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XXVII.
Ein großer Schatz

Lukas blieb nicht lange bei dem wunderlichen Pfarrer, der auch ein Heiliger war. Die letztere Tatsache erfaßte Lukas lange nicht, obwohl sie ihm der Bischof verbürgt hatte. Er verstand nicht ganz, wo denn bei diesem alten Herrn, der augenscheinlich nichts tat, als sein Heu und seine Rüben inspizieren, die Heiligkeit herkomme; und der die Besuche, die er seiner Scheune und seinem Schuppen abstattete, nur mit einer gelegentlichen Unterhaltung mit einem vorübergehenden Pfarrkinde vertauschte. Was bei Lukas aber geradezu Anstoß erregte, das war des Pfarrers seltsame Art, wie er alte irische Lieder mit innigem Gebet zu verbinden wußte. Wie oft summte der alte Herr nicht abwechselnd mit den Psalmen seines Breviers das lieblichste aller irischen Lieder, das an das Klagen des Windes gemahnt, der über die nebelfeuchten Berge hinstreicht: Savonrneen dheelish, Eileen Oge! Aber nach und nach fühlte sich Lukas doch wie in einer Art Heiligtum, dessen ganze Atmosphäre den Geist des Gebetes atmete. Der alte Priester, der im Zimmer auf und ab wandelte, die alte Haushälterin in der Küche, Ellie im Hofe, sie alle schienen in fortwährender Verbindung mit der Welt des Unsichtbaren zu stehen. So war's auch beim Volke. Die alten Weiber, die unter dem Holzbündel für ein dürftig Feuer keuchten, die jungen Mütter, die ihre Kleinen in Schlaf wiegten, die alten Männer, die um den offenen Herd saßen, die jungen Leute, die auf den Feldern arbeiteten, sie alle, alle schienen nur im Gebete zu leben und zu denken, im Gebet, das nur unterbrochen ward, um zögernd dem niedrigeren Berufe des Lebens nachzugehen. Und wenn der alte Pfarrer mitten im Psalter Savourneen dheelish dahermurmelte, so unterbrach die junge Mutter ihr Wiegenlied Cusheen Loo, um ein Gebet zur Gottesmutter und ihrem göttlichen Sohn zu flüstern. Und dabei die lieben Grußformen: »Gott erhalte Sie!« »Gott schirme Sie!« im honigsüßen Gälisch, das alles verwirrte Lukas. Das Sichtbare und Greifbare war in enger Verbindung mit der unsichtbaren, aber deshalb nicht weniger realen Welt hinter den Schleiern von Zeit und Raum.

Es war der Mangel an Fühlung mit dem Uebernatürlichen, der die direkte Veranlassung zu Lukas' Versetzung war. Die entferntere Ursache war der gütige Brief, den Vater Martin über den jungen und sich so unglücklich fühlenden Priester an den Bischof schrieb. Im Banne der gröberen Atmosphäre, die er vom Ausland mitgebracht hatte, gelang es ihm nicht, in die Traditionen und den Glauben des Volkes einzudringen; natürlich war das nicht der Fall in Glaubenssätzen, sondern in mehr nebensächlichen Dingen, die aber doch das Leben und den Charakter eines Volkes bestimmen. Indem er diese besser und moderner zu machen suchte, hatte er recht und nicht recht. Er verstand es niemals, warum das Volk sich seinen Ideen nicht anpassen wollte; er begriff nicht, warum es notwendig sei, alte Traditionen nur langsam auszurotten und das Nützliche an ihnen zu erhalten. Daher kam er oft mit den Ansichten des Volkes in Konflikt. Die Leute waren erregt über ein Vorgehen, das ihnen als ein frevelhafter Bruch ihrer Gewohnheiten erschien; er ärgerte sich, daß sie so schlecht gewillt waren, seine Ideale anzunehmen. Aber sie besaßen eine zu tief gewurzelte Achtung vor seinem geheiligten Amte, um sich anders als unterwürfig zu äußern. Doch die alten Männer schüttelten ihre Häupter. Zuletzt berührte er eine empfindliche Stelle der irischen Seele, und er traf auf energischen, zornigen widerstand. Er hatte an ihre Toten gerührt.

