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VI.
Abschied

Gequält und verdrossen, ärgerlich über seine gesellschaftlichen Mängel und aufgebracht über die Unliebenswürdigkeit der andern, ging Lukas in den Salon hinüber. Dieser Aerger gab aber seinem braunen, gesunden Gesicht eine interessante Blässe, und liebenswürdig forderte ihn Mrs. Wilson auf, sich neben sie auf das Sofa zu setzen, und plauderte einige Augenblicke freundlich mit ihm. Sie bat ihn sodann, ihr beim Herrichten des Teetisches behülflich zu sein; und er begann bereits, sich etwas behaglicher zu fühlen, obwohl er noch immer entschlossen war, bei der ersten Gelegenheit davonzulaufen, als ihn der Kanonikus plötzlich bat, die Notenblätter am Klavier umzuwenden, wo Barbara saß. Lukas wollte sich eben damit entschuldigen, daß er gar nichts von Musik verstehe; aber in einem schwachen Augenblick erhob er sich doch, und während Miß Wilsons Finger über die Tasten glitten, stand er steif wie eine Statue neben ihr. Kurz darauf nickte sie, und er wandte das Blatt mit dem Applomb eines Kenners um. Dann wurde er sich plötzlich der ganzen Lächerlichkeit der Situation bewußt, und Hals und Gesicht färbten sich bis zu den Haarwurzeln rot vor Scham und Verwirrung. Er erinnerte sich plötzlich an ein Bild, das bei den letzten Exerzitien ihnen als abschreckendes Beispiel gezeigt worden war. Und in ihrer ganzen bemitleidenswerten Läppischkeit sah er die gut gezeichnete Gestalt auf dem Bilde vor sich: den feigen, schwächlichen, weltlichen Priester, der die Zeichen Christi und des Kreuzes an sich trug und doch die Sitten und Gebräuche der Welt nachäffte und in Kleidung, Umgangsformen und Gesprächston fortwährend wechselte, wie Schauspieler auf der Bühne. O Lukas, Lukas! So weit ist es schon mit dir gekommen und noch dazu am Tage deiner ersten heiligen Messe! Vor Scham und Selbstverachtung brennend, hatte er gerade noch so viel Geistesgegenwart, ein: »Entschuldigen Sie mich!« hervorzustottern, worauf er sich beschämt in einen Winkel flüchtete, und dort ein Album durchblätterte, während die tollsten Gedanken sein Hirn durchjagten.

Er kam erst wieder zu sich, als er den Kanonikus sagen hörte: »Dieses Duett aus dem – hm – ›Troubadour‹, Barbara; oder vielleicht möchte Louis die ›Maritana‹ singen!«

Ihre beiden Stimmen klangen harmonisch zusammen, und zu jeder andern Zeit würde Lukas mit Vergnügen gelauscht haben, aber heute Abend nicht. O nein! Es war ein Tag der Demütigung und der Qual für ihn gewesen; selbst der Zauber der Musik konnte ihm heute den Frieden nicht bringen.

Erst hörte er ein Flüstern und Wispern zwischen Barbara und ihrer Mutter. Dann trat erstere auf ihn zu und streckte ihm schüchtern bittend die Hände entgegen und flehte: »Mutter würde Sie so gern singen hören, Vater. Ich bin überzeugt, Sie singen gut.«

»Ich versichere Sie, Miß Wilson, ich bin gar nicht gewohnt zu –«

»Ich weiß aber von Ihrer heutigen Messe her, daß Sie einen schönen Bariton haben. Bitte, singen Sie, Vater!«

Was konnte er wohl singen? Alles, was ihm einfiel, verwarf er wieder. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Ja, beim Himmel, das wollte er singen! Da konnte er eine feine Rache nehmen und diese gespreizte, aristokratische Gesellschaft etwas aus dem Gleichgewicht bringen. Und werden sie nicht lachen, die Seinen zu Hause, wenn sie davon hören werden? Und Vater Pat, wird er nicht einen Luftsprung machen und behaupten, es sei das beste, was er je noch gehört? Aber es wird unhöflich und anstößig sein! Macht nichts! Nur zu, es wird schon gehen!

