ich auch,« sagte das Mädchen, während sie an ihrem Schürzenzipfel kaute und die Bilder an den Wänden aufmerksam betrachtete.

»Ja, warum wollen Sie dann fort? Sind Sie mit Ihrem Lohne nicht zufrieden?«

»Ach, daran liegt's nicht,« entgegnete Marie mit Stirnrunzeln.

»Na, Sie werden doch nicht mit den andern nach Amerika wollen?«

»Ach Gott, nein, Hochwürden!« rief das Mädchen und biß noch heftiger auf ihre Schürze los.

»Nun, ich kann Ihr Geheimnis nicht erraten,« meinte Lukas. »Sie haben so Ihre eigenen Ideen –«

»Mein Gott, es ist, weil ich heiraten will«, platzte Marie heraus.

»Heiraten?« schrie Lukas bestürzt.

»Jawohl, Ew. Hochwürden! Warum soll ein armes Mädel nicht heiraten, wenn sie Gelegenheit hat?« erwiderte sie ärgerlich.

»O doch, gewiß, gewiß! Aber ich hoffe, mein gutes Mädchen, Sie machen eine recht gute Partie. Sie verdienen einen guten Mann.«

»Na, er ist gerade keiner von den Besten.«

»Er trinkt doch nicht?« fragte Lukas ängstlich.

»O nicht so arg viel, Hochwürden! Nicht mehr als andere Leute auch.«

»Sie müssen nämlich wissen, Marie,« erklärte Lukas gütig, »das schlimmste, was ein junges Mädchen tun kann, ist, einen Trunkenbold zu heiraten in der Hoffnung, ihn zu bessern.«

»O, so schlimm ist er nicht, Hochwürden!«

»Kenne ich ihn?« fragte Lukas.

»Freilich kennen Sie ihn«, erwiderte Marie und wurde dunkelrot.

»Gehört er zu unserer Pfarrei?«

»Natürlich gehört er dazu, Hochwürden,« bestätigte Marie etwas belustigt.

»Ich will Sie nicht weiter ausfragen –« meinte Lukas und wandte sich ab.

»Ach Gott, es ist Ihr John, Hochwürden,« sagte Marie, jetzt purpurrot vor Verwirrung.

»John? was für ein John?«

» Ihr John, Hochwürden!« rief das arme Mädchen.

»Was! Der Rohling!« schrie Lukas entsetzt.

»Das ist er nicht!« sagte Marie schmollend. »Er ist ein anständiger junger Mann.«

»Nun, die Ehen werden im Himmel geschlossen, denke ich,« sagte Lukas resigniert. »Aber ich glaubte, Sie und John zankten sich immer.«

»Ach, das war nie so schlimm!«

»Sie können natürlich tun, was Sie wollen, Marie,« sagte ihr Herr schließlich. »Aber es wäre mir sehr unangenehm und ungelegen, wenn Sie mich gerade jetzt im Stich lassen wollten. In den nächsten Tagen sollen mein Vater und meine Schwester auf die Straße geworfen werden, und sie haben kein anderes Obdach als bei mir!«

»Halten Sie ein, Hochwürden, halten Sie ein!« rief Marie. »Und wenn es sieben Jahre dauerte, John muß warten.«

Aber John sah die Notwendigkeit dieses Aufschubs nicht ein, und es folgte jetzt eine weitere Szene in der Küche.

»Du willst also nicht?« fragte John zum letzten Male.

»Nein, ich will nicht,« erklärte Marie entschieden.

»Nun, es gibt ja noch mehr Fische im Meer,« sagte John.

»Geh und hole sie!« war Maries Antwort.

Aber nach längerer Ueberlegung gab John doch nach.

»Es geschieht auch nicht deinetwillen,« sagte er, »sondern wegen unseres Herrn. Es wäre nicht schön, wenn wir ihn in seinem Unglück verließen.«

So ging denn Lukas nach Seaview Cottage und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Er hatte nicht lange zu warten. Am nächsten Morgen, als sie beim Frühstück in dem hübschen, kleinen Zimmer saßen, das auf die See hinausging, klang an ihre Ohren ein dumpfer, klagender Ton, der von ähnlichen Tönen da und dort im Lande aufgefangen und beantwortet zu werden schien.