Lukas hatte schon oft gegen die irischen Leichenbegängnisse und irischen Totenwachen gepredigt. Er verstand den Instinkt des Volkes nicht, der es seine Toten unter enormen Kosten und riesigem Zeitaufwand fern der Heimat bald auf einem steilen Hügel, bald wohleingefriedigt inmitten einer Wiese begraben ließ. Immer nur mit Ekel und Widerwillen begleitete er die einsamen Prozessionen von Wagen, Pferden und Reitern auf ihrem oft stundenlangen Wege über schmutzige oder staubige Straßen, bis der Zug endlich hielt. Dann wurde der Sarg auf den Schultern über das nasse Feld hin zu einem Orte getragen, wo moosbewachsene halbverfallene Giebelmauern aus einem Walde von Schierling und Nesseln hervorschauten. Hierauf gab es ein langes, trauriges Suchen nach dem Grabe; und schließlich wurden die armen Ueberreste im Schatten der verfallenden, epheuumsponnenen und der langsamen Zerstörung der Zeit nachgebenden Ruine bestattet, während die Leidtragenden schieden und des stummen Schläfers in der Erde nicht mehr gedachten. Lukas konnte das nicht begreifen. Er predigte gegen den Zeitverlust, den es bedingte, die große Zahl von Arbeitern, die ihrem Tagewerk entrissen wurden, die Torheit, den Mann von seinem Weibe zu trennen, nur einer dummen Gewohnheit wegen. Er hatte eben niemals etwas von der Ueberlieferung gehört, die sich durch tausend Jahre ungeschwächt fortgepflanzt hatte – daß in der einsamen Abtei der Leib eines Heiligen begraben sei, der auf seinem Totenbette versprochen habe, daß jeder, der bei ihm begraben liege, mit ihm zu einer glorreichen Auferstehung erwachen würde. Und diese seltsamen Leute betrachteten den neuen hübschen Gottesacker, der von der Behörde angelegt war, mit seinen zwei Kapellen und seinen Marmorgrabmälern über den Ruhestätten von einem oder zwei Protestanten nur mit mißtrauischen Blicken. Sie zogen die verfallenen Mauern, die Brennesseln, den Schierling, den Heiligen, die Abtei und die Auferstehung vor.

Man holte Lukas zu einem alten Manne aus der Pfarrei, der am Sterben lag. Der Greis lag, selbst in seinem Alter noch ein Bild vollster Männlichkeit, auf einem niedrigen Bette unter einem Vorhang aus buntem Kattun, auf den verschiedene Heiligenbilder geheftet waren. Der Priester entledigte sich ordnungsgemäß seiner Pflichten und wollte wieder gehen.

»Ew. Hochwürden?«

»Ja,« erwiderte Lukas. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Ich möchte, daß Sie mir noch ein Wort der Erhebung und Stärkung auf meine lange Reise mitgeben, Hochwürden.«

»Gewiß,« gab Lukas zurück, der sogleich eine lange Auseinandersetzung über die Unsterblichkeit zum Besten gab, die er hauptsächlich Platons Phaedo entnommen hatte.

»Hochwürden, ich verstehe kein einziges Wort von dem, was Sie sagen; aber ich glaube, daß Sie es gut meinen. Wird der Mann droben etwas gegen mich in seinen Büchern haben?«

Der schreckliche Vergleich, der durch traurige Erfahrungen mit dem Bureau des Landagenten hervorgerufen war, erschütterte Lukas.

»Ich zweifle nicht,« erwiderte er, »daß der allmächtige Gott Ihnen vergeben hat. Sie haben eine gute Beichte abgelegt, und ihr Leben ist ein reines und heiligmäßiges gewesen.«

»Und geben mir Ew. Hochwürden auch eine richtige Quittung?« fragte der alte Mann.

Da war schon wieder das Bureau des Agenten!

»Ich habe Ihnen die Lossprechung erteilt, guter Mann. Sie müssen wissen, daß Gott Ihnen dann alles vergeben hat.«

»Ich danke Ihnen, Hochwürden,« erwiderte der Greis und fiel in Schweigen zurück.

Nur zögernd las Lukas in dem Hause des Toten die heilige Messe. Es war ihm zuwider, in den ärmlichen, ja schmutzigen Verhältnissen solcher Bauernhäuser zelebrieren zu müssen. Der Leichenzug sollte um 11 Uhr das Haus verlassen.

»Elf Uhr ist genau elf Uhr,« erklärte Lukas mit Nachdruck. »Es ist weder fünf Minuten vor elf Uhr, noch fünf Minuten nach elf Uhr, sondern genau elf Uhr, verstanden?«

»Natürlich, Hochwürden! Der Weg ist lang, und wir müssen früh aufbrechen.«

»Ich begreife nicht, warum ihr euren Vater nicht im neuen Kirchhof begraben lassen wollt.«

»Er wollte das nicht,« war die Antwort.

Fünf Minuten vor elf Uhr betrat Lukas das Haus des Toten. Da waren aber noch keine Anstalten für das Leichenbegängnis zu bemerken. Er fragte, was denn das heißen solle?

»Der Wagen und der Sarg sind noch nicht da, Hochwürden!«

»Warum denn nicht? Hat man sie nicht bestellt?«

»Schlag zehn Uhr sollten sie hier sein,« war die Antwort.