Und Lukas reckte sich auf zu seiner vollen Höhe, lehnte einen Arm auf den Kamin und sang in dem herrlichen Bariton, der ihm eigen, ein irisches Rebellenlied in die Ohren dieser ausgeprägten Loyalisten.

Der Kanonikus war über alle Maßen empört; und doch schien es fast, als ob das Lied alte, liebe Erinnerungen weckte, die ihm die Augen feuchteten. Lukas schüttelte eilig den Damen die Hände, während ihn Barbara enthusiastisch fragte: »Wer hat das gedichtet? Sie müssen mir Text und Noten geben, Vater! Das wiegt alle Opern der Welt auf!«

Er nickte Griffiths zu, ging achtlos an Wilson vorbei, reichte dem Kanonikus die Hand und dankte ihm für seine Gastfreundschaft. Dann stürmte er hinaus in die kalte Luft, mit brennender Stirn und pochendem Herzen.

In seiner schnellen Gangart war er schon auf die Straße hinausgetreten, als er ein Rauschen von Seide hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah Barbara Wilson bleich und außer Atem auf ihn zukommen.

»Vater,« rief sie, »Sie gehen auf die englische Mission, wie ich höre?«

»Ja,« entgegnete er verwundert.

»Darf ich fragen, wohin?«

»Das kann ich noch nicht sagen, aber jedenfalls in eine der südöstlichen Grafschaften.«

»Gott sei Dank!« rief sie innig. Nach einigem Zögern kämpfte sie ihre Bewegung nieder: »Sie müssen mir etwas versprechen!«

»Wenn ich kann.«

»Möglicherweise treffen Sie meinen Bruder in England. Er war Assistenzarzt in Brighton. Jetzt ist er in London am Thomasspital. Wenn Sie ihn treffen, wollen Sie dann gut zu ihm sein?«

»Ich fühle mich nicht sehr hingezogen zu Ihrem Bruder,« sagte Lukas gerade heraus.

»Ich weiß das; aber Sie sind ein Priester, und seine Seele steht auf dem Spiele. Sie ahnen ja nicht – aber ich bin so entsetzt – o mein Gott – o mein Gott! – daß er so schwach in seinem Glauben ist. Sie sind vielleicht berufen, ihm zu helfen!«

»Ich will das gewiß gerne tun, wenn ich ihm bei meiner Seelsorge begegne.«

»Der gute Hirte ging seinen Schafen nach,« entgegnete Barbara.

»Man wird aber nicht gern abgewiesen, wie Sie wissen.«

»Es handelt sich aber um eine Seele,« flehte Barbara, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.

»Kein Wort weiter, Miß Wilson,« bat Lukas, »Sie beschämen mich. Ich hörte heute abend Ihren Bruder viele anstößige Dinge sagen, und ich gestehe, daß ich eine heftige Abneigung gegen ihn faßte. Aber nun, da Sie so gebeten haben –«

»Dank, innigen Dank! Und ich hab' noch etwas auf dem Herzen mit dem armen Louis.«

Sie legte nachdenklich ihren Finger an die Lippen. Dann sagte sie nach einer kleinen Pause: »Ich kann's nicht aussprechen. Sie werden es schon selber herausfinden. Aber nicht wahr, Sie versprechen es mir?«

»Ich verspreche es.«

»Und Sie werden sich von seinem Stolz und seiner Arroganz nicht abschrecken lassen?«

»Ich hoffe, nein!«

»Gott segne Sie!« sagte Barbara innig und faßte seine Hand.