»Das ist das Signal der Austreibung,« sagte Lukas und erhob sich. »Laßt uns gehen!«

»Setze dich doch wieder und iß dein Frühstück!« mahnte Vater Martin. »Du hast ein langes Fasten vor dir.«

Aber Lukas gehorchte der Mahnung nicht. Das Heim seiner Kindheit sollte in Flammen, Rauch und Vernichtung aufgehen, wie konnte er da ruhig sitzen und essen? Er stürzte eine Tasse Tee hinunter und wartete ungeduldig auf Vater Martin.

Sie fuhren schnell hin und fanden das Verfahren schon begonnen. Als sie mit Mühe die aufgeregte riesige Volksmenge erreichten, die hin- und herlief vor Erregung, sah er die rote Soldatenlinie, die den Kordon um das Haus bildete; und innerhalb dieses Kordons die dunkle Schar von Polizisten, die die Gerichtsdiener vor Gewalttätigkeit zu schützen hatten. Die Soldaten standen in lässiger Haltung umher, schauten dumpf auf die Mündungen ihrer Gewehre und ließen die Köpfe hängen. Es war schmutzige, unsoldatische Arbeit, und sie schämten sich. Ihr junger Offizier wandte dem ganzen schmählichen Vorgang den Rücken zu, zündete sich eine Zigarette an und starrte auf die Landschaft hinaus. Die Priester grüßten Vater Cussen nur kurz, der sich aus Kräften bemühte, das rasende Volk zurückzuhalten. Er hatte kaum Zeit, Lukas zuzuflüstern: »Ich wollte, wir besäßen heute alle Ihre kühle Ruhe. Es wird bös werden, und wir hätten sie recht nötig.«

Dabei schlug er rasch die Hand eines Bauern nieder, und ein großer, eckiger Stein fiel zu Boden.

Lukas und Vater Martin baten um die Erlaubnis, in das Haus treten und den Inwohnern Tröstung spenden zu dürfen. Man schlug es ihnen höflich ab. Sie blieben deshalb außen stehen und schauten dem Verfahren zu – Vater Martin ängstlich und mitleidig, Lukas bleich vor Erregung. In solchen Dramen, die, ach, in Irland so häufig sind, verhalten sich die Ausgetriebenen gewöhnlich feindlich und widerspenstig gegen das Gesetz. Oft werden die Gerichtsbüttel angefallen und ihr Leben bedroht. Aber im vorliegenden Falle verhinderten der Glaube und die Ergebung in Gottes unerforschlichen Willen, die bis heute den alten Mike Delmege ausgezeichnet hatten, und die sanfte Art seiner Tochter und ihres Mannes alles derartige Vorgehen. Und als die Gerichtsboten das Bauernhaus in Lisnalee betraten, um ihren gräßlichen Auftrag zu vollführen, da trafen sie nur auf Schweigen, aber nicht auf den geringsten Widerstand.

