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IX.
Das Reich der Unterwelt

Und nun begann ein seltsam Leben für unsern jungen Leviten – ein Leben, dessen Verhältnisse und Umstände alle Sehnsucht nach fernen, heroischen Taten ausgelöscht hatten, die, wie das Martyrium, nur eine kurze Qual bedeuteten, und dann – ewige Lorbeeren. Er fühlte nach und nach, daß es sogar noch etwas Höheres und Edleres als all das gab – das tägliche und stündliche Martyrium des Kampfes mit Satan und Sünde – den Kampf mit dem Bösen in all' seinen tausenderlei Formen und Gestalten – das Böse, wie man es von den Hausdächern in wilder, satanischer Weise predigte – oder wie es milder und abgetönter die Presse und Literatur predigte, oder die Schaubühnen der Theater und die Millionen Broschüren und Flugblätter, die, wie die Feuerflocken im »Inferno«, auf die wunden, eiternden Menschenseelen herabflogen. Zuweilen durchwanderte er, um Studien zu machen, reichbelebte Straßen oder beschaute sich vom Dache eines Omnibus die fürchterlichen Menschenmassen. Manchmal konnte er dann betäubt einen Augenblick an einem Drogistenladen in der Londoner Straße stehen bleiben und auf den wirbelnden, wogenden, unruhigen Menschenstrom starren, der durch den engen Kanal strömte. Niemals gab es einen Blick oder ein Wort des Erkennens unter diesen Atomen, die beständig ins Leere vor sich hinstarrten, jeder nur darauf bedacht, durch irgend ein natürliches Prinzip der Zuchtwahl zu oberst zu kommen. Lukas bekam allmählich schlechte Träume. Ihm träumte manchmal, die Stadt sei nur ein einziger, ungeheurer Kadaver, der voller häßlicher Maden war, die in seiner gräßlichen Fäulnis sich wanden und drehten. Manchmal sah er die Britannia im Traume, mit Helm und Dreizack bewehrt, wie sie auf Münzen dargestellt ist; aber es hing ein riesiger Kropf an ihrem Nacken, und der bedeutete London. Aber am häufigsten sah er die Stadt als einen zehnten Kreis in der città dolente. Bleiche Geistergestalten wanderten durch dunkle und enge Straßen, oder sammelten sich in stinkenden Gäßchen. Sie schienen alle in eine stumme, aber schreckliche und übermäßige Suche nach etwas vertieft. Was es war, konnte Lukas nicht sehen. Einige fanden das ersehnte Ding und versuchten, gleichgültig ihres Weges zu gehen, um keine Räuber anzulocken; aber dunkle Wachposten waren an allen Straßen postiert, die aus ihrem Versteck herausglitten und auch den achtsamsten Wanderern ihren Schatz entrissen. Und über all dem lag der Rauch der Hölle und das braune Zwielicht des Reiches der Unterwelt.

Nach diesem gräßlichen Traume, den er mehrere Tage lang nicht von sich abschütteln konnte, sah er London nie mehr anders, als ein phantastisches Bild voll düsterer, unheimlicher Farben. Ob das Abendrot scheidender Septembertage die dunklen Straßen erhellte oder das zarte Grau des Oktober einen Duft um die sterbenden Farben der Parks und Terrassen wob – er sah nur das London seines Traumes – terram desertam, et tenebrosam, et opertam mortis caligine. Er wurde allmählich um seine Gesundheit besorgt und konsultierte einen Arzt. Nach einem langen Feststellen der Symptome usw. unter den scharfen Augen des Aeskulapjüngers erfolgte die Antwort: »Späte Abendmahlzeiten. Der irische Magen hat sich noch nicht an englisches Roastbeef und Salm gewöhnt. Bald wird alles in der Reihe sein. Arbeiten!«