* * *

»Holla, alter Junge! Frisch und munter?« war der herzliche Willkommgruß Vater Pats, der, bequem im Wohnzimmer zu Lisnalee in einen Armstuhl zurückgelehnt, eben die hübschen Locken eines kleinen Burschen streichelte, eines Waisenkindes von einem jüngeren Bruder, den Mike Delmege an Kindes Statt angenommen hatte. Wie ruhig, einfach und gemütlich lag das kleine Wohnzimmer vor Lukas' Blicken, die von dem Glanz in des Kanonikus Hause geblendet und getrübt und von den Aufregungen, die der Abend gebracht hatte, halb der Sehkraft beraubt waren. Dieses Bild blieb lange in Lukas' treuem Gedächtnis haften, und stieg inmitten seltsamer Bilder und Szenen in ihm auf, um ihn mit seiner hehren Schönheit zu trösten. Gar oft in späteren Jahren, wenn er an der Tafel von Edelleuten saß, die ihren Stammbaum bis auf die Eroberer, die in die Schlacht von Hastings zogen, zurückdatierten, dann stieg dieses Traumbild seiner Heimat am Meeresufer sanft und schön wie ein Zauberstück, das von süßer Musik begleitet ist, in ihm auf; und gar oft sah er, wenn er um Mitternacht noch die Straßen Southwarks durchschritt und der mächtige Menschenstrom donnernd, stürmisch und trübe durch die engen Gassen dahinrollte, wie in einem fernen Bilde, das die Perspektive des Gedächtnisses näher brachte, das weißgetünchte Bauernhaus über der Meeresbrandung, und die stille, schöne, heilige Halbdämmerung, die darüber schlief – ein Himmel voller Frieden und Ruhe. Er sah die zwei Fenster, die das Wohnzimmer erhellten – das eine ging nach Norden auf weiche, graue Wiesen und goldene Kornfelder hinaus, die sich vor ihm ausdehnten, bis sie sich in die purpurne und blaue Ferne der duftigen, geheimnisvollen Berge verloren; das andere lag im Süden und blickte über Massen purpurfarbenen Heidekrautes auf das ewige Meer hinaus, das in Silberglanz den ganzen Tag über schimmerte und sein stahlblaues Waffenhemd anzog gegen die Sterne der Nacht. Da war der Teetisch mit seinen Tassen und Schüsselchen und seinem Haufen appetitlicher Pfannkuchen, die Margarete eben gebacken und in Vierecke geschnitten hatte; und mit goldener Butter, der besten, die es im »goldenen Tale« gab; und mit fettem, dickem Rahm; und duftigen Erdbeeren, die in ihren traubenähnlichen Blättern lagen. Und da saß sein guter Vater, ein strenger altirischer Katholik von puritanischem Schlag, schweigsam, gottesfürchtig und gerecht, der niemals einen Tag vorüberstreichen ließ, ohne sich eine Stunde lang nach dem Mittagessen in seinem Schlafzimmer schweigend mit seinem Gotte beschäftigt zu haben, und auf dessen Grund und Boden auch der leiseste Hauch von Roheit mit sofortiger Hinausweisung bestraft wurde. Da saß auch die liebe Mutter, ihr schönes weißes Haar unter eine schneeweiße Haube zurückgestrichen und mit dem unvermeidlichen Rosenkranz in ihren Händen. Margarete, eine vollkommene Martha an hausmütterlicher Sauberkeit und Behendigkeit, ging eifrig ab und zu, während Elisabeth mehr die ernste, gedankenvolle Maria der Familie war. Und da befand sich auch Vater Pat, der beste und gütigste und treueste Freund, in dessen Arme sich die Kinder aus Zuneigung stürzten, und in dessen Hände der wildeste Schäferhund gern seine nasse Schnauze legte, nachdem er zuvor kräftig das seiner Obhut Anvertraute verteidigt hatte. Lukas warf sich in den Armsessel am südlichen Fenster und bat Margaret um eine »gute Tasse Tee«.

