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XXXVIII.
Wäschetag

Schwester Maria von Magdala – wir wollen ihr jetzt ihren vollen Titel geben, da sie ihn nicht mehr viel länger tragen wird – hatte nun zehn Jahre der Buße, Unterwerfung und Abtötung hinter sich. Aber diese zehn Jahre hatten auch höchstes Glück im Heiligtum des Guten Hirten mit sich gebracht. Und da die unbestimmte Dauer der Erfüllung ihres großen Gelübdes dem Ende nahe war, war auch ihr Kreuz schwerer zu tragen und stieg ihre Angst. Man umgab sie zwar mit ehrfürchtiger Liebe, sodaß selbst ein großer Heiliger sie hätte beneiden können, wenn Heilige einer solch unwürdigen Regung zugänglich wären. Ihre Mitbüßerinnen beteten sie an, wenn sie auch nie verstand, weshalb; die Nonnen liebten sie, und Vater Tracey war außerordentlich gütig gegen sie. Schwester Eulalie behandelte sie als Ordensangehörige, und Laura, ihre kleine Patientin, sah ihr mit Augen voll sprachloser Liebe und Verehrung nach. Aber der Traum, der Traum!

Er war jetzt zu wachem Traum geworden und verfolgte sie besonders in der Klosterkapelle. Denn wenn Schwester Maria sich in dem kleinen Heiligtum auf der linken Seite niederließ, wo ihre Mitbüßerinnen der Messe oder einer Andacht anwohnten, dann fühlte sie sich im Geiste in die Chorstühle versetzt, wo die sechzig weißgekleideten Schwestern die Vesper sangen oder stumm der Messe beiwohnten. Und wenn die Orgel ertönte und die seraphischen Stimmen sich zu einem glorreichen Tantum ergo oder O Salutaris! erhoben, dann hörte sie aus allen ihre eigene Stimme heraus, wie sie sich zur Decke emporschwang und dann in leisem Echo von den Wänden widerhallte und über der Monstranz schwebte, wo ihr und aller göttlicher Liebhaber verborgen thronte. Dann konnte sie plötzlich aufwachen, um sich blicken und leise schaudernd ihre Verworfenheit wahrnehmen. Und dann schalt sie sich allen Ernstes und unter Tränen wegen ihres unfreiwilligen Verrates an ihrem Gelübde. Hatte nicht der Ewige sein Versprechen gehalten, und warum sollte sie wortbrüchig werden? Hatte der Allerbarmer ihren Bruder nicht den Peinen der Hölle und dem Abgrund entrissen, und warum sollte sie wegen einiger Jahre solch süßer Buße ungehalten sein? Wenn Gott Louis – den lieben, armen Louis – in die Hölle hätte kommen lassen – o, der Gedanke war zu schrecklich! Und sie mußte auf den Schwingen der Selbstverleugnung hingehen und wie ihre große Patronin die nägeldurchbohrten Füße umklammern und rufen: » Elegi! elegi! Ich habe lieber eine Verachtete im Hause meines Gottes sein wollen als in den Zelten der Sünder wohnen!« Und dann hatte sie wieder Frieden. Aber der wache Traum von den weißen, fleckenlosen Kleidern und dem Schleier, der Orgel und dem Chore, und sie selbst mitten darin, kam immer wieder und wieder; und sogar die Achtung und Liebe, deren Gegenstand sie jetzt war, verstärkten nur die Vision.

Eines Tages befand sich Schwester Maria im Krankenzimmer und wartete Laura Desmond, die jetzt ein hoffnungsloser und hilfloser Krüppel war. Sie hatte ihrer Pflegebefohlenen eben einen kleinen Dienst erwiesen, als diese sie mit der Hand zu sich herabzog und flüsterte:

»Wollen Sie mir denn nie sagen, wer Sie sind?«

»Macht denn das für uns einen Unterschied, Teure, solange wir einander lieben?«

»Nein; aber ich würde Sie noch mehr lieben, wenn ich mich nicht manchmal vor Ihnen fürchtete.«

»Warum sollten Sie mich aber fürchten? Ich bin bloß eine Ihresgleichen, vielleicht nur sündiger vor Gott.«

»Nein, das sind Sie nicht,« sagte die Kranke ruhig.

Dann nahm sie ihr Gebetbuch, öffnete es, wobei ihr Schwester Maria half, und nahm ein kleines Bildchen heraus.

»Wissen Sie, was das vorstellt?«

»Gewiß, meine Liebe – eine Schwester vom guten Hirten,« gab Maria zur Antwort.