Um halb zwölf Uhr kam dann der Leichenwagen langsam angefahren.

»Warum kommen Sie denn nicht zur richtigen Zeit?« fragte Lukas zornig.

»Zur richtigen Zeit?« erwiderte der Kutscher gleichmütig. »Yerra, hat es denn Eile? Der Tag ist doch lang!«

Es wurde zwölf Uhr, es wurde halb ein Uhr. Da begannen sich erst die Nachbarn einzustellen. Lukas' schlechte Laune wuchs mit jeder verlorenen Minute. Dann bemerkte er, wie die jungen Mädchen des Hauses wild heraussprangen und die Kutscher und Knechte ins Sterbehaus hineinzogen, aus dem diese bald wieder herauskamen, wobei sie sich verdächtig den Mund mit dem Handrücken abwischten.

»Haben Sie da drin getrunken?« herrschte er einen an.

»Ein bissel Stärkung auf den Weg, Hochwürden,« gab der Mann zurück.

»Das genügt!« Und Lukas warf den Zypressenzweig, der das Zeichen der Trauer war, auf den Boden. Dann befahl er seinem Kutscher, heimzufahren. Ein paar Bauern flehten ihn an, doch zu bleiben, und hielten sogar sein Pferd an. Lukas aber nahm die Peitsche und trieb den Gaul zum Galopp; und nicht eher zog er die Zügel an, als bis er zu Hause war.

»Sie kommen aber früh heim,« meinte der alte Herr.

»Jawohl!« erklärte Lukas lakonisch.

»Sind Sie nicht ganz mitgegangen? Ist dem Pferd etwas passiert?«

»Ich bin überhaupt nicht mit dem Leichenbegängnis gegangen. Ich sah die Leute trinken; da verboten mir die Vorschriften, länger zu verweilen.«

»Die – – wa–s?« fragte der alte Pfarrer.

»Die Vorschriften, die Diözesanvorschriften,« erwiderte Lukas ungeduldig.

Der alte Mann pfiff durch die Zähne. Dann meinte er nach einer Weile: »Sie haben sich da etwas Hübsches eingebrockt, junger Mann. Die Leute mögen Ihnen alles Tadeln über Irland und alle Ihre Vergleiche mit England verzeihen; aber daß Sie dem Toten den Rücken gewendet, das werden sie Ihnen nie vergeben. Und Myles Mc Loughlin war der bravste Mann in der ganzen Pfarrei.«

»Sprechen sich aber die Vorschriften nicht klar und entschieden über die Sache aus? Und was hilft denn alle Gesetzgebung, wenn man sie nicht ausführt?«

»Sie wirken wohl noch nicht lange hierzulande?«

»Nein!«

»Das dachte ich mir,« erwiderte der gute Pfarrer und erhob sich ärgerlich. Er trat ans Fenster und blickte hinaus. Dann summte er Savourneen dheelish, worauf Lukas wußte, daß das Gespräch zu Ende sei.

Am folgenden Sonntag, an dem Lukas in seiner Predigt seine Handlungsweise ganz zu seiner Befriedigung erklärt und gerechtfertigt hatte, sprach eine Deputation beim Pfarrer vor. Sie verlangte die sofortige Versetzung »des Engländers«. Der alte Pfarrer versuchte sie zu beschwichtigen, aber er hätte ebensogut einen Vulkan löschen können. Schweigend zogen sie ab. Nur einer bemerkte: »Sie hätten es nie getan, Herr Pfarrer, und keiner unserer alten, guten Priester, die noch ein Herz fürs Volk hatten.«

Lukas hielt die Sache für erledigt. Seine Gründe waren erdrückend und unwiderleglich. Man konnte ihnen nichts entgegenhalten. Er dachte eben, die Menschen ließen sich von der Logik leiten, – einer seiner vielen Irrtümer. Am darauffolgenden Sonntag war niemand in der Kirche. Berittene Späher waren den ganzen Morgen an der Arbeit gewesen, die Leute von der Messe abzuhalten. Niemand wagte zu kommen. Am nächsten Sonntag geschah dasselbe. Da fühlte dann Lukas, daß die Lage ernst war. Er schrieb einen langen Brief an den Bischof, worin er sich rechtfertigte und seine Versetzung erbat. Der Bischof hätte ihn nun gestützt und wäre zur Aufrechterhaltung eines wichtigen Grundsatzes für ihn eingetreten, aber der alte Pfarrer bat seine Lordschaft unter Tränen, doch den wilden Kaplan zu versetzen und so den Frieden wiederherzustellen. So ward Lukas versetzt und zugleich befördert.