Es war ein herzzerreißender Anblick – die ruhige Vernichtung des kleinen Hauswesens. Das Wegnehmen des Hausrates und die Gleichgültigkeit, mit der die Büttel Gegenstände, die das Andenken von Generationen geheiligt hatte, hinauswarfen, zerbrachen und verstümmelten, machten das erregbare Volk rasend vor Wut. Und Vater Cussen hatte die größte Mühe, die aufgebrachten Leute von offenem Aufruhr zurückzuhalten, der sie in sofortigen Konflikt mit der bewaffneten Macht der Krone gebracht hätte. Bis jetzt waren die Inwohner noch nicht erschienen. Es herrschte eine Weile bange Erwartung; dann trat Will McNamara, ein stattlicher junger Bauer, aus der Türe, mit der Wiege seines jüngsten Kindes in den Armen. Er blutete an der Stirne, und das Volk, das ahnte, was vorgefallen war, brach in ein Wutgeschrei aus und stürzte auf das Haus los. Die Polizei trat hastig vor, und Vater Cussen warf sich dem Volk entgegen. Aber die Leute drangen immer wieder auf die äußere Linie des Kordons ein, und der junge Offizier warf seine Zigarette weg und zog die lange, dünne Linie der Soldaten zusammen. Gleich darauf kam Lizzie zum Vorschein, mit einem Kind auf den Armen und einem andern an ihrer Brust. Hinter ihr folgte wieder ihr Mann, immer noch blutend und zwei weinende Kinder an der Hand. Zuletzt erschien Mike Delmege. Der Anblick des alten Mannes, der in der ganzen Pfarrei so geliebt und geachtet war und dem jetzt seine weißen Haare wild ins Gesicht hereinhingen und dessen einst so kräftige Gestalt nun ganz gebrochen schien, versetzte das Volk in die höchste Raserei. Die Männer knirschten mit den Zähnen und die Frauen stöhnten und klagten. Der alte Mann zögerte einen Augenblick. Dann erhob er seine Hände gen Himmel und niederkniend küßte er ehrfürchtig die geweihte Schwelle, über die Generationen seiner Vorfahren gewandelt, über die er zu seiner Taufe getragen worden war, über die er seine junge, zitternde Braut geführt hatte und über die er ihren menschlichen Ueberresten gefolgt war. Sie war abgetreten von jahrhundertelanger Benutzung, aber solch eine bittere Zähre war noch nie auf sie gefallen. Dann richtete er sich zu seiner vollen Höhe auf und küßte die obere Schwelle und die zwei Türpfosten. Er zögerte immer noch und konnte sich von der teuren Heimstätte gar nicht trennen. Die Gerichtsbüttel wurden ungeduldig und stießen ihn rauh fort. Der alte Mann, schwach und erschöpft wie er war, stolperte und fiel. Ein zorniges Geschrei erhob sich im Volke, und Steine flogen. Und Lukas, der bis dahin mit brechendem Herzen das ganze düstere Drama mitangesehen hatte, riß sich jetzt von Vater Martin los, durchbrach den Militärkordon und stürzte auf das Haus mit dem von Tränen halberstickten Ausruf zu: »Vater! Vater!«

Wie ein Fluß seinen Damm durchbricht und alles vor sich hertreibt, so drängte ihm die Volksmenge nach und überwand alle Hindernisse. Die überraschte Polizei wich zurück; aber ein junger Unterinspektor ritt rasch auf Lukas zu, und mit der flachen Klinge rauh auf des Priesters Brust einhauend, rief er: »Zurück, Sir! Zurück! Wir müssen hier Gesetz und Ordnung aufrecht erhalten!«

Einen Augenblick zögerte Lukas, und seine gewöhnliche Selbstbeherrschung erwog die Folgen. Dann riß aber ein Wirbelwind keltischer Leidenschaftlichkeit, der umso größer war, je länger er hintangehalten gewesen, alle kluge Ueberlegung mit sich fort, und mit seiner starken Hand riß er die Waffe aus den Händen des Polizeibeamten, zerbrach sie auf seinen Knien in Stücke, die er, gerötet vom Blut seiner Finger, dem Beamten ins Gesicht schleuderte. Zu gleicher Zeit brach ein Mädchen aus der Menge, sprang leicht aufs Pferd und warf den jungen Beamten auf den Boden herab. Es war Mona, des Fischers sonnenhaarig Kind, das im Kampf mit Wogen und Wind zur jungen Amazone geworden war. Das Pferd stieg in die Höhe und schlug aus. Das rettete des jungen Beamten Leben. Denn die wütende Menge wurde dadurch einen Augenblick zurückgehalten. Dann trieben die Soldaten und Polizisten das Volk mit Kolben und Bajonett zurück, während ein Beamter die Aufruhrakte verlas.

»So,« rief er, kühl das Blatt zusammenfaltend und einsteckend, »beim ersten Stein, der jetzt noch geworfen wird, werde ich meine Leute anweisen, Feuer zu geben.«