»Ich werde nicht ruhig sterben, bis ich Sie in diesem Kleid sehe,« sagte Laura; »das heißt, wenn Sie sich nicht in noch etwas Besseres kleiden.«

Schwester Maria schüttelte den Kopf, und als Laura bald darauf einschlief, trat sie an das nach Süden gelegene Fenster und nahm ihr Buch vor, um zu lesen. Der heilige Berg schien jetzt sehr nahe zu sein. Sie wußte nicht, daß sie noch das tiefste und dunkelste Tal der Demütigung zu durchwandeln hatte, bevor sie den leuchtenden Gipfel erreichte.

* * *

Am gleichen Tage weilte Lukas, der einer gebieterischen Aufforderung seines Bischofs nachkommen mußte, ebenfalls in der Stadt. Bevor er aber Dublin verließ, gab er dem langgehegten Wunsche nach, seine Alma Mater wieder zu sehen. Er nahm einen Frühzug nach Maynooth, in der Hoffnung, seine Lieblingsplätze, die Kapelle, sein eigenes, altes Zimmer, den Rundgang usw. unbemerkt besuchen zu können. Als er das große Gitter öffnete, fiel es ihm zum ersten Male auf, daß Sphinxe das Portal des größten katholischen Priesterseminars in der Welt bewachten.

»Sonderbar, daß ich während all meiner Studienjahre einen solch ungewöhnlichen oder vielleicht bezeichnenden Umstand nie bemerkte,« sagte er zu sich selber.

Alles ringsumher war still wie der Tod. Wenn irgendwo auf Erden akademische Ruhe zu finden ist, so ist es innerhalb der geheiligten Mauern von Maynooth.

»Sie sind alle beim Frühstück,« rief er, auf seine Uhr schauend. »Ich werde die Hauskapelle ganz allein für mich haben. Ich werde den Ort wiedersehen, wo ich am Morgen meiner Ordination ausgestreckt lag. Ich werde mir meine Gelübde, Entschlüsse und Vorsätze wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Ich habe in der letzten Zeit so viel gesehen, das mich wieder zur Vergangenheit zurückweist und mich zwingt, mit meinen Anschauungen und Grundsätzen zu den frischen Eingebungen der heiligsten und ruhigsten Tage meines Lebens zurückzukehren.«

Er öffnete die enge Pforte auf der nördlichen Seite, berührte seine Stirn mit Weihwasser, und zu wiederholten Malen seit ein paar Tagen fühlte er warme Luft ihm entgegenschlagen und befand sich in der Gegenwart einer großen Menge. Er hatte ganz vergessen, daß es Pfingstzeit war. Die Kirche war voll; und gerade das Drama seiner eigenen Ordination, diese erhabenste aller kirchlichen Zeremonien, wurde vor seinen Augen wieder gespielt. Ruhig und unbemerkt stahl er sich das kurze Schiff entlang, wobei ihm die Studenten höflich Platz machten, und sah den breiten Gang zwischen den Chorstühlen ganz mit auf den Boden hingestreckten menschlichen Leibern bedeckt. Es herrschte eine erhabene Stille, als der Pontifex seine Hände über die daliegenden Leviten ausstreckte. Dann tönte an Lukas' betäubte Ohren diese glorreiche Hymne, das Veni Creator Spiritus, dieses mächtige epithalamium der Priesterschaft, das in gewissem Sinne auch die königliche Antiphone von Maynooth ist; denn zum ersten Male hört es der junge Student beim Beginne der Exerzitien von sechshundert Stimmen singen, und es verfolgt ihn durch seine ganze Studienzeit; und zum letzten Male hört er es bei seiner Priesterweihe, wo es ihm als der Rhythmus der höchsten, melodischen Heiligkeit sein ganzes priesterliches Leben lang unvergeßlich bleibt. Und Lukas, entzückt und berauscht von all den süßen Gedanken an die Vergangenheit und von der gegenwärtigen Umgebung, konnte nur den Ausdruck verzückter Andacht und Seligkeit betrachten und studieren, der die Gesichter der jungen Priester mit dem Oele der Freude übergoß und ihn selber zwang, zu beten, tief drunten in seinem Herzen, nicht für sich selber, sondern für sie, daß der heilige Geist die göttlichen Eingebungen dieses Tages immer frisch in ihren Herzen erhalten und sie nie von den falschen Maximen der Welt und dem tödlichen Hauche der Gewohnheit und der Kompromisse vertilgen oder verwelken lassen möge.

Ruhig entschlüpfte er den Reihen der Alumnen, dieser Kadetten der großen Armee Christi; schritt rasch über die Spielplätze und den großen Rundgang und zögerte einen Augenblick an dem kleinen Kirchhof, wo viele seiner ehemaligen Professoren schliefen. Dann betrat er einmal den Korridor und sah sich plötzlich an der Stätte seiner alten Triumphe – im Saale des vierten theologischen Kurses. Ach ja! Da war ja noch das Pult, an dem er einst gesessen, und der Katheder, unter dem er einst so oft seine Soutane über die Knie gezogen und seinen Gegner mit einem Sic argumentaris, doctissime Domine! vernichtet hatte. Er setzte sich nieder, vergrub das Gesicht in seinen Händen und suchte sich alte Gesichter und Empfindungen ins Gedächtnis zurückzurufen. Ach! Die alten Gesichter waren in den Nebeln des Gedächtnisses entschwunden; aber die alten Empfindungen und Gefühle wachten wieder auf und schienen ihn des Verrates zu zeihen.