Es war in mehr als einer Beziehung eine glückliche Aenderung. Sobald das Volk seinen Willen durchgesetzt hatte, war es wie umgewandelt. Man zeigte sich sogar ernstlich besorgt um den jungen Priester und versicherte ihm, daß nur ein paar Taugenichtse den ganzen Aufruhr veranlaßt hätten. Lukas sagte nichts, sondern verließ die Stätte seiner Wirksamkeit als ein gedemütigter Mann. Er fühlte wohl, daß die ganze Geschichte, wenn er auch ein großes Prinzip verteidigt hatte, doch einen Makel an seinem Charakter gelassen habe.

Sein neuer Posten war ein hübsches, in einer Waldwildnis verlorenes Dörflein, ein prächtiger, kleiner Ort mit rosen- und geisblatt-umschlungenen Fenstern und schmucken Gärten mit Geranien und Begonien vor jedem Haus.

»Ein Stück Kent oder Sussex, das ein guter Engel hierher gezaubert hat,« dachte Lukas.

Alles stimmte mit diesem Aeußern überein. An dem einen Ende des Dorfes stand eine hübsche Kirche mit freundlichem Pfarrhaus und einem lieben, alten Pfarrer, wie es selbst im heiligen Irland keinen besseren gab. Er ging schon stark gebeugt, sein Gesicht war marmorbleich und sein Haar schneeweiß. Und er sprach so sanft und weich, daß es einen erbaute, wenn man ihm nur zuhörte.

Wie so viele seines Berufes, hatten Erfahrung und Menschenliebe auch ihn gelehrt, die Toleranz der Vorsehung und die Sanftmut Christi gegenüber jeder Aeußerung eigenwilliger Menschlichkeit zu zeigen.

»Du wirst dein Amerika dort finden,« schrieb Vater Martin in seinem Briefe an Lukas. »Wenn Roßmore und Vater Keatinge dir nicht passen, so wird nichts passen. Versuche doch, deine schreckliche Steifheit los zu werden, die der Leute Herzen dir gegenüber eisig berührt, und suche, ›allen alles zu werden‹, wie der große Apostel Christi, der hl. Paulus.«

So machte denn Lukas die besten Vorsätze, als er sich in einem hübschen zweistöckigen Hause im Dorfe niederließ, seine Bücher auspackte und seine Wohnung einrichtete, daß dieser Posten ein glücklicher Ruheplatz werden sollte und daß er sich seiner Umgebung anpassen und mit dem Volke recht freundlich und liebenswürdig verkehren wollte.

»Alles allen zu werden!« Guter hl. Paulus, wußtest du denn auch, welche Elastizität und Schmiegsamkeit, welchen Geist der Gutmütigkeit und des Nachgebens, welch weites, göttliches Ertragen menschlicher Sonderbarkeit du verlangtest, als du diesen edlen, weittragenden, aber nicht allzusehr realisierbaren Grundsatz aufstelltest? Edel und heilig ist er; aber in jeder Umgebung, wie schwer durchzuführen! Dieses Sichhineinfinden in menschliche Art, die durch Gewohnheit zum Granit geworden, der alle die Löcher und Spalten der Launen unserer Brüder hat – ach! dazu braucht es einen Heiligen, und sogar einen Heiligen wie du einer warst, Zeltmacher von Tarsus, und Seher und Weiser für alle Zeiten!

Lukas fand es hart. In eine neue Umgebung gestellt, wie sollte er da plötzlich in sie hineinpassen? Er war verbindlich, sanft, höflich und gebildet geworden sowohl durch eigenes Nachdenken, als auch durch vieles Lesen und täglichen Verkehr mit allem, was zu ruhiger und gesetzter Lebensart abgeglättet war. Wie sollte er sich da an Umstände anpassen, wo ein stürmischer, unruhiger Charakter als ein Anzeichen eines starken, freien, großherzigen Geistes gedeutet und sein feines, gesetztes Auftreten in gleicher Weise als das äußere und sichtbare Zeichen einer schwachen, furchtsamen Veranlagung mit einer zu großen Neigung zur Urbanität ausgelegt wurde? Aber er mußte den Versuch wagen.

»Nun, Mary, wie geht's all' den Kindern?« fragte er aufgeräumt eine junge gesunde Mutter, die ein pausbackiges Kleines auf dem Arme trug und von noch zwei oder dreien begleitet war.

»Ganz gut, Hochwürden! Sprich' mit dem neuen Priester, Käte! So rede doch mit dem Priester, Schätzchen!«

Aber Käte war scheu, steckte ihren Finger in den Mund und blickte erschreckt auf Hochwürden.

