Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXII.
Percussa et humiliata

Wenn Schwester Maria nachts ihre normannische Mütze ablegte, dann legte sie auch ihre Dornenkrone nieder; und mit ihrem blauen Schulterkragen legte sie auch das Kreuz ab, das sie so tapfer und liebevoll trug. Denn es war ein schweres Kreuz, das sie im Geiste der Liebe und Buße trug, und das die gebrechliche Gestalt, auf der es lastete, manchmal bis zur Erde niederdrückte. Denn die Natur lehnt sich immer gegen den Geist auf und fragt murrend: Warum? Warum? wenn die Seele nach Schmerz sucht, der Körper aber nach Ruhe schreit. Aber der Schlaf brachte diesem büßenden Geiste mehr als Ruhe. Er brachte Träume; und die Träume riefen Seelenschmerz wach. Aber sie waren sehr schön. Hätte es kein Erwachen gegeben, so wären sie der Himmel gewesen. Und nun kehrten einzelne dieser Träume immer und immer wieder; und Schwester Maria sah sich dadurch gezwungen, die Fürbitte anderer gegen ihre Wiederkehr in Anspruch zu nehmen; denn so schön auch die Träume der Nacht waren, so qualvoll war die Erinnerung daran.

»Beten Sie, Schwester,« konnte sie zu der Nonne sagen, welche die Aufsicht im Schlafsaal führte, »daß ich heute Nacht nicht träume!«

Aber der Traum, der am häufigsten den Schatten des Schlafes entstieg, war der folgende. Ihr war, als wandle sie in einem großen Garten unter dem Schatten von Bäumen. Große, schöne Blumen streiften sie und berührten ihre Füße, Hände und Gewänder. Und in dem Garten stand ein mächtiger Palast, der immer im Festglanz erstrahlte; und sie sah eine lange Prozession von Unsterblichen, angetan mit weißen Gewändern, langsam eintreten. Sie hatten ihr Antlitz aufwärts gerichtet und der Glanz des Festsaales lag auf ihnen. Und wenn alle eingetreten waren und die Tore geschlossen werden sollten, dann trat eine Gestalt zum Portal heraus, beschattete ihre Augen mit der rechten Hand und blickte lange und zögernd in die Finsternis hinaus. Und Maria wußte, daß sie selbst die Ersehnte war; aber sie wagte nicht, aus der Finsternis ins Licht zu treten, weil die Gewänder der Demütigung sie noch umhüllten; und das schlichte blaue Kleid der Sorge war kein passendes Gewand für den Glanz des königlichen Festsaales. So wandte sie sich denn ab von den forschenden Augen und suchte die Schatten wieder auf. Dann merkte sie plötzlich, daß ganz in der Nähe eine Stimme sie rief, und daß man sie unter dem Schatten suchte. Und sie hörte immer und immer wieder, wie jemand ihr zuflüsterte: Veni, Sponsa! Veni, Immaculata! Veni, Sponsa mea! und dann legte sich eine Hand weich auf ihre Schulter. Man fand sie jetzt und machte ihr Vorwürfe. Aber sie konnte darauf nur auf das blaue Bußkleid deuten und weinen. Und dann befand sie sich in der Festhalle des Königs; und mit seinen eigenen durchbohrten Händen legte er ihr die Brautgewänder an – das zarte, weiße Kleid und den Schleier, und umgürtete sie mit dem blauen Bande und legte ihr das Skapulier um. Und er hing das Silberherz auf ihre Brust und schlang den Rosenkranz um ihren Gürtel; und siehe da! sie war eine Schwester vom Guten Hirten. Und er führte die Zitternde in die hellstrahlende Halle, und alle ihre Schwestern versammelten sich um sie und küßten sie – und dann – ja dann konnte sie in ihrem engen Bette aufwachen im Düster eines Wintermorgens. Nur eine gelbe Gasflamme leuchtete über ihrem Lager, und da war auch das blaue Büßerinnenkleid, Rock und Schulterkragen; und hier die hohe, gekräuselte normannische Kappe – das Zeichen der Schande und Reue. Kein Wunder, daß ihr Herz wie Blei niedersank und ein Nebel vor ihren Augen aufstieg, als sie neu an ihr schweres Tagewerk ging, bis sie dann bei der hl. Messe oder später in der Stille des Nachmittags die weiße Gestalt ihres Kruzifixes betrachten und studieren konnte. Dann konnte sie in schnellem, ätherischem Fluge, wie ein Vogel sich aufs Nest niederläßt, auf den Schwingen der Liebe dahinfliegen und sich in die weite, klaffende Wunde der durchbohrten Seite Christi einhüllen und verbergen; und dann war alles wieder gut, bis ein neuer Traum kam.