»Meine Vernunft sagt mir,« rief er, »daß mein Leben fleckenlos und ohne Makel gewesen ist. Mein Gewissen aber, eine höhere Macht, erklärt mein Leben als ein verfehltes. Worin und inwieweit war es denn verfehlt?«

Und die Geister der Vergangenheit antworteten: »Darin, daß du, wie man dir schon gesagt hat, das bunte Feuerwerk der Welt für die ruhigen, ewigen Sterne gehalten hast. Du hast nach Licht gesucht und Dunkelheit geschaut; Helle hast du begehrt und bist im Finstern gewandelt. Nach der Mauer hast du gegriffen, und zwar wie der Blinde, der keine Augen hat. Um Mittag bist du gestrauchelt, als ob es Nacht wäre, und wie die Toten, bist du an dunklen Stellen gewesen.«

Und Lukas antwortete und sprach: »Jawohl; aber weshalb und wie?«

Und die Antwort lautete: »Deshalb, weil du deine theologische Lehranstalt und dein Land, ja sogar deine Kirche mit dem Maß einer falschen Zivilisation gemessen hast. Du hast dein Mutterland, wie alle deine Landsleute, die ins Ausland gehen, nach dem falschen Standpunkt modernen Fortschrittes beurteilt. Du fandest es dürftig und hast es verachtet. Was hat dir jetzt die Welt genützt? Sie hat dir wahrlich wenig für deinen Abfall geboten. Und für dein eigen Volk bist du nur Strohfeuer gewesen.«

Lukas war froh, den Lärm und das Lachen der Studenten auf dem Korridor zu hören. Nur dieser Träumerei entfliehen, in der alle Anklagegeister sich Rendezvous gaben! Er öffnete die Tür und trat hinaus. Gruppen von Alumnen zu drei und vier gingen vorbei, eine nach der andern, jede einen neugeweihten Kameraden in der Mitte, der in Lüften schwebte und den Staub der Erde hinter sich ließ. Gruppe auf Gruppe starrte auf Lukas und schritt dann vorüber. Plötzlich aber machte sich ein Alumne von seinen Kameraden los, und bescheiden auf Lukas zutretend, fragte er: »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. Sind Sie nicht Vater Lukas Delmege?«

»Jawohl,« erwiderte Lukas.

»Lukas Delmege, der erster Preisträger war?«

»Jawohl,« entgegnete Lukas und errötete über die alte Auszeichnung und ihre Erwähnung.

»Die Diözese sprach erst gestern von Ihnen und Ihren Triumphen, und ein Kamerad aus Limerick glaubte Sie zu erkennen. Wollen Sie nicht ein wenig mit uns kommen?«

»Gewiß,« antwortete Lukas. Und er ging mit. Und sie machten ihn zum Mittelpunkt eines bewundernden Kreises und erzählten ihm halb scheu, halb vertraut, wie sehr man in seinem alten Seminare noch an ihn denke; und Arm in Arm spazierten sie überall herum, bis ein Professor, der aus dem Bibliothekzimmer die Stiege zum Refektorium hinunterschritt, Lukas' ansichtig wurde, erst zögerte, aber dann rasch hinzutrat. Die Studenten zogen ihre Mützen und traten zurück. Der Professor aber verschränkte seinen Arm in den von Lukas, zog ihn mit sich und murmelte in einem fort: »Lukas Delmege, Lukas Delmege, den wir als verloren aufgaben! Warum! Warum nur? Vor wie vielen Jahren haben Sie uns denn verlassen?«

»Vor siebzehn langen Jahren,« erwiderte Lukas glücklich.

»Siebzehn?« murmelte der Professor, machte seinen Arm frei und schaute Lukas ins Gesicht. »Siebzehn Jahre haben Sie uns schon verlassen, und niemals haben Sie sich herbeigelassen, uns zu besuchen? Sie verdienen, Hals über Kopf aus ihrer Alma mater hinausgeworfen zu werden!«

Man führte ihn ins Refektorium, wo er verschiedene alte Kameraden und einige seiner alten Professoren antraf. Die Vertraulichkeit, mit der die letzteren behandelt wurden, überraschte ihn; es überraschte ihn ferner, daß sie ihn vertraulich anredeten; es überraschte ihn, daß sie aßen und tranken wie andere Sterbliche auch. Sie waren die Dii majores seiner jugendlichen Verehrung – die Götter, die sich in einer ganz anderen, höheren Sphäre bewegten. Das ist die tiefe Ehrfurcht der Jugend vor ihren Vorgesetzten – ein Instinkt, den kein edler Mensch je ganz verliert.