»Gib mir deine Hand, kleine Dame!« forderte sie Lukas freundlich auf, »und laß uns gute Freunde werden! Komm', gib mir deine Hand!«

Aber Käte lehnte ab. Wahrscheinlich hatte sie gehört, daß es sich für eine Dame nicht zieme, einem Herrn schon bei der ersten Vorstellung die Hand zu reichen. Nun, wenn Lukas gescheidt gewesen wäre, hätte er jetzt die Unterhaltung abgebrochen. Aber er war entschlossen, das Kind zu gewinnen.

»Was habe ich dir denn getan, Kleine?« sagte er. »Laß uns Freunde sein! Komm', gib mir dein Händchen.« Käte wollte aber immer noch nicht.

»Gib dem Priester deine Hand!« befahl jetzt die Mutter und schüttelte sie ärgerlich.

»Lassen Sie sie nur gehen!« bat Lukas. »Sie wird gleich einlenken.« Aber Käte wollte nicht einlenken.

»Gib dem Priester die Hand, Mädchen, sag' ich dir,« rief die Mutter, die jetzt rasch ihre Fassung verlor. Käte aber weinte die Tränen der Kindheit.

»Begor, wir werden sehen, wer hier Herr ist! Halte sie,« schrie sie einer Magd zu und legte ihr das Kind auf die Arme. Dann erhielt Käte Schläge trotz der inständigen Bitten Lukas', der über die Folgen seiner beabsichtigten Liebenswürdigkeit erschreckt war. Er hielt sich die Ohren mit den Fingern zu, um das Geschrei des Kindes nicht zu hören, während die Magd roh auflachte. Lukas aber entfernte sich eilig.

»Wischa, das arme Kind war nicht schuld daran,« sagte nachher die Mutter zu einem Nachbar, dem sie die Sache erzählte, »sondern er mit seinem vornehmen Getue. Das hätte ja gereicht, um das Kind in Krämpfe fallen zu lassen.«

Man hätte denken sollen, dieses Vorkommnis sei eine Lehre für Lukas gewesen. Aber er fand die Kinder eben zu anziehend. Die kalte, ruhige Art, mit der ihre großen runden Augen ihn so frei und ehrlich anstarrten, bis er blinzelte, und die unergründliche Tiefe dieser Augen, die verwundert zu fragen schienen: »Wo sah ich dich doch schon?«, machten Lukas halb zum Ketzer. Er begann an die anamnesis der menschlichen Seele zu glauben und an ihre Fähigkeit, sich einer früheren Existenz zu erinnern. In dieser Annahme wurde er durch die Reden der Ammen und Mütter noch bestärkt.

»Gewiß, sie kennt Sie, Hochwürden! Sehen Sie nur, wie sie nach Ihnen schaut! Du kennst den Priester, gelt, Schätzchen? Wie heißt er denn, Liebling?«

»Gluck! gluck!« sagte das Kind.

»Lukas! Lukas!« echoet die Mutter. »Lob und Dank der lieben Gottesmutter! Haben Sie je so etwas gehört? Und ganz gewiß – sie gleicht Ew. Hochwürden, wie eine Nadel der andern.«

»Sie ist ein ungewöhnlich hübsches Kind,« entfährt es Lukas in unbewußter Selbstschmeichelei. »Ich sah noch nie solche Augen.«

»Und gescheidt ist sie wie ein Fuchs,« echoet die Mutter. »Wischa, Ew. Hochwürden, ich will mich zwar nicht rühmen, aber ich hatte doch auch Priester in meiner Familie. Wir sind weit genug herabgekommen in der Welt; aber einst hielten wir unsern Kopf hoch. Haben Sie je von einem Vater Clifford gehört, Hochwürden, der drüben in Canryh lebte? Er war es, der die große Kirche baute, die ihresgleichen im Lande nicht mehr hat. Jawohl, er war meiner Mutter Pate. Und ich hatte noch mehr Geistliche in der Familie. Aber lassen wir vergangene Zeiten ruhen! Wenn man heruntergekommen ist, ist man drunten!«

Während dieser bescheidenen Versicherung hoher Achtbarkeit (denn »einen Priester in der Familie zu haben« ist, Gott sei Dank, das Ehrenpatent in Irland), starrten sich Lukas und das Kind bewundernd an. Er hatte irgendwo gelesen, wie einmal eine Gesellschaft rauher Goldgräber aus dem Westen, die jahrelang von aller Zivilisation abgeschnitten waren, beim Herabkommen von den goldbergenden Sierras mit ihren Ledertaschen voller Goldklumpen und ihren Kleidern voller Goldstaub, eine Amme mit einem Kinde getroffen hatten. Und sie starrten und starrten immer wieder auf das Bild. Und ein riesenhafter Kerl, der seit seiner Taufe nicht mehr gewaschen wurde, und der ein wandelndes Arsenal von Revolvern und Bowiemessern war, trat vor seine Genossen und bot dem Mädchen zwei Hände voll Goldstaub, wenn sie ihm erlauben würde, das Kind zu küssen. Die junge Dame selbst wurde nicht befragt. Aber als der hünenhafte Goldgräber sich niederbeugte und die reinen Lippen des Kindes berührte, da trat ihm kalter Schweiß auf Gesicht und Stirne und er zitterte unter dem Fieber einer süßen Erregung.