Aber es erwarteten sie auch noch andere Sorgen, tiefe Demütigungen, die sie in den Abgrund niederwarfen, bis Gebet und Glaube sie wieder daraus emporhoben. Gegen das unerbittliche Gesetz ist nicht aufzukommen. Das Gold muß geläutert werden.

Eine junge Büßerin war der besondere Gegenstand der Sorge Schwester Marias. Sie war in diese geheiligte Zufluchtsstätte immer und immer wieder gekommen; und stets von neuem hatte sie sie wieder verlassen, vom sündigen Reiz nächtlicher Orgien verführt. Aber immer wurde sie wieder mit einem Lächeln des Willkommens aufgenommen, so oft sie demütig ans Klostertor pochte. Die Menschenliebe dieses Ordens ist wie diejenige Christi unerschöpflich. Es wäre für alle, die mit dem Uebernatürlichen nicht vertraut sind, eine schreckliche Offenbarung, wenn sie die Wut der Versuchungen hätten mitansehen können, die dieses junge Geschöpf zu befallen pflegten – die Paroxysmen, unter denen sie ihren eigenen furchtbaren Neigungen und den Listen des bösen Geistes zu widerstehen suchte. Hier war Schwester Maria am erfolgreichsten. Wenn schon ihre Anstrengungen, die Mitbüßerin zu retten, für immer zur Enttäuschung verurteilt schienen, und der Vogel ihren Händen stets von neuem entflog, so bestand doch eine große Zuneigung zwischen ihnen, etwas wie ein Liebesband, das man wohl spannen und ziehen, aber nicht zerreißen konnte. Und jedesmal, wenn das arme Mädchen wieder zurückkehrte und nach dem Zauber mitternächtlicher Ausschweifungen wieder im Besitze ihrer Sinne war, dann war es stets Schwester Maria, die den beschmutzten Modetand wieder abnehmen und die reineren Gewänder der Reue und Gnade anlegen durfte. Sie waren sich daher sehr zugetan, die Gerettete und die Retterin.

Eines Tages, als Maria wieder den Hochzeitstraum geträumt hatte, packte ihren Schützling die alte Raserei, und die Arme gab ihren Entschluß kund, das Asyl zu verlassen. Und da man in voller Freiheit kommen oder gehen konnte, wurde die Erlaubnis gewährt. Sie hatte ihre Absicht Schwester Maria aufs sorgfältigste verheimlicht, damit deren Bitten sie nicht zwingen konnten, ihren Entschluß wieder aufzugeben. Und es kam so, daß Laura Desmond (das war des Mädchens Name) den langen Korridor hinabschritt, in dem sich die Kapelle mit der Statue des guten Hirten befand, als sie hinter sich auf dem Ziegelpflaster den Schall rascher Schritte hörte. Sie blickte sich nicht um. Sie floh. Nur noch einen Augenblick – und sie hatte schon die Pforte geöffnet, die in die Außenwelt führte. Da fühlte sie plötzlich eine Hand sich auf ihre Schulter legen, und eine Stimme, die aus der Ewigkeit zu kommen schien, sagte: »Laura!«

»Was ist denn?« fragte Laura und wandte sich heftig gegen ihre Verfolgerin.

»Sie wollen uns doch nicht verlassen?« sagte Schwester Maria.