»Nun, ich denke, jetzt bist du hoffähig, beim Herzog von N– zu speisen,« meinte gut gelaunt Vater Pat, als Lukas wieder zu Hause eingetroffen war. »Heute Abend hast du deine Aufnahmeprüfung in die gute Gesellschaft bestanden.«

»Es war nicht so schlimm, wie ich dachte,« gestand Lukas. »Der Kanonikus war liebenswürdig, und Miß Wilson –«

Margaret vergaß bei diesem Wort die Teekanne auf den Tisch zu stellen.

»Miß Wilson machte mir alles leicht.«

Margaret schüttelte aber nur ihren Kopf, und ihr Gesicht drückte starken Zweifel aus.

»Wissen Sie, was ich glaube, Vater Pat?«

»Nein, Vater Lukas. Laß hören!«

»Ich glaube, daß viel echte Güte unter all dem Formenkram des Kanonikus steckt, und daß er im Grunde seines Herzens ein guter Mann ist.«

»Hm!« meinte Vater Pat darauf. »Wie kommst du zu diesem Schluß? Ich kenne ihn schon viel länger als du und habe das noch nicht gefunden.«

»Nun, ich weiß nicht. Es war ganz unbedeutend, aber gerade Kleinigkeiten lassen oft am tiefsten blicken. Ich sang gerade –«

»Du sangst?« rief Vater Pat.

»Was, du hast wirklich gesungen?« staunte Margaret.

»Was hast du gesungen, Vater Lukas?« fragte Lizzie, die eine gelehrigere Schülerin war, als ihre Schwester.

»Ich wollte ja gerade sagen, daß ich ›Die Musterung‹ sang, als –«

Vater Pat sprang auf.

»Du willst doch damit nicht sagen, daß du dieses feuerrote Rebellenlied in des Kanonikus Gegenwart gesungen hast?«

»Jede Silbe! Und Text und Musik hab' ich sogar Barbara Wilson versprochen.« Dabei sah er spöttisch nach seiner Schwester hinüber.

»Ich bin außer mir!« rief Vater Pat und sank auf seinen Stuhl zurück. »Das geht ja noch über Banagher! Das muß ich gleich Tim und Martin erzählen!«

Und den ganzen übrigen Abend betrachtete er Lukas mit einer gewissen Ehrfurcht.

»Also, ich wollte sagen,« fuhr Lukas ruhig weiter fort, »daß es mir schien – vielleicht war es nur eine Einbildung meinerseits –, daß die Augen des Kanonikus sich feuchteten und ein Schimmer von Rührung sie verklärte, als dächte er vergangener Zeiten.«

»Ja, ja, das könnte wohl sein,« fiel Mrs. Delmege in ihrem irischen Dialekt ein. »Ich denk' noch gut daran, wie es in der ganzen Diözese keinen mildtätigeren und weicheren Priester gab als Maurice Murray. Und die Leute wußten es gar wohl, daß seine Schwester ihn nur verlassen mußte, weil er alles den Armen schenkte, sodaß er keine zwei zusammenpassende Stiefel mehr für sich hatte.«

»Ich weiß auch noch,« sagte sinnend der alte Mike Delmege, »wie er das arme Mädchen Downey, als sie damals schwer krank am Typhus darniederlag und sich kein Mensch zu ihr hintraute, mit eigenen Armen aus dem Bette hob und in den Spitalwagen trug. Er bekam darauf selber das Fieber und starb fast daran.«

»Er ist aber jetzt ganz anders geworden, Mike. Das Fieber soll ihn so umgewandelt haben, daß er fast immer mürrisch ist«, meinte Mrs. Delmege.

»Nein, nein, nicht das Fieber hat ihn so verändert, sondern seine Schwester, die ihm vom Krankenbett fortlief, um einen reichen Mann in Dublin zu heiraten.«

»Vater Martin behauptet aber, er sei doch ein guter Mensch, trotz all seiner Verschrobenheiten.«

»Vater Martin? Ha, der nennt jeden Gelderpresser und Handelsjuden auch einen guten Kerl!« rief Vater Pat.