Lukas nahm die Vorschrift entgegen und befolgte sie treulich. Er arbeitete in den Schulen und in den Slums, im Beichtstuhl und auf der Kanzel, im Spital und im Rettungshaus, bis sein feines Gesicht und seine Gestalt nach und nach bekannt wurden und einen Lichtstrahl in die dunklen und schmutzigen Orte warfen, die er besuchen mußte. Und jemand – es war eine heiligmäßige irische Nonne – rief aus: »Gott schickte Sie!« O! diese wunderbaren Nonnen! Diese glorreichen Marketenderinnen auf dem Vorwärtsmarsche der Armee Christi! Keine Ordenssterne bedecken sie und keine Verdienstkreuze; keine Dichter besingen sie und keine Trompeten blasen zu ihrem rauhen und mühevollen Marsche und Kampfe; aber eines Tages wird die Namenliste eingefordert werden und des höchsten Rechte wird auf ihre Brust das Kreuz seiner Ehrenlegion heften. Und oft und oft, wenn Lukas der Mut sank und er fühlte, daß er machtlos gegen die schreckliche Verderbnis war, die rings ihn umbrandete, dann war es der Anblick dieser Schwestern, die ruhig die schrecklichsten Slums durchwanderten und Beleidigungen so ruhig hinnahmen wie ihre weltlichen Schwestern Huldigungen; und der Anblick ihrer weißen Lippen, die in der schlechten Luft ihrer Schulen bleichten, und die riechenden Schmutzereien, die von den Kleidern der armen, verlorenen Geschöpfe ausgingen, die sie von stygischen Schrecken erlösten –, beschämte ihn tief und spornte ihn mit dem Zaubermittel eines edlen Beispieles zu weit größerem und höherem Wirken an. Und über all dem Schmutz und Rauch und Schrecken spielten noch muntere Funken keltischen Witzes und Humors, wie tapfere Männer noch spaßen, wenn Granaten splittern und Kugeln um sie pfeifen. »Kommen Sie mit und sehen Sie sich mal unsern Erholungsgarten an!« rief ihm eine zu, die eine Erholung bitterlich nötig zu haben schien, so bleich und hohlwangig sah sie aus. Sie führte ihn fünf Stiegen hinauf und bat ihn dann, auf das flache Bleidach hinauszutreten und sich umzuschauen. Er folgte der Aufforderung und trat hinaus. Er sah nur einen viereckigen Flecken Blau über sich. Um ihn waren nichts als Backsteinmauern. Es war der Erholungsplatz eines Gefängnisses. Er ging um die Brüstung herum und berührte mit seiner Hand den schmutzigen Sims, wo der Londoner Rauch sich abgelagert hatte. Und solche kleine pathetische Geschichten wie die von dem Kinde, das schrie: »Ertränken Sie mich nicht, bitte, bitte!«, als man das Wasser der Taufe über sein Haupt goß; oder die hübsche alte Anekdote von dem bekehrten Matrosen, der es nie über »Vater, Sohn und heiliges – Wasser« hinausbrachte; oder die Entschuldigung des alten irischen Apfelweibes, daß sie die Gestalt des Gekreuzigten nicht wieder erkennen könne, »weil ich, gute Frau, meine Brille nicht bei mir habe, und meine Augen sind schwach«. Du lieber Gott! Das sind so die kleinen tragischen Vergnügen großer Märtyrer im dichtgedrängten Amphitheater Londoner Lebens. Manchmal, wenn Lukas sich wie ein leichter, dünnbeschwingter Schmetterling vorkam, der vergebens seine Flügel gegen die Granitmauern von Unwissenheit oder Laster schlägt, und Hoffnungslosigkeit sein Herz zu Boden drückte, konnte dann auch der leise Dank und das »Gott segne Sie!« eines armen Weibes oder das Lächeln eines Londoner Blumenmädchens mit seinem koketten kleinen Knix und seinem »Bitte, Vater« – ihn wieder anfeuern. Oder wenn er eine volkreiche Straße entlang schritt mit all den geputzten jungen Herrn und den zungenfertigen Mädchen, und er von Irland träumte und was es hätte sein können, dann konnte plötzlich eine Kompagnie Soldaten mit grüner Flagge und goldener Harfe, und ein Anmarsch grüngoldner Uniformen mit Musik und Farbenpracht auf ihn einstürmen; und jeder bot dann, wie sie so über das Londoner Pflaster in militärischer Ordnung marschierten, seinem geliebten jungen Offizier den militärischen Gruß. Und Lukas konnte dann zu sich selber sagen: »Trotz aller ihrer Fehler ist das doch eine Rasse, für die man arbeiten und sterben kann.« Und über all' dem schwebte der ferne Traum der weißen strohbedeckten Hütte über den Klippen, und das Murmeln der See, und die Reinheit und Einfachheit, die mit goldenen Wolken die Azurdecke überwölbte, die über sein irisches Heim in Lisnalee sich ausspannte. –