»Ich bitte um Entschuldigung: Doch!« erwiderte das arme Mädchen.

»Sie wollen also den Schwestern, Vater Tracey und – unserm Herrn den Rücken wenden?« flehte die Stimme.

»Das geht nur mich etwas an,« erwiderte die arme Flüchtige.

»Und Sie wollen in die Welt hinaus – hinaus in die Schrecken – die abscheulichen Schrecken des Lasters?« Und Schwester Marias Hand zitterte auf der Schulter des armen Mädchens.

»Sie scheinen sie aber sehr gut zu kennen,« höhnte das Mädchen. »Kommen Sie mit, Maria, und wir wollen es uns gut gehen lassen! Sie können ja nachher wieder zurückkommen!«

»Welcher entsetzliche Geist spricht denn aus Ihnen?« rief Schwester Maria, entsetzt zurückfahrend. »O Kind, Kind! Kehren Sie um! Kehren Sie um zu Gott! Bis jetzt ist ja noch nichts geschehen. Kehren Sie um, und alles ist wieder gut!«

Aber der böse Geist ließ diese arme Seele nicht los. Und er sprach aus ihr: »Wollen Sie mich hindern, fortzugehen?«

»Nicht ich, sondern der Herr!« sagte Schwester Maria.

»Gehen Sie weg und lassen Sie mich fort!« schrie sie.

Die sanfte Hand lag noch immer auf des Mädchens Schulter. Sie stahl sich jetzt um ihren Nacken.

»Noch einmal sag' ich: Gehen Sie weg und lassen Sie mich fort!«

Der Arm schlang sich unbewußt fester um ihren Hals.

»So da hast du's!« und Schwester Maria fühlte einen heftigen Schlag im Gesichte. Sie wankte und fiel. Und wie sie hinfiel, riß das elende Mädchen ihr eigenes Skapulier und ihren Rosenkranz herab und warf sie auf die Gestalt am Boden. Dann stürmte sie wie wahnsinnig in die Welt hinaus.

Aber eine höhere Macht verfolgte sie. Sie hatte eben das äußere Tor erreicht, das auf die Straße hinausführte, als sie glaubte, die Welt falle zusammen und das Ende aller Dinge sei gekommen. Die Bäume schienen auf ihren Weg zu fallen und das große Eisentor schlug sie wie mit Stahlhandschuhen. Die Erde erhob sich, um über sie herzufallen, und das Weltall schien um sie zu Grunde zu gehen. Das Rauschen mächtiger Wassermassen, die ihre Dämme durchbrochen hatten und nun unermeßliche Verwüstung schufen, tönte in ihren Ohren, und eine große Finsternis senkte sich vom dräuenden Himmel herab und hüllte alles in schicksalsschwere, schreckliche Finsternis. Und dann, nach diesem fürchterlichen Zusammensturz, war alles still und tot.

Als Laura Desmond nach drei Tagen der Bewußtlosigkeit, aber auch schrecklicher Konvulsionen, von ihrem epileptischen Anfall in der Krankenabteilung des Klosters sich wieder erholte, sah man klar, daß sie gerettet war. Der Brennstoff war dem Feuer entrissen und sollte nie mehr die Flamme nähren. Ihre Schönheit war dahin. Eine Seite ihres Gesichtes war hoffnungslos gelähmt.