»Ja, ja, Vater Pat, ihr wißt aber so gut, wie ich, daß er in der ganzen Gegend wegen seiner Wohltätigkeit bekannt ist. Und wie viel haben ihm die armen Leute zu verdanken! Wenn die in Dublin droben nur den Truthahn und die gekreuzten Schwerter auf seinem Briefpapier sehen, geben sie ihm alles, was er verlangt. Denkt an den letzten Herbst, wo der armen Witwe Gleeson nichts mehr übrig blieb als das Arbeitshaus. Da schrieb der Kanonikus auch nach Dublin an den Agenten, aber er hatte nur gewöhnliches Papier ohne den Truthahn und die Schwerter, und da nahmen sie nicht mehr Rücksicht auf ihn, als auf einen gewöhnlichen Landpfarrer. Was tat nun aber unser Kanonikus? Er fuhr nach Dublin und stieg den Herren aufs Bureau. Und wie die seine hohe Gestalt sahen, da verkrochen sie sich wie die Mäuse vor ihm. Glaubt mir nur, Vater Pat, es gibt wenig Priester im ganzen Land, die sich rühmen können, wie er, daß in seiner Pfarrei kein armes Kind je sein Haupt zum Schlummer niederlegt, ohne eine warme Decke zu finden.«

»Das ist ja alles gut und schön, Mike,« gab Vater Pat zurück, »warum behält er aber dann sein vornehmes Gebahren nicht für große Herren?«

»Je nun,« erwiderte Mike Delmege, »er muß eben üben; und mit wem sollte er das tun, wenn nicht mit uns?«

»Dann soll er es für Sonn- und Feiertage aufsparen,« rief Margarete dazwischen, »oder wenn seine vornehme Schwester und Nichte von Dublin kommt. Mit den gemeinen Leuten soll er auch gemein verkehren.«

»Ganz recht, Margarete,« stimmte ihr Vater Pat zu, »wir sind einfache, schlichte Leute und brauchen nur einfache, schlichte Priester.«

»Lukas,« begann er dann zu diesem gewandt wieder, »sag, hast du uns wirklich keinen Bären aufgebunden und die ›Musterung‹ heute Abend gesungen?«

»Wie oft soll ich's denn Ihnen noch versichern!«

»Also wirklich?«

»Jede Silbe!«

»Sogar:

Seid nicht mehr Sklaven vor harten Despoten,
Gleichviel ob Kön'gin oder König er sei;
Gott schirmt das Recht; drum mit sichern Fäusten
Hauet euch Breschen! Macht Vaterland frei!«

»Natürlich!«

»Und hat ihn denn der Schlag nicht getroffen?«

»Solange ich dort war, wenigstens nicht.«

»Dann trifft er ihn jetzt. Ich werde heute Nacht sicher einen Versehgang haben. Donner und Doria! Was werden nur Tim und Martin dazu sagen? Also am Freitag willst du weg? Tim soll dich morgen haben, Martin am Dienstag, ich am Mittwoch. Am Donnerstag lassen wir ihn euch, Frau Delmege. Ist's so recht?«

»Einverstanden,« erklärte Lukas.

»Der beste Mensch, den es gibt,« sagte Mrs. Delmege, als Vater Pat auf dem mondbeschienenen Felde dahinging. Gerade am Stiegel fiel ihm noch etwas ein, und er kehrte wieder um. Drinnen kniete die ganze Familie am Boden, und Lukas betete den Rosenkranz vor. Vater Pat hörte das Stimmengemurmel und hielt inne. Und draußen, vor dem Fenster, holte er seinen eigenen Rosenkranz aus der Tasche und betete dieses herrliche Gebet mit, das allnächtlich von einem Ende Irlands zum andern gen Himmel emporsteigt.

