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III.
Der Scharfsinn des Alters

Während der junge Priester hastig über die Felder dahinschritt, die schon der Ernte entgegenreiften, wurde er sich eines tiefen Gefühls der Niedergeschlagenheit bewußt, das ihn schwer bedrückte, obwohl er in der schönsten Jugendblüte stand, die Zukunft ihm vielversprechend entgegenlachte und der Himmel über seinem Haupte von keinem Wölkchen getrübt war. Diese Verpflichtung zum Diner war zwar eine häßliche Feuerprobe, die er zu bestehen hatte, aber schließlich, was sollte er sich darüber aufregen? Es bedeutete einfach ein paar Stunden Todesqual, das war alles. Woher dann der Mißmut? Woher kam dann diese schreckliche Angst und Vorahnung? Er liebte es, wie wir schon bemerkten, die Dinge zu analysieren – eine gefährliche Gewohnheit; und er versuchte nun, während die Sonne auf ihn herabbrannte, zwei oder drei Dinge miteinander zu vereinen, deren Geheimnis die Welt schon längst als unlöslich erklärt hat. »Eine untadlige und achtbare Laufbahn«, »Ehrenstellen und Einkünfte«, »ein Sitz im Domkapitel«; diese Ausdrücke durchschwirrten die aufgeregten Empfindungen des jungen Priesters und machten ihn fast krank mit ihrem trüben, hohlen Klang. Gütiger Himmel! War dies das Ende von allem – das Ende all der himmlischen Wünsche, all der edlen Entschlüsse, all der geheiligten Ideale, die Herz und Sinn erst vor einer Woche noch durchdrungen hatten, als das Salböl noch feucht auf seinen Händen lag und er erzitterte, als er zum ersten Male den Kelch des Blutes Christi berührte? Wie niedrig schien ihm da jeder menschliche Ehrgeiz! Wie schäbig aller Flitter der Könige! Wie nichtig und wertlos der Schimmer irdischer Throne! Wie brannte seine Seele danach, dem Heroismus der Heiligen nachzueifern – in die Ferne zu ziehen, von der Welt vergessen zu werden und nur von Christus gekannt zu sein – unter den Aussätzigen und Irren zu leben und zu sterben –, durch einen raschen Streich des stumpfen Schwertes eines Henkers in China oder Japan zur ewigen Glorie einzugehen! Wahrlich, nur die Bitten seiner greisen Mutter vermochten es, ihn dahin zu bringen, daß er den Brief wieder zerriß, den er schon dem Bischof von Natal geschrieben hatte, ihn um die Gunst bittend, als Seelsorger nach der Robbeninsel geschickt zu werden, wo der Auswurf und Abschaum der Menschheit untergebracht war, auf daß sein Leben von Anfang bis zu Ende ein einziges glorreiches Brandopfer vor dem Angesichte Gottes sei! Und jetzt, nach all diesen herrlichen Wünschen, bleibt nur die graue Asche einer »achtbaren Laufbahn«, ein bequemes Heim, Ehrenstellen und Einkünfte, und, als Krönung eines langen Lebens, eine Pfarrei und eine Präbende zurück! Welch ein Gegensatz! Lukas stöhnte, nahm seinen Hut ab und wischte sich den heißen Schweiß von der Stirne.

Aber ein schärferer Stachel lag noch hinter diesen Betrachtungen. Wenn das alles schon anstößig und überraschend war, was sollte er erst von allen seinen ehrgeizigen Mühen und Arbeiten während der letzten sechs Jahre denken? Hatte er da einen einzigen anderen Gedanken in seinem Geiste gehegt als Selbstverherrlichung, Ruhm, Menschenlob und den Beifall seiner Mitschüler, außer an jenem heiligen Morgen, als er, trunken von göttlichen Träumen und Hoffnungen, auf den höchsten Höhen des heiligen Berges schwebte? Und er sprach zu seiner Seele inmitten ihrer Seufzer und Tränen: » Unam petii a Domino: hanc requiram: ut inhabitem in domo Domini omnibus diebus vitae meae. Ut videam voluptatem Domini, et visitem templum eius. Impinguasti in oleo caput meum: et calix meus inebrians quam praeclarus est!«