Das Volk würde die Drohung wahrscheinlich mißachtet haben, so wütend war es; aber seine Aufmerksamkeit wurde im selben Augenblick durch eine Rauchwolke abgelenkt, die aus dem Dach des Hauses brach. Zuerst dachten die Leute, es sei Zufall; aber der Geruch brennenden Petroleums und die Schnelligkeit, mit der das ganze Dach in Flammen stand, klärte sie bald auf. Es war der unwiderrufliche Beschluß des Grundherrn, daß auf diesem geheiligten Fleck nie mehr ein Brot gebrochen oder ein Augenlid geschlossen werden sollte. Die Feierlichkeit der Tragödie ließ Soldaten, Polizisten und Volk schweigend zusehen, wie die gierige Flamme Bedachung und Gebälk verzehrte und qualmender Rauch sich zum Meere hinabwälzte, das unten düster ans Land schlug. Dann gab es einen mächtigen Krach, als die schweren Dachsparren einfielen und Rauch, Flammen und Funken aufwirbelten. Vater Cussen benutzte das augenblickliche Nachlassen der Volksleidenschaften, um die Leute zum Auseinandergehen zu veranlassen, aber sie starrten nur störrisch auf den Boden und sandten Verwünschungen über Verwünschungen den abmarschierenden Gerichtsbütteln und ihrer Eskorte nach. Während sie diesen nachschauten, gewahrten sie eine seltsame Erscheinung. Ueber das Tal her kam ein Wagen in rasendem Lauf auf sie zugefahren. Der Kutscher lenkte von einem Rücksitz aus das leichte Gefährt. Vorn saß eine seltsame, gebieterische Gestalt, die vom Wagen hin- und hergeschüttelt wurde, sich aber doch in einer würdevollen, ja majestätischen Haltung aufrecht hielt. Ihr langes weißes Haar flatterte im Wind, und ihr zweiteiliger weißer Bart wallte auf die Brust herab. Warnend hielt sie die Hand in die Höhe. Die Priester und das Volk starrten verwirrt auf die Erscheinung. Einige meinten, es sei der Grundherr, denn sie hatten diesen Herrn noch nie gesehen, und in ihrer ewigen irischen Hoffnungsfreudigkeit glaubten sie schon, es habe ihn gereut, und er wolle die Vertreibung widerrufen und die Pächter wieder belassen. Andere hielten die Erscheinung für etwas Uebernatürliches und glaubten, der liebe Gott selber habe sich im letzten Augenblick erbarmt und einen Moses gesendet. Aber sie waren nicht enttäuscht, im Gegenteil färbte große Freude ihre Wangen, als sie beim Näherkommen den Kutscher des Kanonikus erkannten, und nach und nach auch das altvertraute, würdige, majestätische Gesicht wieder erblickten. Ein lauter Willkommgruß scholl ihm entgegen, daß selbst die Soldaten anhielten und sich umwandten. Das Volk, das vor Freude ganz außer sich, und von neuer Hoffnung belebt war, drängte sich um den Wagen, küßte des Kanonikus Hände, bat um seinen Segen, sagte ihm, daß Lisnalee gerettet worden wäre, wenn er rechtzeitig gekommen sein würde usw. Langsam bahnte sich der Wagen einen Weg durch die ihn umdrängenden Massen. Der alte Mann sah von alledem nichts. Seine Augen richteten sich auf den Platz, wo einige verkohlte Balken in die Höhe starrten. Dann aber, als er das ganze Elend sah – den zerbrochenen Hausrat, die rauchende Trümmerstätte, die vertriebene Familie, den alten Mann, der sich über sein Enkelkind in der Wiege beugte, und die Wunde an der Stirne von dessen Vater, da stöhnte er laut, und mit dem Verzweiflungsruf: »Mein Volk, o mein Volk!« fiel er hilflos in den Wagen zurück und bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. –

Einige Tage später erhielt Lukas Delmege die Aufforderung, vor einem besonderen Gerichtshof zu erscheinen und sich wegen Widerstands gegen die Polizeigewalt in Ausübung ihres Amtes und wegen des Angriffes auf einen Polizeibeamten zu verantworten usw.