Während dieser drei Tage pochte Schwester Maria unablässig an die Tore der göttlichen Barmherzigkeit; sie mischte aber auch in ihr Flehen laute und feurige Hosiannarufe für die Errettung dieser Seele. Und als sie hörte, daß die arme Patientin zwar ihre Besinnung wieder erlangt habe, aber hoffnungslos eine körperliche Ruine sei, da waren ihr Jubel und ihr Dank groß. »Was!« ruft da ein feuriger Menschlichkeitsapostel aus. »Jubel über einen ruinierten und zerschmetterten Körper! Wo bleibt da die Humanität und das Mitgefühl? Und der göttliche Altruismus, usw. usw.?« Eben darum, mein teurer Freund! Das ist so die Art dieser seltsamen Leute, die man Katholiken nennt, und der noch seltsameren Auserwählten unter ihnen, die man Heilige nennt. Denn ihnen gilt ein gebrochener und mißgestalteter Leib, und wäre er von tausend Krankheiten zerfressen und von Millionen zerrenden Nerven gequält, mehr als ein unreiner Körper, und wäre er schön wie Aphrodite selber; und hoch ragt über den Körper hinaus, wenn auch noch sein Bewohner, so doch weltenweit an Wichtigkeit über ihm stehend, die Seele; und die Seele, ja die Seele, nimmt im göttlichen Haushalt der Kirche die Stelle des Goldes und der Staatspapiere ein. Und darum jubelte Schwester Maria so und war über alle Maßen froh, weil ihr Schützling nicht mehr in die Welt hinaus konnte, um mit ihren Blicken und Worten die Unbedachtsamen zu verführen. Und im übrigen war ja hier Friede und Ruhe und alles, was die göttliche Nächstenliebe der Heimgesuchten an Trost und an Stärkung in ihrer Prüfung bieten konnte.

Einige Tage nachdem die arme Kranke ihr Bewußtsein wieder erlangt hatte, erlaubte man Schwester Maria, sie zu besuchen. Sie war auf ihren Empfang nicht vorbereitet. Sobald die im Zimmer umherirrenden Augen der Kranken das Gesicht ihrer Retterin erblickten, zuckte ein Ausdruck der Furcht und unsagbaren Schreckens über ihr Gesicht. Sie blickte flehend die Krankenschwester an, die diesen Blick als einen Ausdruck der Abneigung und des Schmerzes auslegte, und die sofort sagte:

»Schwester Maria, Ihre Gegenwart beängstigt das arme Kind. Ich glaube, Sie tun besser, das Krankenzimmer zu verlassen. Und sollten Sie das arme Mädchen vielleicht gekränkt haben, so bitten Sie Gott um Verzeihung dafür!«

Die Kranke schien durch eine schwache Bewegung protestieren zu wollen; die Krankenschwester legte es aber als Bestätigung ihrer Ansicht aus, und Schwester Maria senkte den Kopf und verließ das Zimmer.

Als am folgenden Samstag die Büßerinnen um Vater Traceys Beichtstuhl standen, glaubten sie deutlich Schwester Maria über der Beichte schluchzen zu hören. Sie blieb auch diesmal ungewöhnlich lange im Beichtstuhl. Und sie verwunderten sich auch, als sie mit geröteten, verweinten Augen heraustrat, denn das widersprach so ganz ihrer sonstigen ruhigen, gelassenen Art. Aber Vater Traceys Verwunderung übertraf die ihrige noch weit, als er hinter dem Beichtgitter eine schluchzende Stimme hörte, die ganz unfähig war, ihre wöchentliche Beichte abzulegen. Dann trat plötzlich eine Wandlung ein. Seine große Heilige, die er anzureden gefürchtet hatte, hatte schließlich doch auch menschliche Schwächen. Auch sie war von den Höhen ins Tal der Betrübnis herniedergestiegen und wollte Trost und Stärke aus seinen priesterlichen Händen empfangen. Und da nichts ein Priesterherz so tief rührt als der Ruf um Hilfe und Mitleid, so warf dieser heilige Diener Gottes all seine Zurückhaltung und sein Bangen ab. Indem er mit sanften Worten nach der Ursache ihrer Sorge forschte, goß er aus seinem großen priesterlichen Herzen einen Strom des Balsams und des Trostes in ihre betrübte Seele, bis seine eigene Rührung ihn übermannte, und er sich über sich selber wunderte, als er seinen ersten Zuspruch an diese Seele mit den Worten schloß: »Du hast mich angerufen in der Trübsal, und ich habe dich erlöset; ich hörte dich im Dunkel des Wetters; ich prüfte dich bei dem Wasser des Widerspruches.«