Was war nun das Richtige, die stumme Verleugnung der erhabenen Lehre von der Hingabe seines Selbst und der Liebe zur Demut und Armut und als notwendige Folge das Evangelium des Egoismus, wie man es von allen Dächern predigte, oder dieses plötzliche Wehen des heiligen Geistes, dieser Hauch, der mit Heiligkeit und Leiden gewürzt ist, diese flüchtige Trunkenheit, die nur ein- oder zweimal über Heilige und Heroen kam und in der sie voll heiliger Verachtung alles verschmähten, was der Welt teuer ist? Was war das Rechte? Es war das Rätsel des Lebens, die Antithese von Theorie und Praxis. Er sah, wie in einer Vision, alle Folgen und Bedenken, die sich mit der Zeit an das eine und das andere Prinzip heften würden. Er sah, wie er als Narr oder Fanatiker gebrandmarkt würde, wenn er das eine wählte, und wie er anderseits als ehrenwerter und geachteter Geistlicher bezeichnet würde, wenn er das zweite wählte. Dort war Leiden, Krankheit und Schande; hier Friede, Ansehen, Gesundheit und Reichtum. Er wußte zwar wohl, wohin die göttliche, durchbohrte und blutende Hand wies; doch wer bin ich denn, sagte er zu sich selber, daß ich meine Meinung der der ganzen Welt vorziehen sollte? Ich bin ein hoffärtiger Tor, wenn ich mir einbilde, daß diese krankhaften, quälenden Gedanken, die einem überarbeiteten Hirn und reizbaren Nerven entspringen, vor den ruhigen und fast ohne Ausnahme geltenden Gewohnheiten der Menschheit befolgt werden sollen. Ich werde meiner Seele zurufen: Schlafe du jetzt und ruhe aus! Laß die Zukunft ihre Rätsel selber lösen!

Aber dann stieg mit dreifacher Gewalt wieder die Scham in ihm auf, die er empfunden hatte, als der alte Pastor ihm so plump und geradeheraus von diesen ehrgeizigen Träumen auf rasches Emporkommen gesprochen hatte. Und er dachte eben wieder an jenen Morgen, an dem er seltsame Dinge in seinem Betrachtungsbuch gelesen hatte. Es war die genaue Widergabe alles dessen, was der Geist gesagt hatte. Wer war nun im Recht? Dieser alte Mann im neunzehnten Jahrhundert oder jener seltsame, ungenannte und unbekannte Mönch, der zu ihm nach sechs Jahrhunderten sprach? Die Welt war inzwischen weise geworden. Wirklich? Das mochte ja alles vortrefflich ins dunkle Mittelalter passen, aber wir leben jetzt im erleuchteten neunzehnten Jahrhundert. Ist das nicht so? Wir brauchen nicht zum Mittelalter zurückzuwandeln, um da unsere Lebensphilosophie zu holen, da wir doch stets selber so viele neue Systeme haben; und unsere Illuminati wissen ein wenig mehr als die alten Mönche mit ihren Kapuzen, ihren Sandalen und ihrem Mönchslatein.

»Nach des Leuchtturms fernem Scheine, vorwärts, vorwärts laßt uns streifen,
Nicht zurück ins alte Dunkel, in der Zeiten Wechsel, schweifen!«

Jawohl, so ist's. »Nicht zurück ins alte Dunkel!« Kehren wir etwa zu den Gänsekielen zurück, nachdem wir die Buchdruckerkunst erfunden haben? Oder zu dem Postwagen, wenn wir den Dampf besitzen? Zurück zu den Klöstern, wenn wir Hotels haben? Zurück zu Abtötung, Schande und Selbstverleugnung, zu den Innominati der Zelle und des Grabes?

Das dumpfe Anschlagen der Meeresbrandung drang klagend an sein Ohr, während die Sonne strahlend über der Erde lag. Und als er sich von seiner Träumerei und dem Anblick des ruhelosen, aber ewig gleichen Ozeans abwandte, da vermeinte er die tadelnden Worte: »Schäme dich, o Sidon, sprach das Meer« an das Ufer getragen zu hören.

Da vernahm er plötzlich den Zuruf des gutmütigen Kaplans: »Meiner Treu, ich glaubte schon, du wärest zur Statue geworden! Schon eine halbe Stunde habe ich auf dich gewartet und dir gepfiffen, bis mir der Atem ausging. Aber da hätte ich ebenso gut einem Meilenstein pfeifen können. ›Der Kanonikus hat ihn zu Eis verwandelt‹, sagte ich zu mir selber, ›er ist ein richtiger, patentierter Eisschrank‹. Komm rasch! Die Kartoffeln warten schon auf dich, ebenso wie zwei der hungrigsten Gesellen auf Gottes Erdboden. Aber lebst du wirklich? Laß mich deinen Puls fühlen!«

So gingen sie zusammen der bescheidenen Wohnung des Geistlichen zu. Und als Lukas schwer auf einen roßhaargepolsterten Sessel in der kleinen Stube niedersank, befahl ein Pochen an die Küchenwand dem dienstbaren Geist, das Essen aufzutragen.