Am Nachmittag desselben Tages wurde Barbara Wilson ins Sprechzimmer des Klosters vom guten Hirten gebeten. Als sie es betrat, befanden sich zwei Personen darin, der Bischof und die Provinzialoberin. Der hochwürdigste Herr trat vor, stellte Barbara einen Stuhl hin und bat sie, Platz zu nehmen. Barbara setzte sich, faltete ihre Hände im Schoße, wagte aber nicht aufzublicken, obwohl eine süße Regung von Hoffnung und Befürchtung sie erfüllte. Sie wußte, daß der Wendepunkt ihres Lebens gekommen war. Der Bischof blickte sie scharf an und begann: »Miß Wilson, das Geheimnis Ihres hiesigen Aufenthaltes als Büßerin ist jetzt bekannt. Sie können nicht mehr länger hier bleiben!«

»Mylord,« erwiderte sie zitternd, »ich bin sehr glücklich gewesen. Können Sie mich nicht hier lassen?«

»Ganz unmöglich. Ich bin mir nicht einmal klar, ob nicht das Ganze von Anfang an schon nicht in der Ordnung war. Sie müssen jetzt die Ihnen gebührende Stellung im Leben einnehmen.«

»Ich bin ganz hilflos und passe gar nicht für die Welt, Mylord,« entgegnete sie. »Was soll ich denn nun beginnen, da meine Vergangenheit bekannt ist?«

»O, Sie können leicht Ihren Platz in der Gesellschaft wieder einnehmen,« gab der Bischof zurück. »Sie sind jung; das Leben liegt vor Ihnen, und Sie können noch sehr glücklich werden.«

»Mylord,« rief Barbara weinend, »wenn es das Glück ist, das ich suche, so werde ich mich nie wieder so glücklich fühlen, wie ich es hier getan habe. Aber ich weiß jetzt alles. Ich murrte wider mein Kreuz und träumte von andern Dingen; und nun hat mir Gott mein Kreuz und mein Glück für immer genommen. O Mutter, teure Mutter, bitten Sie für mich, und lassen Sie mich wieder sein, was ich war!«

»Unmöglich, Kind!« erwiderte die Provinzialoberin, aber in einem Tone, der Barbara sofort ihr zu Füßen fallen ließ.

Barbara vergrub ihr Gesicht in der Mutter Schoß und rief leidenschaftlich: »O Mutter, doch, Sie können mich behalten, Sie können es! Ich will alles tun, was Sie wollen, nur schicken Sie mich nicht wieder in die Welt, die schreckliche Welt, hinaus. O Mylord, ich habe einst Dinge gesehen, die ich nie wieder sehen will – in der einen schrecklichen Nacht, in der ich den armen Louis in London verlor und ihn stundenlang straßauf, straßab suchte. Und o! Ich habe den Himmel hier gefunden und wußte es nicht. Und Gott straft mich jetzt schrecklich. O Mylord, geben Sie mir mein Kreuz wieder, und ich verspreche, niemals, niemals, wider es zu murren oder mich aufzulehnen!«

Der Gedanke, in die große, harte, bittere Welt zurückzukehren, war ihr nie vorher gekommen bis jetzt, wo ihr das Tor ihrer glücklichen Heimat geöffnet wurde und man sie fortgehen hieß. All die nervöse Furcht eines unerfahrenen Wesens und der ganze Schrecken einer Seele, die in der Welt, aber nicht von der Welt gewesen, verbanden sich, um sie mit seltsamem Abscheu zu erfüllen, der fast ans Hysterische grenzte. Aber der Bischof machte Vorstellungen, führte Gründe an, bewies, bat. Was würde die Welt sagen? Was würden selbst gute Katholiken denken? Welcher Tadel würde die Kirche, ihre Disziplin, ihre Lehre usw. treffen? Aber die schweigende Gestalt auf den Knien antwortete nicht. Und der Bischof trat auf die Wand zu und betrachtete sorgfältig ein Gemälde vom guten Hirten, das er schon hundertmal gesehen hatte.

Nach einer Weile sagte die Provinzialoberin, auf Barbara niederblickend, der die weiße Mütze vom Kopfe gefallen war und mit der Hand ihr langes, üppiges Haar streichelnd: »Mylord, ich glaube, unter einer Bedingung könnten wir Miß Wilson hier behalten.«

Barbara schaute auf. Der Bischof wandte sich sofort um. »Was ist es?« fragte er, ohne eine Spur von Würde und mit stark geröteten Augen.

