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XI.
Circe

Ich bestehe darauf, daß unser Koch den Mann verklagt,« erklärte Dr. Wilson am Morgen nach dem großen Diner. »Der hat ja nichts angerührt, als ein Bisquit und einen Apfel. Glaubte er vielleicht, wir wollten ihn vergiften?«

Nein, das war nicht gerade der Fall! Aber der »große Mann«, abgesehen davon, daß er außerordentlich und regelmäßig enthaltsam war, wie es alle großen Geister sein sollten, hegte wirklich lieblosen Verdacht über die Küche aller fremden Barbaren. Er rührte mit seinem Löffel so sorgfältig in der Suppe herum, als ob er jeden Augenblick den Finger eines Kindes herauszufischen erwarte; er hatte nämlich gehört, daß ein Häuptling der Maori einem Bischof einmal diese Delikatesse angeboten habe. Und man konnte wirklich nicht wissen, ob … Und er ließ Gang um Gang an sich vorübergehen wie ein Spieler, der schlechte Karten in den Händen hat. Aber trotzdem gab er sich sehr liebenswürdig und gesprächig; und obwohl Qual, Befürchtung und Scham das geängstigte Herz der Wirtin bestürmten und sie fürchtete, ein großes Fiasko möchte der Lohn für ihre tage- und nächtelange Sorge sein, so wirkte doch der Hintergedanke: er ist ein Engländer und ein naher Vetter des Herzogs von B., wie eine beruhigende und besänftigende Salbe auf gekränkte und verletzte Gefühle. Und dann das geistreiche Wortgefecht zwischen dem »großen Prediger« und Mrs. Wenham!!! Was, Mrs. Wenham, die Circe, war hier? wirst du erstaunt fragen, lieber Leser. Ja, sie war da und noch dazu sehr bemerklich. Es hatte allerdings in der Nacht, in der Louis seines Vaters Haus verlassen mußte, eine erregte Debatte zwischen den beiden Gatten gegeben, ob man sie einladen solle oder nicht; aber der Name stand schon auf Mrs. Wilsons Liste, und wie konnte man überhaupt daran denken, eine der einflußreichsten Personen im Schloß zu beleidigen? Der Doktor biß sich zwar auf die Lippen, mußte aber zugeben, Mrs. Wenham sei eine reizende Dame, die man nicht übergehen dürfe. Sie kam in einer ganz einfachen Toilette zum Bankett. Während andere Gäste soviele Ringe an den Fingern trugen wie eine Vorhangstange, bemerkte man an ihrer Hand nur einen einzigen. Aber in einem Augenblick monopolisierte sie kühl das Gespräch, oder dualisierte es, besser gesagt, mit ihrem hervorragenden Landsmann. Die königliche, herrschende Rasse fühlte sich auch hier in ihrem Eigentum, wie in allen anderen Sparten. Die Barbaren blieben stumm.

Anfangs merkte man Circe zwar wohl etwas Ueberraschung beim Anblick so vieler Vertreter der ecclesia militans an; aber das war gleich vorüber. Schließlich – das heißt, nachdem sie auf Grund einer energischen Ueberlegung die instinktive und ehrerbietige Scheu vor dem Priestertum, die einer Mrs. Wenham wie der Welt gemein ist, überwunden und etwas unbegründeterweise gefolgert hatte, diese katholischen Priester wären auch nicht mehr als die ritualistischen Geistlichen, die sie schon so oft getroffen und so oft verachtet hatte, schloß sie, daß sie schließlich auch nur Menschen wären und als solche eine rechtmäßige und leichte Beute. Und um keine Zeit zu verlieren, gedachte sie gleich den Generalissimus zu erobern. Die Subalternen würden dann schon kapitulieren.