Lukas war überwältigt von all der Güte. Er sagte, er müsse morgen, Mittwoch, nach Hause zurückkehren.

»Unsinn! Am Mittwoch kehrt doch kein Mensch von einer Ferienreise zurück. Am Samstag um Mitternacht kommen Sie daheim an, und Sie müssen in Maynooth bleiben, bis der letzte Zug abgeht.«

Und er blieb und lebte die ganze Vergangenheit mit all ihren glücklichen Erinnerungen wieder durch, traf alte Schulkameraden und sprach von alten Zeiten; rief da Disputationen wach, wo er endlich fühlte, daß er auf kongenialem Boden sei und nicht mißverstanden werde, rief alte Debatten und Thesen wieder ins Gedächtnis zurück und faßte neue Pläne für die soziale und geistige Wiedergeburt Irlands.

Es war ein glücklicher Mann, der am Samstag morgen zwischen den Sphinxen aus dem Tore schritt.

»Die euch hierher setzten, taten wohl daran,« sagte er. »Das Leben ist ein ungeheures Rätsel. Und ich bin ein Narr gewesen, daß ich es zu lösen versuchte – ein Narr in mehr als einer Hinsicht. Das dümmste aber war meine einfältige Nachahmung des alten unverdaulichen Zynikers, der sein ganzes Leben lang die Kontroverse über ὁμοούδιοσ und ὁμοιούδιος lächerlich machte, in seinem Alter aber zugab, daß von diesem einen Buchstaben das ganze Gebäude des christlichen Glaubens abhänge.«

Aber Lukas war glücklich und stark. Er brauchte es auch. Größere Enthüllungen über die Möglichkeiten der Heiligkeit in der Kirche und größere persönliche Prüfungen standen ihm noch bevor.

Als er zu Hause anlangte, fand er einen kalten, strengen Brief von seinem Bischof vor, der ihn aufforderte, schleunigst in die Stadt zu kommen und im bischöflichen Palais sich einzufinden. Ganz erstaunt, welche neue Beschuldigung gegen ihn vorliegen könnte, und sein Gewissen vergeblich nach etwas Unrechtem durchforschend, ging er zu seinem Bischof. Der war so kalt und streng wie sein Brief.

»Nehmen Sie Platz!« sagte er. Lukas tat, wie ihm geheißen, und wartete.

»Nun, Vater Delmege,« begann der Bischof, »ich habe Ihnen viel hingehen lassen, aber jetzt ist meine Geduld zu Ende. Ich ließ die Unklugheit, die Sie auf Ihrem ersten Posten in Irland begingen, auf sich beruhen, weil Sie den Vorschriften entsprechend handelten, wiewohl dies klüger hätte geschehen können; ich begnügte mich sodann mit einem sanften Verweis, als Sie, wohl unschuldig, ein System der Proselytenmacherei in Ihrer Pfarrei einführten. Ebenso habe ich Ihre sonderbare Gewohnheit, in Ihren Predigten peinliche Kontraste zwischen den Gebräuchen unserer irischen Kirche und denen anderer Länder zu erörtern, wo glücklichere Verhältnisse obwalten, ohne Rüge gelassen. Selbst Ihre sehr gefährlichen Aeußerungen, die Sie gelegentlich eines Vortrages hier in der Stadt vor einigen Monaten taten, habe ich nicht weiter beachtet, weil ich wußte, daß Sie da nicht viel Schaden anrichten konnten. Aber jetzt halte ich einen traurigen Bericht über eine Predigt in Händen, die Sie unmittelbar nach der letzten Mission in Ihrer Pfarrei hielten und worin Sie, wenn ich recht unterrichtet bin, die Wirksamkeit der Sakramente leugneten und auf der persönlichen Kraft der Selbstheiligung bestanden im Gegensatze zu den gewöhnlichen Kanälen der göttlichen Gnade –«

»Darf ich um den Namen meines Anklägers bitten?« erwiderte Lukas tonlos.