»Wenn Miß Wilson sich entschließen könnte, dieses Kleid,« sagte Mutter Provinzialin, die blaue Mantella berührend, »mit dem Gewande des guten Hirten zu vertauschen –«

»O Mutter, Mutter! Das ist ja mein Traum, mein Traum!« schrie Barbara auf in einem Paroxysmus von Ueberraschung und Entzücken. »O Gott, o Gott, wie gut bist du! Und wie schlecht und ungläubig bin ich gewesen! O Mylord,« rief sie mit gefalteten Händen, zum Bischof hin gewendet, »kaum eine Nacht gab es, wo ich nicht träumte, ich sei eine Schwester des guten Hirten; und ich glaubte, unser lieber Herr selbst kleide mich ein mit seinen durchbohrten Händen; und ich berührte sogar seine offenen Wunden, wenn er mir zurief: ›Erhebe dich und komme, der Winter ist vorbei!‹ Aber dann die Qual, wenn ich erwachte und fand, daß alles nur ein Traum war! Und dann warf ich mir immer vor, daß ich meinem Gelübde untreu werden wollte; und dann betete ich stets, aber mit was für einem stockenden Herzen! ›Ich habe erwählt, ich habe erwählt, eine Verworfene im Hause meines Gottes zu sein‹, und jetzt ist mein Traum erfüllt! O Mutter, ich werde nie, nie wieder meinem guten Vater im Himmel mißtrauen!«

»Sehr gut, ehrwürdige Mutter,« erwiderte der Bischof und suchte seiner Stimme einige Festigkeit zu geben. »Das ist ja schon ein deutliches Zeichen ihres Berufes, daß die junge Dame so lange an Ihr weißes Gewand gedacht hat. Kann sie ihr Noviziat hier durchmachen?«

»Ich glaube nicht, Mylord,« entgegnete Mutter Provinzialin. »Ich werde sie aus vielen Gründen nach Cork senden.«

»Nun, dann je eher, desto besser, denke ich. Um fünf Uhr zwanzig Minuten geht ein Zug. Wird die junge Dame bis dahin ihre Kleidung wechseln können? Sehr gut. Mein Wagen wird am Klostertore um viertel vor fünf Uhr vorfahren. Und da ich in Cork etwas zu tun habe, werde ich die Ehre haben, Miß Wilson in ihr neues Heim zu geleiten.«

»Mutter,« rief Barbara, »ich bin sprachlos vor Glück. Darf ich meinen – Büßerinnen nicht Lebewohl sagen?«

»Nein,« erklärte die Mutter, »Sie müssen jetzt sofort Gehorsam erweisen.« –

»Nicht einmal der armen Laura, Mutter?«

»Doch, wenn Sie Ihre Kleidung gewechselt haben,« erwiderte die Provinzialoberin zögernd.

Es war ein fröhlicher Abschied, den Barbara von der Seele, die sie gerettet hatte, nahm: denn er war ja bloß auf kurze Zeit. Und das war eine glückliche Seele, die zwischen den Lilien und Azaleen des Klosterkorridors hinabschritt, von Schwester Eulalia begleitet, die vor sich hinflüsterte:

»Wenn nur Lukas hier wäre, wie glücklich würde er sein!«

Und hinter Türen, Winkeln und Blumengruppen traten immer wieder weißgekleidete Gestalten hervor, welche die junge Postulantin schweigend umarmten, auf Stirn und Mund küßten und dann schweigend wieder verschwanden. Und als sie im bischöflichen Wagen dahinfuhr, dachte sie: »Jetzt Onkel und Vater wiederzusehen, wäre der Himmel! Aber nein! nicht, ehe ich eingekleidet bin! Dann sollen sie mich sehen und sich freuen! O, wie gut ist doch Gott!«

Als der Bischof und Barbara eben in den Zug nach Cork steigen wollten, da sahen sie auf dem gegenüberliegenden Perron eine seltsame Prozession dem Zug entsteigen, der eben eingelaufen war. Zuerst kamen mehrere Polizisten, dann eine Schar armer Bauern und Tagelöhner, die augenscheinlich Gefangene waren, dann ein junges Mädchen mit einem Tuch um den Kopf, schließlich ein Priester mit einem Arm in der Schlinge. Barbara stockte der Atem; sie konnte nicht an sich halten, laut zu sagen:

»Das ist ja Vater Delmege, Mylord.«

»Ja, das ist er,« gab der Bischof zurück, der aufmerksam zugeschaut hatte. »Wählen Sie sich einen Platz im Wagen, während ich mit ihm einige Worte rede.«

Und während so Barbara freudig ihr Märtyrertum abschloß, begann das von Lukas.