Einige Tage vergingen; und Schwester Maria befand sich allein im Krankenzimmer bei Laura Desmond. Diese hatte den Gebrauch ihrer Sprache wieder erlangt, aber ihre geistigen Fähigkeiten schienen noch nicht klar, wenigstens starrte sie Schwester Maria wie eine Erscheinung an; und erst nach längerer Weile und erst nachdem ihr Maria viele liebe Worte gesagt hatte, zog Laura sie zu sich herab, bis ihr Gesicht fast die arme, gelähmte Wange berührte und flüsterte:

»Wer sind Sie?«

»Kennen Sie mich denn nicht, meine Liebe – Schwester Maria, Ihre alte Freundin?«

»Sie sind nicht Schwester Maria,« sagte Laura; »und auch keine andere Schwester! Wer sind Sie?«

»Beruhigen Sie sich, Liebe,« sagte ihre Freundin, die glaubte, das Delirium spreche aus ihr. »Ruhen Sie aus und beten Sie leise zu Gott!«

»Ja, das will ich,« entgegnete die Patientin. »Aber ich möchte gern wissen, wer Sie sind.«

»Gütiger Gott! Gib ihr ihre Sinne wieder!« betete Schwester Maria. »Ich bin eins der Magdalenenkinder, Liebe; eine arme Seele, wie Sie selbst, welche die Liebe des heiligen Herzens gerettet hat.«

Laura schüttelte nur den Kopf. »Sagen Sie doch das nicht!« flüsterte sie. »Sie sind nichts derartiges. Sie haben nie gesündigt. Sagen Sie das nicht!«

»Wir haben alle gesündigt, Liebe,« gab Schwester Maria zurück. »Wir sind alle unwürdige Kinder. Nur Gottes Barmherzigkeit schont uns.«

»Sie sind gut,« sagte Laura, »und Sie sollten nicht lügen! Sie sind keine Magdalena!«

Schwester Maria fühlte, wie ihr das Blut in Wangen und Stirne stieg, als sie den Kopf emporhob.

»Da,« sagte Laura und zog das süße Gesicht wieder zu sich herab und betastete die Wange mit ihren Fingern: »Da habe ich Sie hingeschlagen – möge Gott mir in seiner Barmherzigkeit verzeihen! Da ist der Abdruck meiner vier Finger.«

»Vergessen Sie das, Liebe, obgleich es etwas Glückliches für mich und für Sie war.«

»Und Sie wollen mir nicht sagen, wer Sie sind?« fragte Laura wieder. »Nun, ich werde es schon einmal herausbekommen –«

»Nein! Nein!« rief Maria erschreckt. »Lassen Sie mich, wie ich bin! Es ist Gottes Wille.«

»Ich stelle mir jetzt vor,« meinte zutraulich das Mädchen, »daß vielleicht eine Mutter gerade an Sie denkt und sich fragt, wo Sie weilen; oder daß Ihr Vater Sie bei sich haben möchte und Ihr schönes Haar streicheln könnte, so –«

»Lassen Sie das, meine Liebe, lassen Sie das!« bat Schwester Maria. »Wir sind hier alle in Gottes Hut. Alles andere wollen wir vergessen.«

»Gut, ganz wie Sie wollen! Aber Sie gehören nicht zu uns. Das müssen Sie nicht sagen. Zu uns gehören Sie nicht, was Sie auch sein mögen.«