»Ich kann ihn nicht nennen, wenn die Sache nicht offiziell untersucht und abgeurteilt wird. Ihr Pfarrer schreibt mir zwar, Sie wüßten sich jedenfalls genügend zu rechtfertigen, aber der alte Herr sieht die Dinge leicht zu optimistisch.«

»Meine einzige Rechtfertigung besteht darin,« erwiderte Lukas, »daß ich die Beschuldigung in toto zurückweise. Ich sehe jetzt klar, was den Bericht veranlaßte. Ein armer Bursche kam betrunken zur Schlußzeremonie der Mission. Ich nahm ihn aus der Kirche und hieß ihn heimgehen, weil er ja doch keinen Nutzen aus der Erneuerung seiner Gelübde in seinem damaligen Zustande ziehen konnte. Am folgenden Sonntag machte ich den Vorfall zum Texte meiner Predigt. Ich warnte die Leute, daß sie ja nicht die Mittel der Heiligung mit dem Zwecke verwechseln – nicht auf äußerliche Handlungen, sondern aufs Herz schauen sollten; daß sie die Sakramente und Sakramentalien in Hinsicht auf ihre eigene Heiligung gebrauchen sollten, aber nicht als Endzweck, der Wunder wirke ohne eigene Mitwirkung –«

»Das gibt der Sache ein ganz anderes Gesicht,« gab der Bischof, milder werdend, zu. »Es würde mich auch sehr überraschen, wenn jemand, der während seiner Studienzeit solche Auszeichnungen davontrug, so grobe Fehler machen würde. Haben Sie sonst noch etwas vorzubringen?«

»Nein, Mylord, nichts,« erwiderte Lukas verzweiflungsvoll. »Meine Seminarauszeichnungen haben mir nur wenig genützt. Ich bin ein müder und gedrückter Mann.«

Er beugte sein Haupt auf seine Hände nieder in einer Haltung der Hilflosigkeit. Die kleine Gebärde rührte den Bischof. Er blickte lange auf die gebeugte Gestalt mit dem gesenkten Haupt nieder, wo die grauen Haare, die des Lebens Winter bedeuten, sich schon stark geltend machten. Dann berührte er Lukas sanft.

»Bleiben Sie heute hier und dinieren Sie um fünf Uhr bei mir. Nein! Nein!« fuhr er fort, als Lukas sich entschuldigen wollte, »ich nehme keine Entschuldigung an. Ich will Sie mir näher ansehen.«

»Ich bin fast einen Monat von zu Hause fort gewesen, Mylord,« erwiderte Lukas, der loskommen wollte, »und –«

»Nun, dann verpflichte ich Sie unter dem Gehorsam darauf,« sagte der Bischof. »Sie werden sehen, ich bin nicht so übellaunig und unangenehm, wie Sie denken. Sie können sich ein paar Stunden in der Stadt ergehen, aber um fünf Uhr müssen Sie pünktlich hier sein. Uebrigens, ich hätte es gern, wenn Sie einen Brief von mir an Vater Tracey mitnähmen; kennen Sie ihn?«

»Ich bedaure, nein. Vor Jahren, als ich noch weiser war als jetzt, entschloß ich mich, seine Bekanntschaft zu machen, verfehlte aber leider die Gelegenheit. Es wird mich sehr freuen, das jetzt nachholen zu können.«

»Das können Sie. Ich wollte, ich könnte seine Demut überwinden und ihn der ganzen Diözese als Muster vorhalten. Aber sein Beispiel wirkt auch so in ruhiger Weise.«

Lukas nahm den Brief und begab sich in das Spital, wo Vater Tracey wirkte. Er fand aber, daß er nicht da, sondern in einer Seitenstraße wohnte. Er ging eine ärmliche Gasse entlang und schaute eifrig nach den Häusern, wo eine anständige Wohnung sein könnte. Kaum entging er dabei einer Ueberflutung mit rötlich-schmutzigem Wasser, das eine alte Frau aus einer Türe über den Fußsteig in die nahe, schmutzige Kanalrinne schüttete.

»Ich bitte Ew. Hochwürden tausendmal um Verzeihung,« flehte sie. »Hoffentlich hat kein Tropfen Ew. Hochwürden beschmutzt.«

Dabei untersuchte sie ängstlich Lukas' elegante Priesterkleidung.

»Kein Tropfen, meine arme Frau,« sagte er. »Aber es ging recht nah vorbei. Können Sie mir sagen, wo Vater Tracey wohnt?«

»Hier, Ew. Hochwürden,« erwiderte sie und zog Lukas in die Küche. »Aber ich glaube kaum, daß er Sie heute empfangen kann, heute ist Kampecheholztag.«

»Was ist das?« fragte Lukas neugierig.

»Einmal in sechs Monaten müssen wir seine alten Kleider in Kampecheholz tauchen, um sie wieder etwas anständig zu machen. Das war die erste Abkochung, die ich hinausschüttete. Jetzt geben wir ihnen die zweite.« Sie zeigte auf den großen Kessel, und Lukas beugte sich darüber und sah eine schmutzige, schwarze Masse in einer dunkelroten Flüssigkeit schwimmen.

»Und hat er denn bloß einen Rock?« fragte er.