Er war ganz gesetzmäßig vor das vorgesetzte Landgericht gestellt worden und hatte seinen Platz vorn im Gerichtssaale eingenommen. Er wäre mit seinen Mitgefangenen gern in den Anklagebänken gesessen, aber das stets höfliche, zuvorkommende und unerbittliche Gesetz erlaubte es nicht. Es war ein Wunder, daß man ihn nicht einlud, sich selbst das Urteil zu sprechen. Als die Richter eintraten, entblößten alle Anwesenden ihr Haupt; nur die Gefangenen unterließen es. Sie wollten gegen das Gesetz, gegen die Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt in gleicher Weise protestieren.

»Nehmt eure Hüte ab!« herrschte sie der Polizist zornig an.

Die Gefangenen weigerten sich; und einer der Schutzleute packte rauh einen der jungen Leute und warf seinen Hut wütend auf den Boden.

»Zieht eure Hüte herunter, Jungens,« rief ihnen Lukas von seinem Platze in der Nähe des Richtersitzes aus zu. »Habt Achtung vor euch selber, wenn ihr vor dem Gerichtshofe keine Achtung haben könnt.«

Die jungen Leute rissen sofort ihre Hüte herunter. Er war fast mitleiderregend, dieser schwache Protest; mitleiderregend wegen seiner Ohnmacht.

Der Gerichtshof begann nun, die Fälle ruhig und gleichmäßig zu verhandeln, wobei jeder Fall einzeln untersucht wurde, um vollständige Unparteilichkeit zu zeigen. Jeder wußte, daß die Ueberführung schon vorgefaßter Plan war. Aber alles sollte regelmäßig und in aller Form vor sich gehen, wenn auch schon jeder Gefangene den erbarmungslosen Griff des Gesetzes an seinem Leibe spürte. Und so gingen die Verhandlungen ruhig weiter, glatt, harmonisch, regelmäßig, unwiderstehlich wie eine gutgeölte Maschine. Die Richter zogen sich dann ein paar Minuten zur Beratung zurück und verkündeten dann ihr Urteil. Die armen Bauern und Taglöhner wurden zu 3-6 Monaten Gefängnis verurteilt, womit immer Zwangsarbeit verbunden war. Als Mona an die Reihe kam, wurde sie zu sechs Monaten Gefängnis ohne Zwangsarbeit verurteilt. Sie stand vor der Anklagebank und blickte ruhig und trotzig auf die Richtersitze. Nur ihre Augen strahlten Verachtung und Entschlossenheit aus.

»Ich brauche keine Vergünstigung von euch,« schrie sie den Richtern zu, als man ihr Urteil vorlas. »Ihr seid Feinde meines Glaubens und meines Landes.«

»Mit Rücksicht auf Ihr Geschlecht und Ihre Jugend erlassen wir Ihnen die Zwangsarbeit,« sagte der Vorsitzende, »obgleich Ihr Vergehen sehr ernstlicher Natur ist und leicht das Leben des Beamten hätte gefährden können.«

»Er benahm sich wie ein Feigling,« rief Mona, »und es geschah ihm ganz recht, daß eine Frauenhand ihn züchtigte.«

Die Richter gingen bereits zum nächsten Angeklagten über, als sie wieder den Gerichtshof unterbrach:

»Wollt ihr mir die Zwangsarbeit geben oder nicht? Niemand soll je sagen können, daß ich mich feig gezeigt habe.«

»Dann ändern wir Ihre Strafe in drei Monate und Zwangsarbeit um,« sagte der Vorsitzende.

»Danke!« erwiderte sie und zog den Shawl wieder über den Kopf.

»Wir haben, Mr. Delmege,« fuhr der Richter höflich fort, »Ihre Stellung und Ihre bisherige ausgezeichnete Haltung in Erwägung gezogen. Ebenso haben wir in Berechnung gebracht, daß der schwere Angriff, dessen Sie sich schuldig gemacht haben und der schlimme Folgen hätte herbeiführen können, vielleicht der großen Erregung zuzuschreiben ist, die unglücklicherweise das Vorgehen des Gesetzes in diesem Lande begleitet. Wir sind daher der Meinung, daß dem Gesetze und der Gerechtigkeit genügend Rechnung getragen ist, wenn Sie versprechen, sich ein Jahr lang ruhig verhalten zu wollen.«

Bleich und matt erhob sich Lukas. Seine rechte Hand war noch stark geschwollen und eine Blutvergiftung stand immer noch zu befürchten.