Lukas' erste Predigt fiel ganz zu seiner Zufriedenheit aus. Er hatte stets sagen hören, daß für England Kontroverspredigten, die mehr überzeugten als begeisterten, in erster Linie angebracht seien. Dann las er eines Tages in einem kirchlichen Blatte, ein anglikanischer Geistlicher habe den Kalvinismus für den Bann und Fluch der Kirche Englands erklärt. Hier war also der Feind zu suchen, der durch eine Reihe packender Predigten über die Gnade ausgetrieben werden mußte. Und da war Lukas Meister. Dieser Gegenstand hatte einen großen Teil seines vierjährigen Studiums am Kolleg in Maynooth ausgefüllt, und Lukas war mit ihm vollständig vertraut. Er nahm seine alten Aufzeichnungen wieder vor, setzte seine fünfzehn Seiten lange Predigt auf, lernte sie gut auswendig und hielt sie dann fehlerlos, mit jenem köstlichen Duft irischen Akzents, der die Mehrzahl seiner Zuhörer fesselte und gerade wegen seiner Originalität den kleineren und gewählteren Teil entzückte. Lukas war Molinist, was er seine Zuhörerschaft auch gleich wissen ließ. Zuerst widerlegte er Kalvin und Knox, und als er diese abgetan hatte, legte er seiner staunenden Gemeinde auseinander, daß die Stellungen der Thomisten und Skotisten im Sturme genommen worden seien und nun die Fahne der Molinisten siegreich über den eroberten Plätzen wehe. Er sagte ihnen noch manche andere Dinge, wodurch ihr Staunen sich mehrte. Und als er die Kanzel verließ, hatte er die Empfindung, als ob erst jetzt in Wirklichkeit Englands Bekehrung begonnen habe. Nicht, daß er sehr eitel gewesen wäre, aber so leicht ließen sich die Ideen nicht abschütteln, die jahrelange Erfolge und Schmeicheleien seinem empfänglichen Charakter eingeprägt hatten.

Und Lukas fühlte sich wieder ganz in die alte Stimmung versetzt, die ihn in Maynooth beherrschte, wenn er Syllogismen spann, wie eine Spinne ihr Netz, um darin unachtsame Fliegen zu fangen.

Die Ansichten der Zuhörer selbst waren geteilt. Diejenigen, welche in einer Predigt nur eine gymnastische Uebung sahen, nannten Lukas' Leistung zwar einzig und originell, aber auch pedantisch. Eine oder zwei junge Damen sprachen sich dahin aus, daß er hübsche Augen habe, und wenn er erst das Anstößige seiner irischen Erziehung überwände, dann würde er entschieden reizend sein.

Ein altes Apfelweib bemerkte zu einer Nachbarin: »Nun, was ist das jetzt gewesen, Mary?«

»Was weiß ich? Das war wohl ganz lateinisch. Ich habe nur ein paarmal was von der Gnade Gottes gehört.«

»Ja, du hast schon recht, die Gnade Gottes und ein ordentlicher Laib Brot, mehr brauchen wir nicht.«

Ein gewöhnlicher Arbeiter in seinem Fabrikanzug fragte: »Was ist denn das für ein junger Mann?«

»Ein neuer Handlanger an ihrem Bau hier,« gab sein Genosse zurück.

Die Meinungen der Geistlichkeit machten sich nicht laut bemerkbar. Lukas hörte nur einen jungen Konfrater von einer Windmühle sprechen, und merkte wohl, daß man damit seine Gesten verspottete. Ein anderer sprach von einem »Pumpenschwengel«. Ein junger irischer Priester klopfte noch in später Abendstunde bei Lukas an, und auf sein lautes »Herein!« schlang er seine Arme um Lukas, klopfte ihm auf die Schulter, lief aufgeregt hin und her und rief: »Lukas, alter Junge, du hast sie alle in Grund und Boden geredet.«

Der Generalvikar sagte einige Tage lang gar nichts; dann: »Delmege, haben Sie noch mehr solcher Predigten in Vorrat?«

»Jawohl, Sir; ich habe die ganze Serie schon skizziert.«

»Verbrennen Sie sie! Nehmen Sie die Dublin Review Band für Band in Ihr Zimmer und studieren Sie sie durch. Sie sind ganz auf falscher Fährte!« –

Lukas hatte seinen ersten Versehgang. Es war ein dringender Fall. Ein Matrose lag im Seespital bei Stockport am Sterben. Mit dem ganzen Eifer eines jungen Missionars eilte Lukas durch die Straßen, passierte den hohen Bogengang des Spitals, fragte hastig einen Vorübergehenden nach dem Wege, wurde nach einem Eingangstor gewiesen, klopfte an und wurde von einem schmucken Dienstmädchen in ein freundliches Empfangszimmer geführt.