»Kommt gleich!« echote darauf eine ferne Stimme, die der eines Bauchredners glich.

»Du kennst doch Vater Tim, Lukas? Und das da ist mein alter Freund Martin Hughes, der größte Gauner von hier bis Kap Clear. Aber jetzt langt zu, Kinder! Ihr wißt, wir sind spät dran. Segne uns, o Herr! Amen. Gelt, du nimmst dir den rechten Flügel, Lukas! Du hast ein gutes Recht darauf. Bei Gott, du hast eine brave Mutter.«

»Und ich darf wohl behaupten,« meinte Vater Tim, mit der linken Hand die Tranchiergabel in einen Schenkel versenkend, »daß dieser Bursche aus derselben Quelle stammt. Ja, das ist eine Pfarrei, wo man nur ein paar Brocken vom Metzger zu kaufen braucht.«

»Ich glaube gar, du hast ein Auge auf sie geworfen, Tim. Aber da hast du schon gar keine Aussicht, mein Teurer! Studiere nur Valny, Lord Chesterfields Briefe und das Lehrbuch der Etikette. So ein unmanierlicher Kamerad wie du, was sollte der für eine Aussicht haben, so einen feinen, gebildeten jungen Mann, wie mich, auszustechen! Reiche Vater Delmege die Kartoffeln hinüber, Marie! Sie geben den Studenten kein Bier mehr, sagst du? Ja, das ist schlimm! Was willst du jetzt nehmen? Probier mal den Sherry da. Nein? Etwas Wasser?« rief er in einem Tone unaussprechlichen Ekels.

»Ich denke, Vater Delmege hat damit recht an einem solchen Tage,« wandte Martin Hughes ein, ein milder Priester mit sanftem Gesichtsausdruck, der gewöhnlich schwieg, außer wenn er etwas Liebes oder Ermutigendes zu sagen wußte. »An dem Bier,« fügte er hinzu, »liegt wirklich nicht viel. Es war ein Glückstag für Irland, als sie es abschafften.«

»Natürlich, wenn nicht jeder wüßte, was für ein verschrobener Kunde du bist! Aber Lukas, alter Bursche, lebst du wirklich?«

»Jawohl, ich lebe und genieße,« entgegnete dieser lachend. » Ab actu valet ad esse consecutio. Und wenn das keine Wirklichkeit ist, möchte ich gern wissen, was dann eine ist.«

»Da habt ihr's,« sagte der Gastgeber; »er klebt noch am Staub seiner Schulbänke. Bei Gott, ich glaube kaum, daß ich das noch übersetzen könnte.«

»Probier's nur gar nicht,« fiel Vater Tim ein, »nichts stört eine gesegnete Verdauung mehr als ernstliches Denken.«

»Meiner Treu, das stimmt! Ich werd's auch bleiben lassen. Ich weiß was Besseres zu tun. Marie, bring das bißchen Hammel herein, wenn ich schelle!«

Und so vergaß Lukas unter Lachen, Scherzen und Plaudern bei diesen lieben, frohen Menschen bald alles, was ihn bedrückte. Dann wurden die Schüsseln weggeräumt, und die Herren machten sich's zu einer ruhigen Abendunterhaltung bequem. Vater Tim legte ein Bein übers andere und drückte bedächtig den Saft einer Zitrone in sein Glas. Dann begann er zu philosophieren. Er redete nur langsam, im Gegensatz zu seinem Freunde, dem Wirte des heutigen Abends, und geizte wie ein Spartaner mit seinen Aeußerungen, die er mühsam aus sich herausholte.

»Einen Rat möchte ich dir geben, Lukas, lieber Junge; nicht jetzt, aber in zwanzig Jahren wirst du mir dafür Dank wissen. Werde hart beizeiten!«

»Ich bitte um Verzeihung, Vater,« erwiderte der Angeredete verwundert.