Dann stahl er sich wieder unbemerkt weg und sprang über den Stiegel.

»Donner und Doria!« sagte er zu sich selbst, während er zwischen hohen Hecken dahinschritt, »ich glaube, er hat's wirklich getan. Aber wer hätte das gedacht? Was werden nur Tim und Martin dazu sagen? Da werden wir bis Weihnachten nichts anderes mehr reden!«

Am Dienstag darauf sprach Lukas nochmals beim Kanonikus vor, um Abschied zu nehmen. Er war diesmal nicht so ängstlich und erregt, wie früher, erwartete aber heftigen Tadel und eine gesalzene Strafpredigt für die Zukunft. Und er sollte sich nicht täuschen.

»Ich halte es für meine Pflicht,« begann der Kanonikus, nachdem die üblichen Redensarten gewechselt waren, »Ihnen offen zu sagen – hm –, daß bei unserm letzten Beisammensein am Sonntag einige Dinge vorkamen, die ich – hm – kaum billigen kann. Sollte es möglich sein, daß Ihnen Ihre Professoren wirklich nie gesagt haben, daß man sich mit den Damen nach dem Diner zu erheben und sie zur Türe zu geleiten hat?«

»Es ist nicht nur möglich, sondern sogar feste Tatsache,« gab Lukas zurück, in dem der alte Widerspruchsgeist wieder erwachte. »Uebrigens war ich gerade so beschäftigt, daß ich es ganz überhörte, wie Sie das » Gratias« sagten.«

Das war sehr gut von Lukas' Seite; aber er sah es nicht, wie sein Hieb saß.

»Ich kann es kaum glauben,« meinte der Kanonikus. »Es ist peinlich, denken zu müssen, daß wir allein nur durch eine – hm – Art höherer Eingebung die Vorteile gesellschaftlichen Umgangs kennen lernen sollen.«

Der Kanonikus war so unangenehm berührt, daß eine kurze Zeit lang tödliche Stille im Zimmer herrschte, die nur das Ticken der Uhr unterbrach.

»Sodann war Ihr Rencontre,« fuhr er dann wieder fort, »das Sie mit meinem – hm – klugen Neffen hatten, kaum ein sehr glückliches. Ich dächte aber doch, die Beziehungen zwischen Körper und Geist seien ein integrierender Bestandteil Ihres – hm – philosophischen Studienganges gewesen.«

»Und Ihr Herr Neffe war Christ genug, zu leugnen, daß es so etwas wie eine Seele überhaupt gibt,« gab Lukas errötend zurück. Der bloße Gedanke, von diesem alten Herrn über Philosophie belehrt zu werden, der wahrscheinlich noch nie etwas von einem jüngeren Schriftsteller als Tongiorgi oder Liberatore gehört hatte, brachte ihn schon wieder in Wallung. Und das sagte er einem ersten Preisträger!

»Du lieber Gott! Das war doch nur ein Nachtischargument,« lachte der Kanonikus. »Und da verloren Sie gleich Ihre Ruhe und wurden erregt! Und Sie haben noch nie etwas von diesen Od-Kräften gehört? Mein Gott! Was tun denn Ihre Professoren eigentlich? Die liefern unsern jungen Leuten doch recht eigentümliche Waffen für den Kampf des Lebens!«

Hier trat wieder eine Pause ein, während der Lukas alle seine Professoren in seinem Innern mit der Titulatur: Gesellschaft alter Fossilien, belegte.