»Das sieht aber gar nicht aus wie ein Krankensaal,« dachte Lukas. »Vielleicht ist es das Sprechzimmer der Wärterinnen oder der Vorsteherin.«

Man ließ ihn lange hier warten, und er besah sich in der Zwischenzeit die hübschen Gemälde und Bücher, die den guten Geschmack des Bewohners verrieten. Nach einiger Zeit öffnete sich die Türe und ein Geistlicher im Hausrock trat ein, begrüßte ihn würdevoll, bat ihn, Platz zu nehmen, und begann in ruhigem Tone eine ernste Unterhaltung. Lukas' Verwirrung wuchs ständig; dazu gesellte sich eine steigende Angst um den armen Kranken, der vielleicht eben mit dem Tode rang. Er erkannte seinen Irrtum nicht eher, als bis er sich erhoben und der Geistliche ihn zur Türe geleitet und ihm für seinen freundlichen Besuch gedankt hatte.

Er hatte noch Geistesgegenwart genug, den Weg zum Spital zu erfragen, der ihm freundlichst gezeigt wurde, und dort fand er auch den Kranken bewußtlos in den letzten Zügen.

Der Sterbende lag in einem kleinen Raum auf der rechten Seite des langen, großen Hofes. Außer ihm war kein anderer Kranker da. An seinem Bette saß in einem braunen Anzug mit Metallknöpfen ein Wärter, der ruhig seine Zeitung las. Deutlich lag die Hand des Todes auf dem Antlitz des armen Schwindsüchtigen. Die Augen waren starr, und die Brust zuckte auf und nieder bei den krampfhaften Atemzügen.

»Ist das der katholische Kranke?« fragte Lukas ängstlich.

»Ja, er ist ein Katholik, soviel ich weiß.«

»Er liegt im Sterben,« sagte Lukas, der nie jemand hatte sterben sehen.

»In genau zwanzig Minuten ist er tot,« bemerkte der Mann, zog seine Uhr heraus, besah sie und steckte sie dann gleichmütig wieder in die Tasche. Dann las er ruhig in seiner Zeitung weiter.

Diese entsetzliche Gleichgültigkeit zerriß Lukas das Herz. Er kniete nieder, legte die Stola um seinen Nacken und versuchte, ein Zeichen von Reue dem Sterbenden zu entlocken, doch vergebens! Nun erteilte er ihm die bedingungsweise Absolution, gab ihm die letzte Oelung und las die Sterbegebete. Der Wärter war immer noch in seine Zeitung vertieft. Dann setzte sich Lukas am Bettrand nieder und verfolgte die wechselnden Schatten auf dem Gesichte des Sterbenden, während er betete. Genau nach den angegebenen zwanzig Minuten stand der Mann auf, legte seine Zeitung zusammen, reckte sich und sah hinüber. Ein letztes Zucken ging über das graue, aschfahle Gesicht des Sterbenden, der Atem stockte, kam röchelnd zurück, stockte wieder, kam langsam und mit schmerzlicher Anstrengung noch einmal, stockte wieder, dann ein langes, tiefes Atmen, und die Augen verdrehten sich in ihren Höhlen. Die Seele war entflohen. Ein schleimiger Schaum trat auf die blauen Lippen und füllte den ganzen Mund.

»Hab' ich's Ihnen nicht gesagt? Genau zwanzig Minuten, auf die Sekunde!« sagte der Wärter, als er den Schaum von den Lippen des Toten wegwischte; dann breitete er die Decke leicht über das Gesicht des Dahingeschiedenen.