»Wofür, mein Junge?«

»Ich verstand Sie nicht recht,« sagte Lukas schüchtern. »Sie sagten etwas –«

»Ich sagte,« erwiderte Vater Tim, ein Stückchen Zucker eintauchend, »und ich wiederhole es, werde hart beizeiten!«

»Laß den Jungen gehen,« warf Vater Martin ein, »gib nichts auf seinen Unsinn, Lukas!«

»Ich sagte und ich wiederhole,« fuhr Vater Tim fort, »und nach dreißig Jahren wirst du meinen Rat zu schätzen wissen, werde hart beizeiten! Die Geschichte ist die: wenn du ein Gläschen Wein trinkst, z. B. diesen Burgunder da – und das bedeutet nicht mehr als ebensoviel Wasser – und er steigt dir zu Kopf, und deine Augen werden wässerig, deine Kniee schwach, und du bist nicht imstande, dreimal fließend den Wortlaut der britischen Verfassung herunterzusagen, so bist du ein Trunkenbold und ein ausschweifender Mensch. Wenn du aber eine Tonne dieses schweren Weins aussäufst, und dein Kopf bleibt ruhig, deine Knie fest und deine Zunge geschmeidig, dann bist du der mäßigste und enthaltsamste Mensch, den es gibt. Mit einem höflichen Wort und einem harten Kopf kommt man durch die ganze Welt.«

»Meinen Sie damit,« erwiderte Lukas, der über diese Behauptung sehr erstaunt war, »daß die Welt so über die Unenthaltsamkeit urteilt?«

»Natürlich, so und nicht anders. Die Welt urteilt nach dem Schein – und nach nichts anderem.«

»Das ist aber empörend und garstig,« entgegnete Lukas. »Wenn nun ein armer Bursche einmal einen Fehler begeht –«

»Wenn er einen solchen Fehler in Maynooth beginge, wie würde man über ihn urteilen?« fragte Vater Tim.

»Er würde natürlich sofort entlassen werden. Man ist ja nur auf Probe da, wie Sie wissen, und daher ist es ganz natürlich –«

»Und Maynooth ist die Welt!« schnitt ihm Vater Tim lakonisch das Wort ab. »Man ist immer nur auf Probe da, bis man die Schlußprüfung besteht – jenseits des Grabes.«

Der Einfall war so gut, so groß, daß Vater Tim zehn Minuten brauchte, bis er sich von einer köstlichen, innerlichen Heiterkeit der Selbstzufriedenheit erholt hatte, die durch Lukas' erschreckten, feierlichen Ernst noch gehoben wurde. Dann wurde er wieder ruhig.

»Mach dir nichts aus einem alten Zyniker, Lukas!« lenkte er ein. »Diogenes muß manchmal aus seiner Tonne schelten.«

»Uebrigens, Lukas,« fiel Vater Martin ein, »bist du fürchterlich bescheiden. Du erzählst uns ja gar nichts von deinen Triumphen beim letzten Examen. Er schlug nämlich alle aus dem Felde,« sagte er in erklärendem Tone zu Vater Pat, dem Gastgeber.

Der war für einen Augenblick in Verlegenheit, aber nicht länger.

»Ja, habt ihr denn etwas anderes erwartet von seiner Mutter Sohn?« fragte er. »Das ist weitaus das klügste Weib in den drei Pfarreien. Mike Delmege würde ohne sie heute nicht sein, was er ist. Und Lukas erst – habt ihr denn all seine Preise gesehen?« fragte er plötzlich. »Ja, mein Lieber, wenn Lukas nochmals sechs Jahre vor sich hätte, er würde eine Bibliothek wie Trinity College zusammenbekommen.«

»Warst du in jedem Fach der erste der Klasse?« fragte Vater Martin.

»In jedem Fach, mit Ausnahme des Hebräischen!« erwiderte Lukas errötend. »Sie wissen, daß es da –«

Und er gab gelehrte Erklärungen seines relativen Mißerfolges in diesem Fach, wobei viel masoretische und syrochaldäische philologische Weisheit über seine Lippen floß; aber er dachte nicht mehr voll Stolz an alles, sondern eher mit einem gewissen Gefühl des Ekels. Als er voller quälender Gedanken und Empfindungen das Heim des Kanonikus verlassen hatte und wie im Traum über die Felder an die See gewandelt war, da hatte er wie in einem Spiegel die Eitelkeit und Flüchtigkeit all dieser vergänglichen und flüchtigen Triumphe gesehen; da waren all sein Stolz und seine Ueberhebung fast geschwunden. Und jetzt wunderte er sich über die Sonderbarkeiten der Leute, die bald seine akademischen Triumphe mit verächtlicher Gleichgültigkeit betrachteten, bald ihnen eine Wichtigkeit beimaßen, die sein gesunder Menschenverstand nicht nur für bloße Schmeichelei halten konnte. Die Leute und ihre ewig wechselnden Anschauungen über menschliches Verdienst wurden ihm rätselhaft. Für ihn selber bewies aber ihr Wankelmut gerade die Wertlosigkeit dessen, was sie lobten und priesen.