»Sie finden das Land interessant?«

»Gewiß,« erwiderte er, seine Worte abwägend. »Bis jetzt hat es mich in der Tat sehr angezogen.«

»Ist es Ihr erster Besuch hierzulande?«

»Mein erster,« gab er zurück, »dem ich mit lebhafter Spannung entgegengesehen habe.«

»Dann werden Sie wohl, wie ich hoffe, das Vergnügen zum Studium machen. Sie werden eine Menge Sachen finden, die Sie interessieren.«

»Ich habe bereits viele interessante Dinge entdeckt, und bis jetzt noch mehr interessante Persönlichkeiten,« erwiderte er und verneigte sich lächelnd.

»Wenn Sie das Glück gehabt und – noch besser – Geschmack daran gefunden hätten, während der letzten Tage die Pferdeausstellung zu besuchen, hätten Sie noch viel interessante Studien machen können. Es gab da eine Unmasse von Geistlichen – wirklich mehr, als ich je in einem Zirkus gesehen habe. Ich möchte fast sagen, es war eine eigenartige ethnologische Studie – dieser fast allgemeine Geschmack der Iren an Pferdefleisch.«

»Sie sprechen, als ob Sie nicht die Ehre hätten, eine Irländerin zu sein,« antwortete der Große.

»Ich bin eine Engländerin – oder vielmehr eine englische Schottin,« gab Circe zurück.

»Das ist wirklich eine Enttäuschung,« meinte der Große; aber sie schüttelten sich über den Tisch metaphorisch die Hände, wie Stanley und Livingstone, als sie aus dem Schatten der Palmen und der Bambusstauden traten und die Tropenhelme und Revolver erkannten. Das war die einzige Spur und das letzte sichtbare Zeichen der Zivilisation, das noch an ihnen haftete.

»Diese Leidenschaft für Pferde und Hunde ist stets ein Merkmal unseres Volkes gewesen,« warf ein Monsignore ein. »Wir müssen einmal ein Volk von Nomaden gewesen sein.«

»Ich habe etwas dergleichen in einem von Matthew Arnolds Gedichten gelesen,« bemerkte eine Dame. »Ich glaube, es hieß ›Sohrab und Rustum‹.«

»Ist Arnold nicht der Verfasser des ›Verirrten Schwelgers‹?« fragte jetzt Dr. Wilson direkt Mrs. Wenham.

Sie blickte den Fragenden einen Augenblick bestürzt an, errötete ein wenig, zog die Brauen hoch und gab dann zurück:

»Ich lese nie neuere Poesien.« Es war ein böser Schlag, aber sie hatte schon manchen Strauß erlebt.

»Was ich sagen wollte, Mrs. Wilson,« sagte sie schmeichelnd, »Ihr Sohn war ja in Dublin, soviel ich höre. Man sagte mir, einige Damen hätten sich erst vor ein paar Tagen nur zu offenkundig für ihn begeistert. Doch was kann der Junge dafür, daß er so hübsch ist?«

»Diese Jezabel!« knirschte der Doktor zwischen den Zähnen.

»Das ist also gleich eine ganze Reihe von Eroberungen,« plauderte die Weltdame weiter und wandte sich zu Barbara; »Sie, kleine Hexe, haben letzthin bei Denisons diesen jungen Narren, den Kendal, ganz hypnotisiert. Uebrigens sehen Sie zu, Herr Doktor, daß Sie auf die Liste der Jubiläumsauszeichnungen kommen. Es ist sehr zu beklagen, daß der ärztliche Stand da bis zur Stunde noch nie genügend repräsentiert und anerkannt wurde.«

»Wer kann die Weiberchen dressieren,« rief Vater Elton, in die Unterhaltung einfallend, nachdem er eben ein ruhiges Gespräch mit dem jüngeren der zwei Monsignori beendet hatte. Er verstand den tieferen Sinn des Wortgefechtes zwischen dem Doktor und Mrs. Wenham zwar nicht, aber er sah doch, daß es da irgend einen verschleierten Gegensatz gab. Das rief sein Interesse wach.

»Sind Sie gut in alten Legenden und Poesien belesen?« fragte er, zu Mrs. Wenham gewandt.