Schwester Maria ließ es dabei bewenden und antwortete nicht. Aber das arme, verwirrte Hirn suchte das Rätsel zu lösen. Denn der untrügliche Instinkt sagte dieser armen Kranken, daß ihre Freundin vor Gott unbefleckt war, obwohl sie das Gewand der Büßerinnen trug. Wie sie zu diesem Schlusse kam, wäre allerdings schwierig zu erklären. Es mochte das eine Gabe sein, ähnlich wie sie die Heiligen besaßen, aber unklar und verschwommen, durch die sie erkannte, daß hier keines der unauslöschlichen Merkmale der Sünde vorhanden war, wie sie selbst nach Jahren der Buße noch sichtbar sind. Aber es war sonnenklar, daß sie an Maria, die sie so oft von der Sünde zurückgehalten hatte, etwas ganz Einziges und der täglichen Erfahrung Widersprechendes sah; und ihr armes Hirn begann Ursachen, Beweggründe und Zusammenhänge für die verwirrende Tatsache zu suchen, daß eine sündenlose Seele freiwillig eine Rolle gewählt hatte, vor der jeder, der von der Liebe Christi erfüllt ist, sich mit Ekel und Abscheu abwendet. Es war unerklärlich – ein tiefes, schreckliches Geheimnis, für das es keine Erklärung gab. Tagelang verweilte Laura Desmond bei diesem Gedanken. Manchmal konnte sie Schwester Maria beobachten, wie sie im Krankensaale, wo sie Gehilfin war, die gewöhnlichen Arbeiten verrichtete, – und zwar beobachten mit neugierig forschenden Augen. Und wenn ihre gute Freundin an ihr Bett trat und da irgend einen kleinen Liebesdienst verrichtete oder eine Frage stellte oder ein Gebet flüsterte, konnte Laura sie selbstvergessen wie ein Kind anstarren, ihren Mund und ihre Augen betrachten, ihr Haar und ihr Kleid befühlen und ihre Hand aufheben und sie wie ein Wahrsager studieren; und dann drehte sie sich wieder um und sann weiter dem Rätsel nach, das auf den beschmutzten Kanevas ihres eigenen Lebens gezeichnet war.

Nach vielen Tagen tiefen Nachdenkens und nachdem sie alles, was sie gehört und selber von Schwester Maria gesehen, Stück für Stück aneinandergereiht hatte, kam sie zu einer schrecklichen Schlußfolgerung, die sie wieder in Verzweiflung zurückversetzte. Es war Mitternacht, als diese Erkenntnis über sie kam. Sie sprang wild empor, riß an der Schelle und verlangte nach der Krankenschwester. In einem Augenblicke stand diese an ihrem Bette und war über den Ausdruck von Schrecken und Furcht im Antlitz ihrer Patientin erschreckt.

»Holen Sie den Priester,« schrie die Kranke sie an, »aber gleich! gleich!«

Und so hörte denn Vater Tracey in seinem Schlummer den vertrauten Klang der Nachtglocke, wachte verwirrt auf und zog halb im Traume seine ärmlichen Kleider an, betend und fragend: »Welche arme Seele verlangt nach mir?«

Wenn auf Erden irgend eine Belohnung für das Opfer, das ein Priester immer für seine Herde bringen muß, größer ist als eine andere, so ist es das Aufdämmern von Hoffnung und Trost, das aus Augen und Antlitz der Schmerzgequälten, der Sorgenvollen oder der Verzweifelnden leuchtet, wenn ein Priester ihrem Kranken- oder Leidensbette naht und alle Phantome, welche die arme Menschheit peinigen, bei seinem Nahen entfliehen. Das hervorgemurmelte »Gott sei Dank!«, das schwache, halbunterdrückte Lächeln des Triumphes und Friedens; sogar die Art, in der die Kranken und Wunden sich auf ihrem Schmerzenslager aufrichten, als ob sie sagen wollten: »Ich habe jetzt eine neue Frist zum Leben erhalten, denn der Heiler und Tröster ist hier!« – all der Glaube, das Vertrauen, die Hoffnung, die seine bloße Gegenwart, ganz abgesehen von seinen geistlichen Verrichtungen, erweckt, ist eine Belohnung, die alle irdischen Auszeichnungen und Triumphe so weit überragt, daß man sie nur als den Vorgeschmack der ewigen Belohnung bezeichnen kann. So fühlte wenigstens Vater Tracey, und deshalb dankte er Gott jeden Augenblick für den erhabenen Beruf, dem er in aller Demut und Sanftmut lebte.