»Ich würde kaum besonderes Gewicht darauf legen,« fuhr der Kanonikus wieder fort, »nochmals darauf zurückzukommen, daß Sie uns ein so – hm – unangebrachtes und – recht vulgäres Lied vorgesungen haben; aber Sie gehen jetzt nach England, und da wird Ihre priesterliche Wirksamkeit ohne allen Erfolg sein, wenn Sie in die täglichen Verrichtungen Ihres Amtes solche Grundsätze hineintragen, wie sie in diesem – hm – Gassenhauer ausgesprochen sind. Hat man Sie denn in Maynooth nie aus Opern singen gelehrt?«

»Nein, Sir! Es war strengstens verboten.«

»Mein Gott! Wie reaktionär! Und das ist doch so – hm – bildend! Haben Sie das hübsche Duett » Ai nostri monti nicht mehr in der Erinnerung?«

»Gewiß, es war sehr hübsch,« murmelte Lukas.

»Und meines Neffen hübsche Wiedergabe der ›Maritana‹?«

»Auf das habe ich nicht recht aufgepaßt.«

»So, und jetzt vergleichen Sie damit die leidenschaftliche Marseillaise, die Sie so unbedacht, aber recht gut zum Vortrag brachten! Glauben Sie nun wirklich, daß ›Hurra, Jungens!‹ ein Ausdruck ist, der für ein – hm – Salonpublikum geeignet ist? Sehen Sie denn nicht, daß er eher auf die Gasse gehört oder in die dumpfige Luft einer – hm – Bierstube?«

Lukas schwieg ärgerlich.

»Es ist sehr wohl möglich,« fuhr der Kanonikus fort, »daß Sie viel in englische Gesellschaft kommen. Sie können von der vornehmen Welt, ja sogar vom – hm – Adel zum Diner geladen werden. Ich hoffe aber, mein lieber junger Freund, daß Sie sich nie mehr so weit vergessen werden und in solch feine und exklusive Kreise mit – hm – revolutionären Liedern, wie das fragliche, hineinplatzen.«

Lukas erwiderte nichts und blickte nur immer zu Boden.

»Sie müssen Ihre nationalen Empfindlichkeiten eben im höheren Interesse der Kirche in den Hintergrund drängen und Sorge tragen, daß Sie die Vorurteile unserer lieben englischen Glaubensbrüder nicht durch unkluge Aeußerungen über politische Verhältnisse vor den Kopf stoßen.«

Das war alles ganz richtig, was der Kanonikus sagte, und Lukas hatte nur zu horchen. Dann kam plötzlich eine überraschende Wendung.

»Ich habe an den Bischof geschrieben und die erforderliche Erlaubnis erhalten, daß Sie drei heilige Messen in Ihrem Vaterhause lesen dürfen, nicht nur jetzt, sondern bei jeder folgenden Gelegenheit, wenn Sie gerade – hm – in der Heimat weilen.«

»Dank, innigen Dank!« rief Lukas überrascht und dankbar, »das ist eine große Vergünstigung.«

Der Kanonikus schien das nicht zu hören.

»Wie ich schon früher sagte,« fuhr er fort, »scheint mir diese Anmaßung pfarrherrlicher Rechte seitens des Bischofs kaum im Einklang mit dem kanonischen Recht. Ich habe aber auf meinen Rechten als Ortspfarrer nicht allzu hartnäckig bestanden, um nicht die Ehrfurcht vor der hohen Würde des Bischofs zu verletzen. Ich habe jedoch – hm – die Gelegenheit benützt, dem hochwürdigsten Herrn ernstliche Vorstellungen darüber zu machen, daß er eines meiner Pfarrkinder beiseite schob und – wenn ich recht unterrichtet bin – einen Mann von ganz mittelmäßigen Fähigkeiten mit einer Stelle am Diözesanseminar betraute, die sowohl Begabung wie Charakter verlangt.«

Lukas war zuerst ganz außer Fassung.

Dann erkannte er all die Güte des Kanonikus unter der steifleinenen Hülle.