»Nicht so gut wie Ihr Gelehrten,« erwiderte sie, stolz den Kopf zurückwerfend; »aber ich kenne sie gut genug, um zu wissen, daß sie alles menschliche Denken erschöpften, und daß alle die bleichen, krankhaften Gewächse neuerer Zeiten nur Ideen sind, die auf ungeeigneten Boden und in ein anderes Klima verpflanzt wurden.«

»Da sehen Sie, Dr. Calthrop,« bemerkte Vater Elton, »was Ihre klugen Landsmänninnen von all den wunderbaren Entdeckungen der Wissenschaft halten – bleiche, krankhafte Verpflanzungen.«

»Ich hatte die Wissenschaft nicht mit eingeschlossen,« verteidigte sich Mrs. Wenham; »aber da Sie es getan haben, bleibe ich dabei,« was sehr großmütig von Mrs. Wenham war und ein weiteres Interesse an diesem römischen Priester verriet.

»Ich gäbe viel darum, wenn ich das sicher wüßte,« meinte Calthrop mit langsamer Emphase, denn er war ein schwerfälliger Mann; »ich versichere Sie, daß ich die Vergötterung meiner Lehrmeister wirklich satt habe, und daß ich schon längst den Verdacht hege, sie hätten nur tönerne Füße.«

»Das ist nur eine einfache und gewöhnliche Tatsache, die sich durch die ganze Geschichte des Menschen hinzieht. Ich kann da nicht auf Ihr Fach exemplifizieren, verehrter Herr Doktor, denn ich muß leider sagen, daß ich gar nicht weiß, welches Sie vertreten; aber es gibt eine allgemeine und unverkennbare Tatsache oder ein Gesetz in der Natur – Ebbe und Flut; und es muß daher, wie George Eliot es ausdrückt, eine entsprechende Systole und Diastole, eine Zusammenziehung und Ausdehnung, in aller menschlichen Forschung geben.«

»Carlyle ist der Autor dieses Ausspruches, soviel ich weiß,« bemerkte Vater Elton.

»Nein, George Eliot,« erwiderte Mrs. Wenham, ihn beständig anblickend. »Ich lasse meinen Lieblingsschriftsteller nicht von einem schottischen Papagei bestehlen, der in gebrochenem Deutsch kreischt.«

»Oho!« rief Vater Elton, »und Sie sagten doch selber, Sie seien eine Schottin. Ist das ein gemeinsamer Hang unter den Kelten, den Spieß umzudrehen?«

»Ihre Bemerkung, Mrs. Wenham,« warf jetzt Dr. Calthrop ein, der inzwischen die Sache reiflich überdacht hatte, »hat einen starken Eindruck auf mich gemacht. Ich werde bei den Alten nachsehen. Und Sie behaupten also, daß es nichts Neues unter der Sonne gäbe?«

»Nichts,« gab Mrs. Wenham zurück; »sogar die menschliche Natur ist unverändert geblieben. Sogar Euer Christentum,« fuhr sie fort, wobei sie ruhig all die vielen Geistlichen um sie her überblickte, von ihrem großen Landsmann bis zum Kanonikus herunter, und wieder hinauf zu Vater Elton, »ist nur eine Wiederholung der alten Philosophien, der griechischen, ägyptischen und indischen.«

»Ausgenommen daß?« fragte Vater Elton liebenswürdig.

»Ich nehme nichts aus,« antwortete sie und heftete ihre flammenden Augen auf ihn.

»Ausgenommen daß?« wiederholte Vater Elton lächelnd.

»Ausgenommen, daß die alten Philosophien ihre Bekenner demütig machten; und –« sie hielt inne, weil sie sich fürchtete, fortzufahren.

»Und daß das Christentum der Gipfelpunkt und die Vollendung von allem ist. O Himmel! Denken Sie nur, eine Dame des neunzehnten Jahrhunderts zitiert wirklich den hl. Augustin!«

»O, die Tage der Wunder sind noch nicht vorüber,« lachte sie.