Als er heute Nacht das Krankenzimmer betrat, fühlten alle um Laura Desmonds Krankenbett Versammelten eine Art fühlbarer Erleichterung. Und sie wandte sich ihm sehnsüchtig zu, und als er sich niederbeugte, um zu hören, was sie zu sagen hatte, da steckte sie einen Finger in das Knopfloch seines Rockes, wie um ihn auch sicher festzuhalten. Dann flüsterte sie ihm mit heiserer Stimme ihr Geheimnis zu.

Voll Staunen fuhr er zurück und blickte sie an, als ob ihr Geist irre sei. Als sie ihre Worte wiederholte, lächelte er nur, was sie zu beruhigen schien; und dann lachte er über ihre Einbildung. Das schien das arme Mädchen zu beruhigen. Sie hielt aber dennoch das Knopfloch fest.

»Sagen Sie mir auf Ihr Ehrenwort als Priester, daß Sie die Wahrheit reden?«

»Natürlich,« rief er. »Beruhigen Sie sich doch, mein Kind, und versuchen Sie, etwas zu schlafen.«

»Ich kann nicht mehr einschlafen,« sagte sie, »wenn ich nicht von Gott die Versicherung erhalte, daß es nicht so ist.«

»Nehmen Sie meine Versicherung hin! Was wollen Sie denn noch mehr haben?«

»Schon recht, Hochwürden! Aber ich sage Ihnen, sie gehört ebensowenig zu uns – wie – wie –«

»Das kann schon sein,« sagte er, obgleich er fühlte, daß er dem Geheimnisse des Königs gefährlich nahe komme. »Gott allein kennt die Geheimnisse der Herzen.«

»Warum ist sie dann aber hier?« fragte das verwirrte Mädchen. »Hier ist doch kein Platz für ihresgleichen. Oder sie ist –« und sie verfiel wieder auf ihre alte Idee – »das, was ich sage.«

»Verbannen Sie für immer diesen Gedanken aus Ihrer Seele!« sagte er und machte sich sanft von ihr los. »Und beten Sie, beten Sie! Es gibt mehr Heilige in der Welt, als man ahnt.«

Einige Tage später hatte er mit Schwester Eulalie eine lange Unterredung über diesen Punkt.

»Manchmal beginne ich selber zu zweifeln,« meinte er. »Das Ganze ist so seltsam, schön und wunderbar. Es wird noch mancher Tag vorübergehen, ehe das arme Kind von seiner fixen Idee läßt.«

»Es ist seltsam und schön,« sagte Schwester Eulalie. »Manchmal ist es mir, als sollte ich niederknien und den Boden küssen, wo sie wandelt. Und denken Sie nur: Lukas spricht da von Täuschung und Hysterie!«

»Kennen Sie sie auch sicher?« fragte Vater Tracey nachdenklich. »Ist es zweifellos, daß Sie sie gesehen haben?«

»Aber! Sie sind ja fast so schlimm wie Laura,« sagte Schwester Eulalie. »Da ist kein Irrtum möglich außer dem meinen, den Gott verzeihen möge: ich dachte auch schlecht von dieser süßen Heiligen und hielt sie für hochmütig, stolz und auf andere herabsehend.«

»Aber Sie könnten sich doch irren, meine Teure,« meinte Vater Tracey. »Man weiß ja nie. Und vielleicht –«

»Nein, nein! Wo denken Sie denn hin! Da ist kein Zweifel möglich,« versicherte sie. »Sie ist es; und sie läßt sich nicht träumen, daß wir sie und ihr schreckliches Gelübde kennen.«

Und Schwester Eulalie schauderte beim bloßen Gedanken daran, wenn sie ein solches Opfer bringen müßte.