Lukas dachte an die Geschichte und fühlte sich auch versucht. Er sagte der Mutter Adieu und beugte sich dann nieder und berührte mit seinen Lippen den nassen, süßen Mund des Kindes. Er ging weg und ließ großes Erstaunen im Herzen des Kindes, und unendliche Dankbarkeit in dem der Mutter zurück. Er mußte sich aber nachher ein paar Minuten an einen Baum lehnen, während der Strom seltsamer, ungewohnter Gefühle durch seine Adern brauste.

»Er ist ein guter Mensch,« erklärte ein rauher und kurzangebundener Bauer, der einst etwas studiert hatte und als kritisch, ja als antiklerikal in seinen Neigungen galt. Er hatte den ganzen Vorgang hinter einer Hagedornhecke beobachtet.

»Jedenfalls hat er ein weiches Plätzchen in seinem Herzen,« sagte die glückliche Mutter.

Aber es war ein verhängnisvoller Kuß! Lukas hatte in der darauffolgenden Nacht sein Gewissen nur zu peinlich erforscht und war zum Schlusse gekommen, diese kleinen Annehmlichkeiten seien sehr entnervend und nichts für ihn. Und es herrschte große Enttäuschung, ja sogar Haß, in der Pfarrei, als die Leute herausfanden, daß die höheren Reize anderer Kinder übersehen wurden, und daß nur eines hoch begünstigt war.

All das war ein hübscher Versuch für einen, der ebenso nach den Regeln der Kunst wie nach den Eingebungen der Natur vorging. Aber er war ein Fremder, und daher ungeschickt in seinen Annäherungsversuchen an ein für Eindrücke empfängliches, sensitives Volk.

Seine ersten wirklichen Unannehmlichkeiten begannen aber erst, als er einen »Burschen« einstellen sollte. Wir haben gesagt, seine »ernstlichen,« denn in diesem sonderbaren, altmodischen Lande sind es die »kleineren Menschlichkeiten«, und nicht die großen sozialen und politischen Katastrophen, die die Faktoren des täglichen Lebens bilden. Man hatte ihm gesagt, ein »Bursche« sei ein notwendiges und unumgängliches Uebel. Man sollte meinen, daß Lukas, der doch in einem Bauernhause aufgewachsen war, auch mit einem Dienstboten hätte umgehen können. Aber nein! Er war durch seinen Aufenthalt in England so entnervt worden, daß er fast hilflos war. Sodann hatte er mehr Geschmack für seine Bibliothek, als für seinen Stall, und mehr Liebe zum Königsgarten seiner Bücher, als zur Kartoffelkultur. Hilflos schaute er sich daher nach einem geeigneten Mann um, der nach seinem Pferde sehen und seinen Garten pflegen sollte. Er hatte nicht weit zu suchen. Versehen mit den besten Zeugnissen vom Archidiakon der Diözese bot ein junger, hübsch gekleideter Mann, der ein entschieden militärisches Auftreten hatte, seine Dienste an.

»Ob er mit Pferden umzugehen verstände?«

»Mit Pferden? Selbstverständlich!« Und er redete Lukas so viel über verschiedene Rassen vor, daß ihm Hören und Sehen verging.

»Verstehen Sie auch etwas von Blumen?« fragte Lukas schüchtern. Der Bursche merkte das gleich, denn er fixierte Lukas scharf.

»Blumen? Fragen Sie nur Lord Cardoynes Gärtner, der letzten Sommer den ersten Preis bei der Gartenbauausstellung in Dublin erhielt, ob ich etwas verstehe! Ja, fragen Sie ihn nur, dann werden Sie schon hören!«

Dann gab es eine lange Auseinandersetzung wegen des Lohnes. Ein königlicher Sold ward gefordert; ferner wurde als conditio sine qua non verlangt, daß der Bursche im Hause verköstigt werde. Lukas weigerte sich, aber ohne Erfolg. Er beschnitt auch den Lohn auf den niedrigsten gewöhnlichen Satz; aber dann spielte John Glavin seinen Trumpf aus. Er zog ein schmutziges, fleckiges, nach Tabak riechendes Blatt Papier hervor und reichte es Lukas mit einer Miene hin, als ob damit die Sache zu seinen Gunsten erledigt sei. Daraus ging hervor, daß John Glavin ein ehrlicher und fleißiger junger Mann sei, der gut mit Pferden umzugehen verstehe und auch einige Begriffe von Garten- und Blumenzucht habe. Er wurde empfohlen und sein Lohn war ihm voll ausbezahlt worden.