Es war diese kalte Gleichgültigkeit, die Lukas' Gefühle aufs tiefste beleidigte. Lange Zeit konnte er kein Wort finden, um sie so zu bezeichnen, wie sie ihm erschien. Dann stieß er plötzlich auf das, was er später als das stärkste Kennzeichen des englischen Volkes betrachtete – auf seinen überraschenden »Individualismus«. Denn während der Einzelne in diesem unruhigen Millionenhaufen nichts bedeutete, war das Individuum sich selber alles. Die Gesellschaft mochte es übergehen, verachten oder schätzen; es verstand dies alles und ging seinen eigenen Weg, achtlos und gleichgültig – ein einsam Geschöpf in der schrecklichen Wüste strotzenden menschlichen Lebens. Ueberall war dies das Gleiche. Während rings umher der glänzende Materialismus Englands sich behauptete und breit machte, während die Verkaufsläden mit jeder Art von Luxus- und Gebrauchsgegenständen überfüllt waren, während die Gastwirte und Schweinemetzger mit den Obsthändlern wetteiferten, menschliche Nahrungsmittel in jeder Form zu bieten, während öffentliche Bäder an allen Ecken und Enden zu finden waren und alles, was zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen konnte, im Ueberfluß vorhanden war, während ein vollkommenes Polizei- und Detektiv-System Leben und Sicherheit aller beschützte, wandelte jedes einsame Individuum seinen Weg allein. Man konnte zwanzig Jahre in einer Straße leben und doch seinen Nachbarn nicht einmal beim Namen kennen; und man schien für Staatszwecke gewappelt und gestempelt ohne die geringste Rücksicht auf das eigene Wohlbefinden, soweit es nicht die Eigenschaft eines Jeden als Staatsbürger betraf. Es war eine riesige, vollkommene, glänzende Maschine – kalt, reinlich, glatt, imponierend und regelmäßig; aber sie besaß ebensowenig eine Seele wie eine Dampfmaschine. Oft wenn das gräßliche Rasseln und Lärmen des ungeheuren Räderwerks die überarbeiteten Nerven von Lukas Delmege quälte, und er das Gefühl hatte, als ob er verdammt wäre, auf Lebenszeit in einen riesigen höllischen Tartarus von Kurbeln und Rädern, und das ewige Gedröhn des Dampfes und der Maschinerie eingekerkert zu werden, dann flüchtete er sich in eine ruhige Straße, wo, verborgen und ungesehen, wie Gott in dem mächtigen Mechanismus des Weltalls, irgend eine kleine Kirche versteckt lag; und er saß dann auf die rauhen Holzbänke und konnte eine oder zwei Stunden lang Wache halten bei der roten Lampe, die vor dem Tabernakel sich langsam hin und her bewegte, und in ein Selbstgespräch ausbrechen, um sein überbürdetes Herz zu erleichtern:

»O Herr und Gott! Wie einsam und still ist's bei dir! Wie bist du verborgen und vernachlässigt! Von all den Millionen, die in dieser schrecklichen Stadt sich herumtummeln, wie viele, wie wenige sind sich deiner erhabenen Gegenwart bewußt! Da gehn sie vorbei und immer wieder vorbei, deine Geschöpfe, die deine Hand erschaffen, und doch kehren sie nicht bei dir ein! Sie denken an ihr Geschäft, an Vergnügen oder Sünde; aber du bleibst einsam, und sie wissen nicht, daß du so nah bist. Deinen Namen schreit man zwar auf der Straße; aber du selber, die schreckliche Wirklichkeit, bist ihnen bloß eine Abstraktion und eine Chimäre! Sie denken an dich als weit entfernt auf dem Sinai oder dem Kalvarienberge; sie wissen nicht, daß du hier innen weilest, nicht weiter entfernt, als ihre Hand reichen und ihre Stimme dringen kann. Müde Staatsmänner, von Sorge überladen und bedrückt, befinden sich unter dieser Masse. Sie brauchen Weisheit, aber wissen nicht, wo sie suchen – Weltweisheit, denn sie beherrschen die Welt und haben deine Vorrechte und Verantwortlichkeit sich angemaßt ohne das Wissen zu besitzen, das erleuchten, oder das Urteil, das entscheiden kann! Und hier nahebei steht der mächtige Tempel, in dem dein Lob einst erklang und deine Gegenwart weilte; aber › Ichabod‹ ist jetzt über seine Pforten geschrieben. Nicht deine Gegenwart, sondern die Asche vieler, die dir Unehre erwiesen haben, weilt da. Und hier ringsum gehen Seelen vor Hunger zu Grunde und nähren sich von Spreu; und sie haben vergessen, zu ihrem Vater um Brot zu rufen. Wahrlich, du bist ein verborgener Gott, und die Welt kennt dich nicht.«