»Ich glaube, meine Herren,« erwiderte er, »Sie wollen mir das doch nicht zumuten; denn ich kann Ihre Entscheidung kaum anders als eine Beleidigung betrachten. Es ist nichts zu meinen Gunsten vorgebracht worden, was das Vergehen mildern oder die Strenge des Gesetzes aufheben könnte. Ich bin schuldiger als die armen Burschen und das arme Mädchen da. Wenn ein Grund zur Milde vorhanden ist, so laßt sie bei ihr walten! Sie hat einen alten Vater und eine kranke Schwester zu Hause –«

»Nein, Vater Lukas,« rief Mona, »ich brauche kein Mitleid von der englischen Regierung. Ich will mit mehr Freude ins Gefängnis wandern als ich zu meiner Hochzeit gehen würde! Und der liebe Gott und seine heiligste Mutter werden schon für Moira und meinen Vater sorgen.«

Dann brach sie in hysterisches Weinen aus.

»Es ist zwar eine sehr peinliche Pflicht, aber wir sind nicht gewillt, in einem solchen Falle zum äußersten zu gehen. Wenn Sie unsere Entscheidung annehmen wollen, Mr. Delmege, so wird uns das, wie ich Sie versichere, großes Vergnügen machen,« sagte der Richter.

»Meine Herren, ich appelliere noch einmal an Ihre Milde wegen dieses armen Mädchens,« sagte Lukas. »Das Gefängnisleben ist nichts für die Jugend.«

»Setzen Sie doch nicht sich und mich herab, Hochwürden, und bitten Sie die Leute nicht um Mitleid,« rief Mona mit funkelnden Augen. »Wir gehen ja nur dahin, wo alle Helden unserer Rasse vor uns waren.«

»Noch einmal, Mr. Delmege,« mahnte der Vorsitzende, »wollen Sie uns versprechen –«

»Unmöglich, meine Herren!« erklärte Lukas und setzte sich.

»Dann ist es unsere peinliche Pflicht, zu verfügen, daß Sie vom heutigen ab drei Kalendermonate Gefängnis erhalten, und zwar ohne Zwangsarbeit.«

»Sie sind also zu Gefängnis verurteilt?« sagte der Bischof, nachdem er die Schar vor ihm kniender Gefangener gesegnet und seinen Ring der kleinen Mona zum Küssen gereicht hatte. »Ich habe das erwartet. Nehmen Sie sich in acht mit dieser garstigen Wunde an Ihrer Hand! Ich hoffe, der Arzt wird Sie sofort ins Krankenzimmer schicken.«

»Besetzen Sie während der drei Monate, die ich in der Haft zu verbringen habe, meinen Posten nicht, Mylord,« flehte Lukas. »Mein Vater hat jetzt kein anderes Obdach mehr.«

»Seien Sie unbesorgt,« erwiderte der Bischof. »Ich werde einen zeitweiligen Vertreter, mit besonderen Instruktionen an Pfarrer Keatinge, hinsenden.«

»Danke Ihnen, Mylord!«

»Also, Gott befohlen! Wir werden Sie schon manchmal in Ihrer Einsamkeit aufsuchen. Uebrigens, wissen Sie, wer mich nach Cork begleitet?«

»Nein, Mylord,« erwiderte Lukas erstaunt.

»Haben Sie schon einmal etwas von einer Miß Wilson, der Nichte des Kanonikus Murray, gehört?«

»Gewiß, ich kenne sie gut,« versetzte Lukas eifrig.

»Sie hat eine seltsame Geschichte hinter sich; doch das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal. Die Burschen werden sonst ungeduldig. – Sie ist eben im Begriffe, ihr Noviziat als Postulantin der Schwestern vom guten Hirten in Cork zu beginnen.«

»O, Gott sei Dank!« erwiderte Lukas so feurig, daß sich der Bischof über die Maßen verwunderte.


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