»Der Archidiakon sagt aber nichts von Mäßigkeit?« sagte Lukas.

»Was?« erwiderte John beleidigt. »Wer behauptet, ich sei nicht mäßig? Der Archidiakon wußte etwas besseres zu tun, als mich zu beleidigen!«

»Es wäre mir aber doch lieber, wenn es dastünde,« meinte Lukas.

»Ich wollte es nicht haben,« erklärte John. »Er sagte zu mir: ›John,‹ sagte er, ›man schreibt gewöhnlich in ein Zeugnis, daß jemand nüchtern ist; aber John,‹ sagte er, ›ich habe zu viel Achtung vor Ihren Gefühlen und ich will Sie nicht beleidigen. Aber wenn je einer behauptet,‹ sagte er, ›daß Sie kein nüchterner Mensch seien, so merken Sie sich, daß Sie ihn wegen Verläumdung oder sogar,‹ sagte der Archidiakon, ›wegen Beleidigung verklagen können‹.«

»Schon recht,« schnitt Lukas seinen Erguß ab.

»Nun, welchen Lohn wollen Sie denn haben?«

»Ich wage es gar nicht, Ew. Hochwürden zu sagen, –« erwiderte John zaudernd.

»Verlangen Sie nur! Ich erschrecke nicht gleich.«

»Nun, wenn Ew. Hochwürden mich zwingen, muß ich wohl herausrücken. Ich verlange dreißig Pfund im Jahr und keinen Pfennig weniger!«

»Ich gebe Ihnen zwölf,« erklärte Lukas entschieden.

John lief davon; seine Gefühle waren verletzt. Er kam jedoch sofort wieder.

»Ew. Hochwürden wollen doch mich armen Burschen nicht beleidigen! Sagen wir zwanzig Pfund und ich bleibe.«

»Das geht an,« meinte Lukas. »Bleiben Sie da!«

Zu Lukas' größter Ueberraschung machte John gleich Späße mit der Hausmagd und nahm um ein Uhr ein vorzügliches Mittagessen in der Küche ein. Dann richtete er sich häuslich ein. Aber oftmals ließ er des Abends im Dorfwirtshaus seinen Jeremiaden über seine Degradierung freien Lauf. Vorher war er bei einem Archidiakonus gewesen, und jetzt war er zum Burschen eines Kaplans herabgesunken!

Es mag nicht schwer sein, die genaue Ursache von John Glavins Entthronung festzustellen. Vielleicht hatte er Erbsen auf die Küchenstiege gestreut; vielleicht hatte er bei einer wichtigen Gelegenheit sein Ohr zu dicht an das Schlüsselloch gehalten; vielleicht sah man es wichtigen Briefen an, daß auch andere Augen als die des Besitzers sie gelesen hatten. Kurzum, man hatte ihn entlassen; und der Archidiakon mußte sich ein strenges Kreuzverhör über die Sache gefallen lassen. Und zwar deshalb, weil ein Erzbischof, der von weither kam und dem Archidiakon einen Besuch abstattete, in den Burschen rein vernarrt war und den Wunsch aussprach, ihn um hübschen Lohn in seinen eigenen Dienst zu nehmen. Er hatte an John einen Narren gefressen, weil John, dessen Sprache lallend war und dessen Augen einen stieren Blick hatten und entschieden wässerig waren, beim Diner den Erzbischof immer mit »Meine Gnaden!« angeredet hatte. O gewiß! John hatte in seinen jüngeren Jahren die Schule besucht, und war heute mehrere Stunden lang von der Haushälterin sorgfältig unterwiesen worden, wie man Possessivpronomina bei der Anrede hoher Würdenträger verwenden müsse. »› Mein Lord‹, sagt man, aber › Euer Gnaden‹,« erklärte ihm die Haushälterin. »Verstehen Sie das, Sie Narr?«

John bejahte und murmelte den ganzen Tag die magischen Worte vor sich hin. Aber ach! was soll ein armer Kerl tun, wenn seine Nerven unter den Augen der Großen zusammenzucken und besonders, wenn die Rädchen im Kopfe bei ihm gern still stehen?