»Nur einen, Hochwürden. Er will sich nicht anständig kleiden, wie alle anderen Leute. Und ich habe noch genug zu tun, wenn ich ihn verhindern will, auch diesen einzigen Anzug noch wegzuschenken. Das heißt,« fügte sie hinzu, »wenn jemand ihn möchte.«

»Nun, so tragen Sie ihm diesen Brief vom Bischof hinauf und sagen Sie ihm, ein Priester wünsche ihn zu sprechen.«

Nach einer geraumen Weile erschien sie wieder oben auf der Stiege und rief herunter: »Sie können heraufkommen, Hochwürden; geben Sie aber auf die Treppe acht, und lehnen Sie sich nicht zu schwer aufs Geländer!«

Das Vorzimmer, in das Lukas geführt wurde, war ärmlich genug. Es diente als Schlafraum, und obwohl sauber, wies es keinerlei Einrichtung auf außer einem hölzernen Stuhl, einem Waschtisch und dem einfachen Lager, auf dem der alte Mann seine oft unterbrochene Nachtruhe hielt. Er trat in das innere Zimmer. Der alte Geistliche, der in eine vor Alter grüne Soutane gekleidet war, erhob sich und grüßte ihn, ohne nach seinem Namen zu fragen, herzlich und bat ihn, Platz zu nehmen, während er das Siegel des bischöflichen Briefes erbrach. Der Inhalt mußte angenehm gewesen sein, denn der alte Mann lächelte.

»Ich habe mich schon lange mit dem Gedanken getragen,« begann Lukas, »Sie kennen zu lernen. Meine Schwester im Kloster zum guten Hirten hat mich wieder und wieder gebeten, einmal bei Ihnen vorzusprechen, aber ich wurde stets verhindert.«

»Dann haben Sie also eine Schwester im Kloster?« fragte der alte Mann nervös und etwas zitternd.

»Jawohl, Vater – Schwester Eulalia – Sie kennen sie doch?«

»Gott steh mir bei, ist das wahr?« rief Vater Tracey, erhob sich und schüttelte Lukas nochmals warm die Hand. »Und Sie sind Lukas Delmege, der große Theologe und Redner!«

»Ich heiße Lukas Delmege,« bestätigte Lukas sanft.

»Ja, ich habe von Ihnen schon gehört, längst bevor ich Sie gesehen. Gott segne mich! Und Sie sind Lukas Delmege?«

»Ich habe heute einen sehr bitteren Tag gehabt. Ich bin vor den Bischof zitiert worden, um eine ganz verleumderische Anklage zurückzuweisen.«

»Um Gotteswillen! Und was haben Sie da gesagt?«

»Natürlich habe ich mich verteidigt, und ich denke, der Bischof ist jetzt beruhigt, daß ich nichts Unrechtes gesagt oder getan habe. Aber der Stachel bleibt zurück.«

Der alte Mann schwieg und blickte Lukas beständig an. Der wurde dadurch etwas verlegen.

»Sie scheinen zu glauben, ich sei im Unrecht gewesen,« sagte er schließlich. »Was soll man denn sonst tun, als sich verteidigen?«

»Gott segne mich! Ganz richtig! Ganz richtig! Man kann auch nichts sagen, mein Lieber.«

»Einer schändlichen Anklage gegenüber schweigen und sich verdammen lassen? Kein Theologe verpflichtet zu so etwas.«

»Natürlich nicht, natürlich nicht,« entgegnete Vater Tracey. »Aber ich meine – ich weiß nicht gewiß – aber ich meine, daß unser Herr auch vor seinen Anklägern stumm blieb. Und er wurde gerechtfertigt von seinem Vater!«

»Das ist ganz richtig, Vater,« erwiderte Lukas, sich auf dem harten Stuhl hin- und herschiebend, »aber diese Dinge sind zu unserer Bewunderung, nicht zu unserer Nachahmung geschrieben. Wenigstens,« fuhr er fort, den schmerzlichen Blick in dem greisen Gesichte wahrnehmend, »habe ich das einen ausgezeichneten Mann vor vielen Jahren sagen hören.«

Und dann öffnete der alte Mann vor Lukas' staunendem Blick aus den Schätzen seiner heiligen Erfahrungen die Reichtümer des Wissens, die nicht den Gelehrten, sondern den Einfachen zuteil werden: die Weisheit des Kindes und des Engels, die Weisheit Bethlehems und Kalvarias. Er zeigte, wie das mächtige Reich des kostbaren Blutes die ganze Welt zwar durchdringt und durchsäuert, aber nur da unbestritten herrscht, wo seine Gesetze und Regeln vollkommen anerkannt sind; und wie da, wo die Vorschriften der Kirche mit den Maximen und Grundsätzen der Welt einen Kompromiß eingegangen haben und ihnen angepaßt worden sind, die Schatten tiefer und die Grenzlinien des Reiches schwächer sind. Und Lukas vernahm, daß das eine Zentralgesetz dieses Reiches heiße: Verliere dich selbst, um alles zu finden, und daß das altvertraute Schlagwort der Selbstverleugnung und des stellvertretenden Leidens in Wirklichkeit der ausschließliche und höchsteigene Besitz des Christentums und der Kirche sei. Und Lukas überblickte sein vergangenes Leben, und sah, daß seine Seele nackt und beschämt war. Da gab er das Rätsel auf.