»Gewiß nicht,« entgegnete Vater Elton. »Mir fällt da gerade ein sehr merkwürdiger Zufall ein, der mir erst vor ein paar Monaten begegnete. Sie haben natürlich alle schon von Knox gehört. Nun, ich war wirklich begierig, einmal selbst zu sehen, was an diesen wunderbaren Erscheinungen Wahres sei. Ich ging hin, begnügte mich ein paar Tage mit einem improvisierten Hotel und schaute mich dann um. Ich sah nichts als das Wunder von des Volkes Glauben und Frömmigkeit, und das Wunder eines stets mit Geduld ertragenen Leidens. Wir sind die Allerungläubigsten der Sterblichen, außer wenn Tatsachen ins sonnerhellte Land des Glaubens hinüberfließen. Eines Abends beim Diner kam ich nun neben einen jungen Herrn aus Dublin zu sitzen, der ebenfalls Untersuchungen angestellt hatte. Er fragte mich geradeheraus, was ich – das heißt, was die Kirche über Wunder denke. Ich erklärte ihm die kirchliche Lehre, so einfach ich konnte. Als ich damit fertig war, erwiderte er schlicht:

›Ich bin ein Ungläubiger. Ich wurde als Protestant erzogen, habe jedoch allen Glauben verloren. Aber ich besitze eine merkwürdige Geistesanlage; und ich habe noch soviel natürliche Religion in mir, daß mich der Glaube andrer Leute interessiert. Das führte mich hierher. Ich werde jeden Fall bezeugen, sagte ich mir, und feststellen, wo die Täuschung aufhört und das Wunder beginnt. Ich kenne die furchtbare Macht, die der Geist auf den Körper ausübt, und weiß, daß nervöse Krankheiten durch bloße seelische Konzentration geheilt werden können. Aber zeigen Sie mir einmal, daß ein zweifelloser Fall von Schwindsucht oder Krebs geheilt wurde, dann halte ich es für nötig, meinen Weg nochmals zurückzugehen und meine Lage von neuem zu prüfen. Nun hören Sie mal folgendes. Vor ein paar Tagen ging ich gerade bei Einbruch der Dunkelheit in Begleitung meiner Mutter und Schwester in die Kirche. Wir standen dem Platze, wo die Erscheinungen aufgetreten sein sollten, gerade gegenüber. Eine ungeheure Menschenmasse war anwesend, die mit weitgeöffneten Augen dem entgegenstarrte, was aus dem Schoße unsichtbaren Schweigens aufsteigen sollte. Wahrscheinlich war ich der einzige kühle und anmaßende Freigeist an diesem Orte. Meine Mutter und Schwester waren zwar Protestantinnen, standen aber der Sache sympathisch gegenüber. Ich befand mich zwischen beiden und legte je eine Hand auf die Schulter einer jeden. Die Litanei – so nennen Sie sie doch, nicht wahr? – begann. Alle diese metaphorischen Ausdrücke wie »Arche des Bundes«, »Morgenstern«, »Turm Davids«, berührten mich nicht sympathisch; ich mußte aber zugeben, daß sie schön waren. Die unzähligen Kerzen waren alle angezündet; und ich blickte um mich und beobachtete kühl die Gesichter all der Gläubigen, als ich zu meinem höchsten Erstaunen die Statue der Jungfrau Maria sich langsam zu Lebensgröße ausdehnen sah; ich beobachtete, wie die Fleischfarbe in den Hals und in die Wangen trat; ich sah die Augen weit offen und mit unendlichem Mitleid auf mich herabblicken. Ich war verzückt, gefesselt, gebannt. Schwer drückte ich meine Hände auf die Schultern meiner Mutter und Schwester und hauchte in leidenschaftlichem Flüstertone: Schaut doch! Schaut! Es war keine plötzliche Erscheinung; sie dauerte im Gegenteile bis zum Ende der Litanei. Und ich starrte und starrte auf die Lichtgestalt, und immer waren die Blicke der Jungfrau auf mich gerichtet, mit demselben eigentümlichen Ausdruck der Traurigkeit. »Seht ihr es denn nicht?« rief ich leidenschaftlich meinen Begleiterinnen zu. »Sehen? was denn?« gaben sie zurück. »Ach, die Erscheinung! Schaut doch, schaut! ehe sie verschwindet!« »Du bist behext«, erwiderte meine Schwester; »da ist doch absolut nichts zu sehen als die Statue und die Lichter«. Ich sagte nichts mehr, starrte aber in einem fort hin. Einmal und dann noch einmal, schloß ich meine Augen und rieb sie dann kräftig. Aber die Erscheinung blieb unverändert da, bis am Schlusse der Litanei ein Nebel sie zu umhüllen schien und die Gestalt dann langsam zur Größe der Statue herabschwand; die Fleischfarbe verlor sich und nach einigen Minuten sah ich nur mehr das Tonbildnis und die leblosen Augen. Aber hätte man mich damals unter Eid vernommen, ich hätte behauptet, daß eine Erscheinung da war. Diese Halluzination dauerte aber nicht lange. Als ich wieder in meinem Hotel angelangt war, war ich überzeugt, einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen zu sein. Und so steht es mit all Euren Wundern – die Einwirkung eines aus der Ordnung gekommenen Magens auf den Sehnerv.‹