»Du bist jetzt gemacht für dein ganzes Leben, mein lieber Junge,« sagte schüchtern Vater Martin. »Du hast dir einen Namen gemacht, und das bleibt an dir haften wie ein Muttermal. Dir bleibt nichts mehr übrig, als auf uns arme Kerle von oben herunter zu blicken, die wir nicht einmal ein Atque bekamen.«

»Das ist wahr!« fiel der ehrwürdige Gastgeber ein. »Wenn er mal um eine Pfarrei einkommen kann, müssen wir ihm eine Stadt bauen. In der ganzen Diözese wird keine würdige Stelle für ihn zu finden sein.«

»Sie werden ihn schon zum apostolischen Vikar oder Bischof, oder so etwas machen da droben,« meinte Vater Martin. »Er wird ein richtiger John Bull werden. Wenn einer dich nach deinen Fähigkeiten fragt, so sag' ihm nur, daß du die goldene Medaille erhalten hast, dann wird er einen Schlaganfall bekommen.«

»Oder schlag ihm den Cambrensis Eversus an den Kopf!« erklärte Vater Pat.

»Nun, ich fange doch wenigstens gut an,« bemerkte Lukas, am Scherze teilnehmend.

»Ja, das tust du, mein Junge!« rief ermutigend der Gastgeber. »Wenn du nur im Lande bleiben wolltest, du würdest unfehlbar vorwärts kommen im Amt.«

»Nächsten Sonntag bin ich beim Kanonikus zum Diner geladen,« sagte jetzt Lukas bescheiden.

»Was?« schrien alle drei zusammen.

»Hattest du den Mut?«

»Die Unverfrorenheit dieser jungen Leute ist ohne Grenzen!«

»Guter Gott!« akzentuierte langsam und feierlich Vater Tim.

»Nächstens wirst du ihn dann drunten in Lisnalee bei dir zu Tisch bitten,« bemerkte der Gastgeber.

»Und warum denn nicht?« entgegnete errötend und ärgerlich Lukas. »Was ist da Unehrliches dabei, wenn man im Hause eines hochachtbaren Mannes zum Diner geladen ist?«

»Und warum denn nicht?« klang es aus dem Munde Vater Tims wie von ferne.

»Und warum denn nicht?« wiederholte nachdenklich Vater Pat.

»Und warum denn nicht?« echote Vater Martin und blickte traurig auf den jungen Priester herab. Der stellte sich gleich eine Menge aufregender, revoltierender Fragen. Bin ich nicht gerade so gut ein Priester wie er? Warum sollte er nicht ebensogut mit meiner Mutter und meinen Schwestern verkehren, wie ich seine Verwandten kennen lernen soll? Wer hat diesen riesigen Abgrund zwischen uns gestellt, wie zwischen Lazarus und den reichen Prasser? Das ist nur dieser verfluchte, engherzige, mittelalterliche Konservatismus, der uns so viele hundert Jahre hinter der übrigen Welt zurückbleiben läßt. Könnte so etwas in einem andern Lande der Welt vorkommen? Hat denn keiner so viel Mut, diesen steifen, peinlichen Formalismus über den Haufen zu werfen, den nur Eitelkeit und Dummheit erfunden haben, und den nur der Kastenstolz schützt, diese unerträglichste aller menschlichen Torheiten?

»Ich werde ihn ganz gewiß zu mir einladen,« sagte er jetzt laut.

»Nein, mein lieber Junge, das wirst du nicht! Du wirst doch deinen Kopf nicht an einer Steinmauer einrennen wollen!«

»Dann will ich auch nicht bei ihm speisen,« erklärte Lukas entschieden.