»Ich will nur ein oder zwei Beispiele sehen, und es ist genug für immer,« sagte er.

Das eine lag vor seinen Blicken. Das andere, das noch edler, noch göttlicher war, sollte er bald sehen.

Er nahm von dem alten Priester herzlichen Abschied und lenkte dann seine Schritte dem Kloster vom guten Hirten zu, um seine Schwester zu besuchen. Die Laienschwester, die ihm aufschloß, teilte ihm mit, daß seine Schwester in der Waisenkinderabteilung beschäftigt sei und wohl noch eine halbe Stunde dort festgehalten werde. Ob er unterdessen die Einrichtung des Klosters besichtigen wolle?

»Mit größtem Vergnügen,« gab er zurück.

Man führte ihn in den Korridor, der voll Blumen und Duft war; dann in raschem Uebergang in den ersten Arbeitssaal. Er befand sich direkt den Büßerinnen gegenüber. Der Schauer, der jede reine Seele bei diesem bloßen Namen überkommt, kam auch ihn an, als er die Wirklichkeit sah. Der Schrecken, den der Anblick entehrter Weiblichkeit im Katholiken, dem ja das süße Symbol weiblicher Vollkommenheit, die allerseligste Jungfrau, so vertraut ist, unwillkürlich hervorruft, ließ ihn erzittern. Aber nur einen Augenblick. Es war nichts Abstoßendes oder Aufregendes hier. Sieben oder acht lange Tische füllten den Raum, und an jedem Tisch waren acht bis zehn Frauen, vom jungen Mädchen von fünfzehn Jahren bis zum sechzigjährigen Weibe, schweigend mit Waschen beschäftigt. Die Arbeiterinnen waren hübsch gekleidet und fühlten sich auch glücklich, nach ihrem Lächeln zu schließen. Keine noch so lebendige menschliche Einbildungskraft konnte diese eifrigen Arbeiterinnen mit nächtlichen Ausschweifungen, verrufenen Straßen, Docks, Gefängnissen oder noch Schlimmerem in Verbindung bringen. Es war eine glückliche Schwesterngemeinde, die in aller Ruhe und Ordnung arbeitete. Und über alle führte eine junge Novizin die Aufsicht, die in ihrem weißen Schleier wie ihre armen büßenden Schwestern arbeitete, jetzt eine weiße Manschette, dann einen Kragen vornahm und mit sanfter Stimme Anweisungen erteilte.

»Es ist der alte Mechanismus, den ich einst gewünscht, in seiner Vollkommenheit,« dachte Lukas; »aber die treibende Kraft ist die Liebe, nicht die Furcht.«

Sie gingen in einen anderen Saal. Hier traf Lukas auf Wunder Numero zwei. Nichts von einem mönchischen Schweigen war da zu bemerken; sondern das Summen und Brausen der Maschinenarbeit wurde von einem Babel an Stimmen hin- und hereilender Arbeiterinnen übertönt.

»Ihren Segen, Vater!« schrie eine, und in einem Augenblick lagen alle auf ihren Knien, um Lukas' Segen zu erhalten. Und dann zeigten die armen Geschöpfe Lukas mit großem Stolz alle Geheimnisse der Maschine; wie der Dampf eingelassen und wie er abgesperrt wurde usw. Und unter ihnen bewegten sich in gleichmütiger Seelenruhe die weißgekleideten Klosterschwestern, ihre fleckenlosen Gewänder aufgeschürzt, denn der Boden war naß, und sie arbeiteten und mühten sich ab wie die andern.

»Das ist der Staat Jesu Christi,« sagte Lukas.

Und die liebe alte Schwester Peter, eine achtzigjährige Nonne, trat auf ihn zu und zeigte ihm all ihre Schätze und ihr hübsches kleines Betzimmer mit allen seinen lieben Bildern.

»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte Lukas.

»Fünfzig Jahre an Michaeli, Ew. Hochwürden.«

»Dann haben Sie Ihr Fegefeuer überstanden.«

»Ich brauche weder Fegefeuer noch den Himmel selbst,« gab sie zurück, »solange mich Gott den Schwestern läßt.«

Die Schwester verließ mit Lukas die dampferfüllte Atmosphäre und das Getöse der Maschinen und trat in einen engen Gang, der zum Dampfkesselraum und Maschinenhause führte.