›Und Ihre Mutter und Schwester?‹ fragte ich.

›Die waren empfänglicher als ich‹, gab er zurück. ›Aber im Hasten und Getriebe des Alltags ist alles wieder verflogen.‹

Ich hatte den Vorfall ganz vergessen,« fuhr Vater Elton fort, »und sogar der Name war mir entfallen, bis mir alles wieder einfiel, als Sie, Mrs. Wenham, eben sprachen. Ich glaube – ich bin meiner Sache aber nicht ganz sicher – der Herr hieß Mentrith.«

Während der ganzen kleinen Geschichte waren Mrs. Wenhams große Augen auf den Erzähler geheftet, in Bewunderung, Ueberlegung, Aerger und Erschrecken. Als Vater Elton nun fertig war, blickte sie züchtig auf ihre gefalteten Hände nieder und bemerkte sanft:

»Das ist auch mein Name. Und Ihr Bekannter war mein Bruder. Ich erinnere mich noch recht gut an den Vorfall.«

»Wirklich!« rief Vater Elton. »Wie seltsam bin ich da über einen so interessanten Gegenstand gestolpert. Und wollen Sie mir, Mrs. Wenham, jetzt nicht auch sagen, ob diese Erfahrung Ihres verehrten Bruders wirklich auf Sie Eindruck machte?«

Mrs. Wenham schaute so unschuldig drein wie ein Kind Mariens am Tage seiner Profeßablegung.

»Ich habe nie verfehlt, jeden Tag seitdem den heiligen Rosenkranz zu beten,« erwiderte sie.

Vater Elton blickte sie lang und fest an. Sie gab den Blick ruhig zurück. Dann wandte sich Vater Elton zur Seite und plauderte mit dem ihm zunächstsitzenden Monsignore; und er mußte innerhalb der nächsten Minuten ein paar sehr gute Anekdoten gehört haben, denn er lachte und lachte, bis ihm die Tränen von den Augen herabrannen.

Ein paar Minuten lang entstand ein verlegenes Schweigen, das nur von einem tapferen Versuch des Kanonikus, die zerstreuten Kräfte zu sammeln, unterbrochen wurde.

»Darf ich fragen – hm –« begann er, sich an den berühmten Prediger wendend, »führen Sie – hm – das gleiche Wappen und Motto – hm –, wie der Herzog von –?«

»Nein!« kam es unnachgiebig von den Lippen des großen Kanzelredners.

»Wie interessant!« bemerkte der Kanonikus.

»Wir haben in England keine Zeit, uns mit solchen Dingen zu befassen,« erwiderte der Prediger.