»John, bitte, reichen Sie mir die Kartoffeln her!«

»Jawohl, meine Gnaden!«

»John, bitte, das Salz!«

»Gleich, meine Gnaden!«

»John, geben Sie mir die Flasche Wein herüber!«

»Den Sherry, meine Gnaden?«

»Nein, den französischen Rotwein.«

Johns wässeriger Blick überflog die Tafel, wo sich alles vor seinen Augen vergrößerte und ineinander verschwamm. Die Weinflasche mit dem Rotwein aber sah er nicht.

»John!«

»Jawohl, meine Gnaden!«

»Wo bleibt denn der Rotwein?«

»Er kommt gleich, meine Gnaden!«

»Aber John!« donnerte der Archidiakon.

»Jawohl, meine Gnaden!«

»Geh' hinunter und laß dich nicht mehr sehen!«

»Wahrscheinlich bleibt er auf halbem Wege stehen,« bemerkte der Erzbischof. »Ich bin überzeugt, er sitzt jetzt auf der obersten Stufe der Stiege und weint. Archidiakon, der Bursche ist ein wahrer Schatz. Wollen Sie ihn mir ablassen?«

Der Archidiakon ärgerte sich, als der Augenschein dem Urteile des Erzbischofs recht gab. Uebrigens war der Archidiakon nichts mehr. John verehrte nur noch den Stern erster Größe, besonders seitdem er in Konstellation getreten war. Als er den Bischof bemerkte, nannte er ihn zum Ausgleiche »Euer Lord«. Der Erzbischof behauptete zwar, es habe wie »O Lord« geklungen, doch das war ein Irrtum. Der Erzbischof sah aber trotzdem ein wertvolles Erwerbnis in ihm, das er begehrte. Aber ach! John wurde ein Opfer menschlicher Anhänglichkeit! Sein Herr gab ihn nicht her, – um ihn dann doch zu entlassen. Und das kam so. Der Archidiakon war ein paar Tage vom Hause abwesend gewesen. Sein Wagen holte ihn an der Eisenbahnstation ab; aber zu seiner Ueberraschung blieb John, statt wie sonst hurtig herabzuspringen, mit statuenhafter Hartnäckigkeit auf seinem Sitze kleben. Ein Gepäckträger bot an Johns Stelle seine Dienste an und öffnete die Wagentüre. Als sie zu Hause angelangt waren, war John immer noch so statuenhaft. Der Archidiakon machte sich seine Gedanken darüber, sagte aber noch nichts. Ein paar Stunden darauf, gerade als der Archidiakon beim Diner saß, hörte er das Rollen von Wagenrädern im Hofe und den schweren Hufschlag eines Pferdes. »Was ist denn da los?« fragte er. Er trat unter die Haustüre und sah, wie John eben Wagen und Pferd aus dem Hofe führte. Einen Augenblick sah er dem schweigend zu. Auch John schien schweigsam und in tiefe Gedanken versunken. Dann sagte der Archidiakon:

»Wo fährst du denn hin?«

»Wo ich denn hinfahre, wollen Sie wissen, meine Gnaden?«

»Jawohl! Das habe ich dich gefragt. Wo – fährst – du – hin?«

»Wo werde ich denn hinfahren, als zum Zuge – hinunter?«

»Zu welchem Zwecke?«

»Wozu denn anders, als um Euer Gnaden abzuholen!«

»Das sehe ich. Du willst also wirklich zur Station, um mich abzuholen?«

»Jawohl, meine Gnaden! Oder glauben Sie, ich ließe Sie die ganze Nacht drunten stehen, meine Gnaden?« John blickte dabei weit über des Archidiakons Haupt weg in die Ferne.

»Führe das Pferd sofort in den Stall!« befahl der Archidiakon.

»Dann soll ich also Euer Gnaden nicht abholen?«

»Führe das Pferd sofort in den Stall, befehle ich dir nochmals!«

»Aber Sie werden sich da drunten in der Station erkälten, meine Gnaden!«

»Bring' das Pferd in den Stall, sag' ich!«

»Wenn Sie aber sterben, was wird dann aus mir werden? Hu – huuu!« heulte John laut auf.

Am nächsten Tage erhielt John seine Entlassung und der Archidiakon blieb sich selbst überlassen. Er hatte aber bei einem späteren Besuche seines Gastes, des Erzbischofs, ein schreckliches Kreuzverhör auszuhalten, wobei der letztere nur sehr schwer vom Bemühen, »den Schatz« sich zu sichern, abgebracht werden konnte.

»Ich würde den Burschen auf jeden Fall genommen haben,« erklärte der Erzbischof, als er die Episode in späteren Jahren einem Freunde erzählte, »aber der Arzt sagte mir, ich solle zwischen Schlaganfall und Erstickung wählen, wenn ich ihn je bei Tisch servieren lassen wolle.«

So machte denn Lukas die kostbare Erwerbung und sicherte sich den Schatz.


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