Diese Verlassenheit unseres Herrn in seinen Tabernakeln in London führte Lukas notwendig zu dem naheliegenden Gedanken der Verlassenheit Gottes und seiner Verborgenheit in seinem ganzen Weltall. Zu dieser Ueberlegung führte ihn auch besonders die Gewohnheit, über die unaussprechlichen Eigenschaften Gottes nachzudenken, die er sich angeeignet hatte seit dem Tage, an dem sein verehrungswürdiger Professor einer bewundernden Klasse erzählte, daß er, in eine Träumerei versunken, die halbe vergangene Nacht durchwacht habe, nachdem er Lessius über den Dienst und die Vorrechte der Engel gelesen habe. Aber während er in den einsamen Feldern und an den stillen Seen und Meeren Irlands nur vom Gefühle der Majestät und Unermeßlichkeit des Schöpfers durchdrungen war, rührte ihn hier, im unruhigen, lärmenden, ausschweifenden London, die Verlassenheit Gottes bis zu Tränen.

»Heute Nacht,« sagte er sich, »werden in ganz England nur zwei oder drei kleine Gemeinden mit Gott wachen. Heute Nacht, während ganz England mit seinen dreißig Millionen Menschen im Schlafe liegt, werden eine oder zwei winzige Gemeinden, drüben in Devonshire, hier in Parkminster und droben in Leicester, die feierliche Stille der Nacht mit Psalmen des Lobes und Sängen der Anbetung durchdringen. ›Preiset den Herrn, alle Nationen; preiset ihn, alle Völker!‹ Ach nein! Alle Völker und alle Nationen sind mit anderen Dingen beschäftigt, und der Herr des Weltalls, der sich herniederbeugt, die Stimmen der Finsternis zu vernehmen, muß sich enttäuscht wieder emporrichten zur stürmischen Anbetung seines Himmels.«

Und der Gedanke erschreckte ihn dann: Wäre es denkbar, daß Gott in den Weiten der Himmel ebenso vergessen ist wie auf Erden? Sind all die mächtigen Geister, die das Weltall bevölkern, über neuen Planeten schirmend schweben, unermeßliche Sonnen geleiten, in den roten und goldenen Strahlengürteln weit schönerer Welten als der unseren sich jauchzend ergehen und die mit höheren und vollkommeneren Fähigkeiten und Sinnen begabt sind – sind alle diese unsterblichen Geister ebenso gottvergessen wie wir? Und ist Gott ebenso verlassen und einsam in seinem Universum wie hier unter den fünf Millionen Menschen Londons? Es war ein schrecklicher Gedanke, aber es war unmöglich! Nur auf Erden kennt man den mächtigen Schöpfer nicht. Um so mehr Schande für die, welche ihn kennen – denen er selbst sich geoffenbart hat!

Und dann konnten Lukas' Gedanken zurückschweifen zum Irland der Heiligen.

»Es sollte ein einziges großes Kloster sein,« entfuhr es ihm; »ein großer ewiger Chor von Psalmen und Hymnen, wo das Lob Gottes niemals aufhören sollte – niemals Rast oder Unterbrechung kennen Tag und Nacht.«

Ach! er erkannte erst viele Jahre später, wie weit der glänzende Materialismus Englands den Spiritualismus Irlands schon erfaßt und abgeschwächt hatte; und wie Herzen pochten, Augen weit vorwärts und gierig blickten, und Ohren auf das Dröhnen der Maschinen und den Mechanismus des Gottes Mammon lieber hinhorchten als auf das Brausen mächtiger Orgeln und die Entzückungen jubelnder Chöre.

Er wußte ebensowenig, wie der Geist des Uebernatürlichen in seiner eigenen Brust schon seine Schwingen zur Flucht regte, und wie neue Ideen – der Zeitgeist – ihn ersetzten. Er fühlte nur unklar, daß der Wirbel und der Lärm eines mächtigen Mechanismus ihn fort, fort, fortriß; daß das Schwirren rollender Räder, das Schwingen der Riemen, der Donner der Maschinen, das Zischen des Dampfes überall anzutreffen war. Und daß all dieser ungeheure Kraftaufwand schöne englische Tapeten auswirkte – stattliche Paläste und alte Forste, schmucke Villen und Gärten wie orientalische Teppiche – und daß die riesige Maschinerie auch ihren Abfall und Schlamm ausstieß – die Hunderttausende, die im Schmutze mitternächtiger Städte verfaulten und zu Grunde gingen. Denn über ganz England hängt selbst im Hochsommer ein blauer Nebel, und über seinen Städten die aer bruno, in der das Auge des Dichters die Seelen der Verlorenen schweben sah.

Er trat aus der Stille Gottes heraus und der Lärm Londons lag in seinen Ohren.


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