»Natürlich speisest du bei ihm,« bemerkte bewundernd Vater Pat. »Habt ihr je in eurem Leben solch ein unbändiges Füllen gesehen? Aber das hilft nichts; du gehst am Sonntag zum Kanonikus und dinierst mit ihm. Und wenn wir dir alle unsere Erfahrungen mitgeben, wirst du hoffentlich keine Kapitalfehler begehen. Womit fangen wir an, Vater Martin? Steh' auf und zeig' mal Lukas, wie man die Damen zu Tisch führt.«

»Gib nur deine Erfahrungen zum besten, Pat,« lachte gutgelaunt Vater Martin. »Die sind unser Handbuch der Etikette – ich meine deine Fehler.«

»Ich machte nur einen einzigen Fehler,« erwiderte der Angeredete, scheinbar ärgerlich, »aber der genügte, um mich auf ewig vom Himmelreich auszuschließen. Es handelte sich nur um eine oder zwei elende Erbsen. Ich hatte gut gespeist – wenigstens so gut es geht, wenn man stets sein Augenmerk zugleich seinem Teller und dem Gastgeber zuwenden muß. Da lagen noch einige wenige Erbsen auf meinem Teller, die der alte Herr dahingelegt, obwohl ich sie nicht mehr brauchte. Ich setzte nun meine Gabel sachte an die erste. Wie ein Heuschreck hüpfte sie weg. Dann versuchte ich's mit Numero zwei. Wie ein Quecksilberkügelchen sprang sie davon. Dann Nummer drei. Damit ging's ebenso, sodaß ich wütend wurde. Mein Schutzengel flüsterte mir zwar zu: Laß sie! Aber ich war erregt und dachte: Siegen oder sterben! Ich schaute empor und sah den Kanonikus in eine interessante Unterhaltung mit einer vornehmen Dame vertieft. Jetzt oder nie, sagte ich zu mir selbst. Ruhig schob ich mein Messer unter diese kleinen, grünen Teufel von Erbsen und schlang sie hinunter. Dann wagte ich minutenlang nicht aufzublicken. Als ich es aber schließlich doch tat, traf mich ein vernichtender Blick des Kanonikus. Ich wußte, daß ich jetzt fertig war. Ein paar Tage lang sagte er zwar nichts, dann aber kam der Donnerschlag. ›Ich könnte Ihnen ja noch‹, sagte er in seiner großartigen Weise, ›Ihre Sprachfehler bei der Unterhaltung verzeihen, ebenso ihre ungrammatikalische und – hm – unverständliche Aussprache, – aber daß Sie – – Erbsen – mit dem – Messer – essen! Daß eine solche Qual mir vorbehalten war, hätte ich nie ahnen können!‹ Er hat mich seitdem nie mehr zu Tisch geladen – wofür ich von ganzem Herzen Deo Gratias! sage. Aber du, Lukas, alter Junge, schau scharf zu! Laß mich sehen. Gib ihm einige Winke, Tim! Martin, probier's du auch mit deiner Kunst!«

»Sag' mir mal,« begann Vater Tim in seiner philosophischen Art, »sag' mir, Lukas, kannst du ein Weinglas zierlich am Fuß fassen?«

»Gewiß.«

»Und emporhalten?«

»Natürlich.«

»Kannst du auch den Duft einsaugen, den Wein Tropfen für Tropfen schlürfen und ausrufen: Ha, das ist ein Weinchen! Dieser Chateau Yquem, Herr Kanonikus, ist ein 75er. O, ich weiß das zu schätzen und gratuliere Ihnen zu Ihrem Keller!«

»Zu meinem Bedauern, nein,« sagte niedergeschlagen Lukas.

»Könntest du's, du wärest gemacht fürs Leben,« bemerkte Vater Tim.

»Weißt du auch etwas von der Botanik?« fragte er dann wieder nach einer Pause.

»Ich glaube, ein Gänseblümchen von einer Butterblume unterscheiden zu können,« erwiderte Lukas lachend.

»Könntest du nicht – du kannst wohl, wenn du willst – so mitten im Diner plötzlich überrascht auffahren und im Tone maßloser Bewunderung herausstammeln: Wirklich, das ist Amaranthus Durandi! Ich hatte immer geglaubt, es gäbe nur ein einziges Exemplar dieses seltenen Gewächses in Irland, und zwar im Konservatorium des Herzogs von Leicester in Carton!«

Lukas lachte und schüttelte verneinend den Kopf.