»Ich bin Ihnen zu tiefstem Danke verpflichtet, Sir, daß Sie sich meiner so angenommen haben. Ich gestehe offen, daß die Zurücksetzung mich zuerst ärgerte. Aber jetzt gehe ich lieber nach England.«

»Und ich billige Ihren Entschluß vollkommen,« gab der Kanonikus milde zurück. »Ich habe es oft genug bedauert, daß ich nicht auf die englische Mission geschickt wurde. Die meinem Pfarrkinde erwiesene Mißachtung bleibt aber doch, und ich werde sie nicht vergessen.«

Der Kanonikus versank in Träumerei, wie wenn er eine feine Rache am Bischof ausbrüten wollte.

»Sind Sie in etwas,« fragte er plötzlich wieder auffahrend, »mit der Wissenschaft der Heraldik vertraut?«

»Nein!« erwiderte Lukas rasch.

»Das ist für Sie ein ernstlicher Nachteil,« erwiderte der Kanonikus. »Was haben Sie denn eigentlich gelernt, oder wie haben Sie Ihre Zeit angewandt?«

»Die Wahrheit zu gestehen, fange ich jetzt an, einzusehen, daß alles, was ich gelernt habe, wertloser Plunder ist, den ich wieder los werden muß, um dann von vorn zu beginnen.«

»Ein ausgezeichneter Entschluß!« stimmte der Kanonikus bei. »Hören Sie einmal: Delmege, das muß doch ein französischer oder normannischer Name sein? Sind Ihre Vorfahren vielleicht Hugenotten gewesen?«

»Sie waren Pfälzer,« gab Lukas zurück. »Sie lebten drüben in Ballyoogan, und wurden vor einigen Generationen katholisch.«

»Wie interessant!« bemerkte der Kanonikus. »Unsere Familie ist schottischen Ursprungs, wie Sie wissen – Murray, Moray. Einer meiner Vorfahren hielt die Bootskette der Königin Maria Stuart von Schottland, als sie aus dem bekannten Schloß entfloh. Und es war dieselbe große Königin, die ihre behandschuhte Rechte über meinen – hm – Ahnen ausstreckte und unserer Familie ihren Wahlspruch gab. ›Murray‹, sagte sie, ›Murray, sans tache!‹« Nach einer kleinen Pause fuhr der Kanonikus wieder fort:

»Hoffentlich bringen weder ich noch irgendeines aus unserer Familie je einen Makel auf das glänzende Wappenschild unseres edlen Hauses.«

Lukas, der nicht recht wußte, was er darauf antworten sollte, wurde dieser Mühe überhoben, denn der Kanonikus stand jetzt auf und sagte in seiner unnachahmlichen Weise, er wisse wohl, daß es Brauch sei, einen neugeweihten Priester um seinen – hm – Segen zu bitten, und zu Lukas' höchstem Erstaunen kniete der alte Mann demütig auf den Boden nieder. Lukas erteilte ihm den Segen, wagte es aber in alter Verehrung nicht, den schneeweißen Scheitel des Greises zu berühren. Als der Kanonikus sich wieder erhoben hatte, reichte er Lukas ein Kuvert und sagte: »Bitte, wenn Sie Ihre drei Messen gelesen haben, so lesen Sie auch zehn für mich. Leben Sie wohl! Ich hoffe, durch Ihren verehrten Vater manchmal von Ihnen – hm – zu hören. Leben Sie recht wohl!«

Als der junge Priester den Pfarrhof verlassen hatte, öffnete er das Kuvert und fand zu seiner freudigen Ueberraschung eine Fünfpfundnote darin.

»Das ist doch eine sonderbare Welt!« murmelte Lukas vor sich hin. »Wann werde ich die einmal verstehen lernen!« O Lukas! Rühre nicht an diesem großen Problem, wenn dir dein Seelenfrieden lieb ist! Seit ihrem Bestehen schon hat sich die Menschheit damit abgequält, aber die Frage wird wohl für immer ungelöst bleiben. Erfasse deine Pflicht und erfülle sie! Aber wer ließ sich je daran genügen? Und welcher Philosoph hat je der Sphinx des Lebens ins Antlitz geschaut, ohne ihr Rätsel lösen zu wollen?


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