Schwester Maria wurde allmählich gequält und unruhig. Gerade zur selben Zeit, als ihr Beichtvater sie für menschlich und trostbedürftig zu halten begann, fingen ihre Genossinnen an, sie für ein übermenschliches und himmlisches Wesen zu halten, das Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß in ihre Mitte gesandt hatte. Schwester Marias Demut wollte aber die Erkenntnis dieser Tatsache lange nicht zulassen. Ja, sie betrachtete im Gegenteil die Ehrfurcht und die scheue Zurückhaltung ihr gegenüber, das demütige Ausweichen, wenn sie an Büßerinnen vorbeiging, das plötzliche Verstummen und die stete Beobachtung all ihrer Bewegungen als Zeichen der Abneigung und des Verdachtes. Die Bemerkung der Krankenschwester an Lauras Lager hatte sie auf den Gedanken gebracht, daß sie sich vielleicht infolge von Selbstüberhebung zu schroff benommen hätte und daß die, welche sie so sehr liebte, sie infolgedessen mieden und haßten. Es war das eine ausgeklügelte und schmerzliche Täuschung, die ihr viel Angst verursachte. Es war die schlimmste Prüfung, die sie noch durchgemacht hatte. Das Kreuz lastete schwer auf ihr, die Dornen drückten sich scharf ein und sie war dem Erliegen nahe. Dann fand sie aber eines Tages zu ihrem größten Erstaunen, als sie an einer Gruppe von Büßerinnen mit gesenkten Köpfen vorüberging, daß ihr Schulterkragen leicht berührt wurde. Sie wandte sich um und sah, wie eine aus der Gruppe ihn ehrfürchtig aufhob und küßte. Und unter der plötzlichen Erkenntnis, daß man ihr Ehrfurcht entgegenbringe, zitterte sie am ganzen Körper und dann erblaßte sie und zitterte noch heftiger in der Befürchtung, das Geheimnis ihres Lebens könnte bald gelüftet werden.

Tatsache aber war, daß Lauras geflüsterte Vermutungen, obwohl die Stimme der Autorität sie zum Schweigen gebracht hatte, sich dennoch unter den Büßerinnen rasch verbreitet und seltsame Gerüchte wachgerufen hatten. »Es gibt mehr Heilige in der Welt, als man ahnt«, sagte ja doch ihr eigener lieber Heiliger, der Vater Tracey. Wer kann denn wissen? Glaubt nicht jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Irland, daß die seligste Jungfrau, die große Maria Irlands, die Maria ihrer alten Litaneien und Messen, immer unter dem irischen Volke weilt? Hat man ihr süßes Antlitz nicht immer und immer wieder gesehen? Ist sie nicht armen Sündern an ihrem Totenbette erschienen und haben diese nicht dem Priester ihre weiße, strahlende Gestalt gezeigt, wie sie über ihren Betten schwebte und sie zum Paradiese rief? War sie nicht in Frankreich drüben kleinen Mädchen erschienen? Warum sollte sie dann nicht ihren lieben Iren erscheinen, die sie mehr lieben als alle andern auf der Welt? Gut, wir sagen nichts; aber wir denken uns unser Teil, wir armen Büßerinnen. Kann nicht die Makellose herniedergestiegen sein und unsere arme Kleidung angelegt haben, wie ihr göttlicher Sohn das Fleisch annahm, das gesündigt hatte? O nein! Wir dürfen nichts sagen; doch – wer weiß?

Und Lauras schrecklicher Gedanke, es könne die Mutter Gottes selbst sein, die sie mit der Hand geschlagen hatte – der schreckliche Gedanke, der sie die Nachtglocke ziehen und Vater Tracey aus seinem traumlosen Schlafe wecken ließ, begann nun in tausend verschiedenen Formen in Herz und Verstand der armen Büßerinnen sich festzusetzen. Und obwohl niemand so etwas auch nur zu flüstern wagte, und Schwester Maria nur vermuten konnte, daß eine große Wandlung mit ihren Genossinnen vorgegangen war, so wußte sie nun, daß ihr Kreuz von einer unsichtbaren Hand plötzlich hinweggenommen worden war und daß die Worte sich bewahrheitet hatten: »Ich hörte dich im Dunkel des Wetters; ich prüfte dich bei dem Wasser des Widerspruches.«


 << zurück weiter >>