»Dir fehlt der Esprit, der Mut deiner Rasse, mein Junge,« fuhr Vater Tim fort. »Der Elan gewinnt den Tag; oder soll ich es die Unverschämtheit nennen?«

Nach einer längeren Pause begann er von neuem: »Hast du schon etwas von einem Individuum namens Botticelli gehört?«

»Niemals!« erwiderte Lukas lachend.

»Nun, dann ist aber deine Erziehung, mein lieber Junge, entsetzlich vernachlässigt worden. Was hast du denn die letzten sechs bis acht Jahre getrieben, daß du noch nichts von Botticelli gehört hast?«

»Ich versuchte, ohne ihn fertig zu werden,« entgegnete Lukas. »Was war er denn? Ein Koch?«

»Da hilft nichts mehr,« meinte resigniert Vater Tim und schüttelte den Kopf. »Er wird sich schrecklich ausnehmen und uns allen Schande machen.«

»Leider ist's jetzt zu spät, Tim,« wandte Vater Martin ein, »ihm noch Vorlesungen über Botanik und alte Meister zu halten. Wir müssen uns darauf beschränken, ihm zu sagen, was er nicht machen soll.«

»Ich denke auch. Fange nur gleich an, Martin,« meinte Vater Tim resigniert.

»Steck' nie den Löffel mit der Spitze in den Mund!« begann Vater Martin.

»Mach' keinen Lärm beim Essen; nicht so viel, daß es eine Maus erschrecken könnte!« fuhr Vater Pat fort.

»Wenn dir dein Seelenheil lieb ist, so lege deine Hände nicht auf den Tisch zwischen den Gängen!« schloß Vater Tim.

»Du bist ein Abstinenzler, gelt?« fragte der Gastgeber. »Du hast ganz recht damit, wenn er es auch für gemein hält. Und so ist es auch, fürchterlich gemein. Aber du wirst dann nicht versucht sein, jemand einzuladen, mit dir das Weinglas anzustoßen. Er würde das nie vergeben.«

»Sag' um alles in der Welt nicht ›Bitte‹ oder ›Danke‹ zu einem Dienstboten! Er hält das für ein Zeichen gewöhnlicher Herkunft und schlechter Umgangsformen,« fügte Vater Tim bei.

»Haben wir etwas vergessen, ihm zu sagen?« fuhr er dann mit der Miene eifrigen Nachdenkens fort. »Jawohl! Blicke etwas verächtlich auf das eine oder andere Gericht und sage kategorisch: ›Nein!‹ Er hat das gern.«

»Aber jetzt tausend Dank!« rief Lukas und erhob sich. »Ich muß fort. Die alten Leute zu Hause erwarten mich.«

»Sag' Margarete, daß wir alle zum Tee hinunterkommen! Sie muß uns dann etwas vorspielen,« bemerkte Vater Pat.

»Schon recht,« entgegnete Lukas fröhlich.

Er war bereits ein gutes Stück das Feld hinuntergeschritten, das sich vor des Priesters Behausung ausdehnte, als er nochmals eindringlich zurückgerufen ward. Da hatte augenscheinlich eine Beratung stattgefunden.

»Wir hätten beinahe vergessen,« rief ängstlich Vater Tim, »und es wäre schrecklich, nicht wahr?«

Die beiden andern nickten zustimmend.

»Wenn er dich unglücklicherweise bitten sollte, vorzuschneiden –«

»Besonders eine Ente,« fiel Vater Martin ein, »so sag' gleich, deine Mutter sei tot – du wissest es sicher – eile heim, so rasch du kannst, und lege dich ins Bett!«

»Schon recht, Vater Tim, schon recht,« sagte Lukas lachend.

»Könntest du denn nicht das mit dem Weinglas machen – weißt du, das eine Auge so zudrücken, und dann das sagen, was ich dir angab?« flehte Vater Tim.

»Niemals!« rief Lukas entschieden. »Niemals!«

»Was ich noch sagen wollte,« fing Vater Martin nochmals an, »weißt du etwas von Geflügelzucht? Kennst du ein Dorkinghuhn von einem Wyandottehuhn auseinander?«

Aber Lukas war schon verschwunden.

»Was nur eigentlich diese Professoren in ihren Kollegien treiben?« fragte Vater Martin, als das Trio sich wieder mit trauriger Miene um den Tisch setzte. »Warum lassen sie nur solche ungeschliffene Burschen in die Welt hinaus?«

»Ja, warum nur?« wiederholte Vater Tim.

»Schwer zu sagen,« meinte Vater Pat.


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