»Gütiger Gott!« rief der Kanonikus. »Ich dachte, Sie hätten sonst keine Aufgabe als – hm – gelegentlich eine Predigt.«

»Die Predigt ist nur eine Erholung für mich, besonders wenn ich vor einer so intelligenten Zuhörerschaft zu predigen habe und so eine interessante Gesellschaft treffe wie heute Abend,« gab der Priester zurück.

»Dann dürfen wir – hm – wohl auf die Ehre einer Wiederholung Ihres Besuches – hm – rechnen?«

Der Prediger zuckte die Achseln.

Als die Damen hinausströmten, hielt Vater Elton die Türe offen. Circe war die letzte.

»Das war etwas, was sich an einer öffentlichen Tafel nicht besprechen läßt,« flüsterte sie; »aber Sie müssen sich wirklich meiner annehmen und ein armes verlorenes Schäflein in die wahre Hürde zurückbringen.«

»Mit größtem Vergnügen,« gab er zur Antwort.

O Circe! Circe! Du magst wohl eine große Zauberin sein bei knospenden Apollos und jungen Adonisen, die noch nicht die Ruhe der ewigen Götter gewonnen haben; aber deine »süßen Augen« und »halblauten Antworten« werden diese stahlharten, leidenschaftslosen Priester nie in Schweine verwandeln, Circe!

Sie versuchte nun ihre List an einem nachgiebigeren Material und erfuhr innerhalb zwanzig Minuten von Barbara: 1. daß ihr Vater wirklich nach einem Titel begehre; 2. daß ihr Bruder sehr unverhoffter Weise Dublin verlassen habe; warum und weshalb wisse sie aber nicht zu sagen; 3. daß sie sich der Abendtoilette, die sie trug, aufs ärgste schäme, und daß sie mit Erfolg bemüht gewesen sei, sie mit Spitzen und Stickereien zu bedecken; 4. daß sie große Angst vor Vater Elton hege, der so klug sei; große Ehrfurcht vor dem Purpur empfinde, und große Liebe besitze zu gewissen seltsamen, barfüßigen mittelalterlichen Mönchen, die drunten in einer Straße hausten, die gewöhnlich mit jeder Art menschlicher Kleidungsstücke verziert war, und nur von den Karyatiden zusammengehalten wurde, die mit gekreuzten Armen von Morgen bis Abend ihre knarrenden und angefaulten Pfosten und Balken trugen; 5. daß Barbaras kleine Seele keinen anderen Ehrgeiz oder Wunsch nach Vergnügen kenne, als eine ruhige Stunde nach harter Tagesarbeit drunten in der schwacherhellten Kirche zu weilen, wo die große Lampe hin und her schwebe und tiefe Stille herrsche, wenn nicht gerade die alte Norry mit ihrem Rosenkranz rassele.

Und das Weltweib, das sich ihre eigene Geschichte ins Gedächtnis rief und die vielen geheimen Geschehnisse, die verschlossen und versiegelt in den Geheimfächern ihrer Erinnerung lagen, betrachtete das junge Mädchen von oben bis unten, blickte ihr in die Augen und studierte die Linien ihres Mundes, um sich befriedigt zu gestehen, daß es da keine geheimen Wege und Gänge gab. Dann stellte das Weltweib, das sich über eine solch seltene Erscheinung wunderte, noch ein paar andere verfängliche Fragen, die harmlos am Panzer einer reinen, offenen Seele abprallten. Hierauf versank das Weltweib in eine tiefe Träumerei, aus der sie erwachte, um sich selbst die Worte murmeln zu hören: »Die Tage der Wunder sind noch nicht vorüber. Sie ist ein Kind, und ein Wunder.«

Später, als die Herren in den Salon getreten waren, fiel es auf, daß Mrs. Wenham recht schweigsam und nachdenklich war.

»Eine kluge Dame, die eine kluge Rolle spielt,« dachte Vater Elton.

»Etwas gelangweilt von den Barbaren,« dachte der Kanzelredner, »wie ich es wirklich, das muß ich gestehen, auch bin.«

»Jezabel hat Reuegedanken,« murmelte Dr. Wilson. »Hat sie etwa eine Vorahnung von den Hunden?«

Beileibe nicht, denn die Propheten waren alle schon tot in Israel. Sie verabschiedete sich frühzeitig. Barbara wollte sie zu ihrem Wagen begleiten. Dr. Wilson bot frostig »Gute Nacht«. Barbara flüsterte:

»Sie können vielleicht etwas für Papa tun, Mrs. Wenham.«

»Sie dürfen versichert sein, daß es geschehen wird, um Ihretwillen,« erwiderte Mrs. Wenham.

»Und – und – wenn Sie je – das heißt, Sie können Louis vielleicht in London treffen, wollen Sie dann nicht – wollen Sie nicht – o liebe Mrs. Wenham!« –

»O bitte, gehen Sie doch aus der Nachtluft, Sie kleine dekolletierte Heilige,« mahnte die Weltdame, als sie Abschied nahm.

»Es gibt wirklich noch unschuldige Seelen auf der Welt,« sagte sie zu ihrem Begleiter, der neben ihr saß. »'s ist schade, denn Rachel wird noch Tränen vergießen müssen. Und es sollte keine Tränen geben! Keine!« schrie sie fast heftig. »Aber stählerne Nerven und harte Herzen, die nicht aufs Unvermeidliche zurückkommen! Welch schreckliches Schicksal steht diesem Kinde bevor? Denn es kann ihr nicht erspart bleiben. Herodes' Soldaten schweifen umher, und die Luft ist voller Klagetöne. Ich möchte trotzdem ihren Gott sehen. Laß sehen – zehn Uhr – das ist noch früh, nicht?«

Sie zog die Schnur und gab ihrem Kutscher einen Befehl. Er erwiderte nichts, sondern zog die Pferde herum, obwohl er fast von seinem Bock herunterfiel.

Dann befand sich die Weltdame in der dunklen Vorhalle einer Kirche, wohin sie sich ihren Weg trotz aller bösen Besorgnisse um ihre seidenen Kleider und ihre Schuhe getastet hatte. Dunkle Gestalten huschten im Zwielicht an ihr vorüber, tauchten ihre Finger irgendwo ein, murmelten ihre Gebete und verschwanden. Sie trat ein, sah aber nichts als einige gelbe Gasflammen, die das Düster eher vermehrten: Sie ging das Mittelschiff vor und sah die rote Lampe vor dem Hauptaltare hängen. Sie betrachtete sie lebhaft. Sie übte eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Sie hatte ähnliche Lampen vor Bildnissen in Rußland brennen sehen, als ihr Gemahl dort Militärattaché am kaiserlichen Hofe war; und sie hatte die nämlichen Lampen an Straßenecken in Italien vor dem Bilde der Madonna gesehen. Aber sie glichen doch wieder dieser Lampe so gar nicht. Woran lag das? Dann bemerkte sie langsam, daß sie sich nicht allein in der Kirche befand, sondern daß dieselbe voller Besucher war. Deren Gesichter schauten bleich aus der Dunkelheit, und Flüstern und Husten schlug an ihr überraschtes Ohr. Sie sah lange Reihen von Männern und Frauen, die stumm wie Statuen in Totenhallen blieben. Was machten sie da? Und die rote Lampe? Ein plötzlicher Schrecken erfaßte sie und sie floh.

»Möge die liebe Muttergottes Sie schützen, und möge Gott Ihnen eine glückliche Todesstunde und ein gnädiges Gericht verleihen,« rief eine Stimme aus dem Dunkel der Vorhalle.

»Das war ein Fall ins Inferno,« stieß sie heraus. »Welcher Wahnsinn hatte mich denn erfaßt?«

Tod – Gericht! Tod – Gericht! Tod – Gericht! Tod – Gericht! So knirschten die munteren Räder, als ihr Wagen »leise über Sand und laut über Steine« hinwegrollte. –


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