»Ich möchte Ihnen gern unsern neuen Dampfkessel zeigen,« sagte sie; »ich gehe schnell hinüber und trage dem Maschinisten auf, alles herzurichten. Das ist unsere Krankenabteilung. Vielleicht interessiert Sie die auch. Es ist nur eine Patientin da.«

Sie öffnete die Türe und zeigte auf ein Bett. Er trat sofort darauf zu, beugte sich über das kranke Mädchen und sagte ihm ein paar gütige Worte. Dann blickte er sich um und bemerkte noch eine andere Gestalt, die am südlichen Fenster saß und ihr Antlitz über ein Buch neigte, in dem sie las. Er dachte, es sei unfreundlich, sie zu übergehen; deshalb trat er auf sie zu und fragte heiter: »Eine Rekonvaleszentin, denke ich?«

Sie erhob sich, am ganzen Leibe zitternd. Dann überströmte ein Rot unsagbaren Schreckens und unverkennbarer Scham ihr Gesicht und Stirne, als sich beider Augen trafen; aber nur, um einer Blässe zu weichen, die tiefer war als die auf Totengesichtern. Er wich zurück, wie vom Skorpion gestochen, und rief: »Großer Gott! Barbara! Miß Wilson!«

»Pst!« machte sie sanft, ihren zitternden Finger auf ihre Lippen legend. »Das arme Kind wacht.«

»Aber was – was – was –« stammelte er, »was bedeutet denn, in Gottes Namen, dieses Geheimnis? Warum befinden Sie sich hier?«

»Es war Gottes Wille,« antwortete sie demütig.

»Natürlich,« sagte er erregt; »aber als was? In welcher Eigenschaft? Sind Sie Krankenwärterin?«

»Nein,« erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Und wie lange befinden Sie sich schon hier?« rief er und ließ seine Augen über ihr blaues Büßerinnengewand schweifen.

»Zehn Jahre,« gab sie tonlos zurück. »Genau seit Louis' Tode.«

»Zehn Jahre! Und Ihr Onkel und Vater durchsuchen ganz Europa nach Ihnen! Wozu dies schreckliche Geheimnis? Wie lange haben Sie schon Profeß abgelegt?«

»Ich bin keine Nonne, Vater,« erwiderte sie tapfer.

»Dann sind Sie eine Krankenschwester in der Stadt und kommen hier herein –«

Sie schüttelte ihr Haupt. Ihr Herz brach fast vor Scham und Kummer, als sie tiefer und tiefer im Tale der Demütigung versank. Er wich zurück, als der schreckliche Gedanke sein Gehirn durchzuckte und er sich die Tracht der Büßerinnen ins Gedächtnis zurückrief. Sie bemerkte die Bewegung und errötete wieder.

»Ich wage nicht weiter zu fragen,« sagte er kühl und zurückhaltend; »aber gehören Sie zur Klostergemeinde?«

»Nein, Vater,« sagte sie tapfer – es war das » Consummatum est« ihres zehnjährigen Leidens – »ich bin eine Büßerin.«

Sie blickte hinaus auf die Bäume und Sträucher, blickte mit geweiteten Augen wie eine Schwindsüchtige, während ihre Schläfen noch gerötet waren und ihr Gesicht in tödlichem Schmerze sich verzog. Auch er schaute beständig durchs Fenster. Er konnte kaum den Abscheu verbergen, den er nach diesem zögernden Bekenntnisse gegen das junge Mädchen empfand, das da scheinbar so ruhig neben ihm stand. Der Schauder, den er beim Eintritte in die Waschküche empfand, wo die Büßerinnen arbeiteten, und der sofort angesichts des erhabenen Schauspieles ihrer Erhebung aus Schmutz und Laster verschwunden war, erfüllte ihn jetzt mit zehnfachem Ekel. Hier, dachte er, gab es doch keine Entschuldigung. Weder Unwissenheit, noch Armut, noch Vererbung konnten die Scham so ersticken. Er stand Seite an Seite, nicht mit einem sündigen Weibe, sondern einem gefallenen Engel. Die Verwandlung war vollkommen. Er meinte es in ihrem Gesichte zu lesen. Hier gab es keine, konnte es keine Erhebung geben. Er besann sich einen Augenblick, was er tun wollte. Dabei trat die Erscheinung, die er im »Schweizerhof« gesehen hatte, die Erscheinung der schiffbrüchigen Seele und ihres Schutzengels wieder vor sein Auge. Der Gedanke war zu schrecklich. Die Erinnerung an diese eine Nacht trieb ihn an, seine Hand auszustrecken und ein freundliches Lebewohl einer zu sagen, die er nie wieder sehen würde. Aber ein Seitenblick auf das schlecht gearbeitete, rauhe Büßerinnenkleid schreckte ihn wieder ab. Er verbeugte sich steif und sagte finster: »Guten Tag!« Barbara starrte noch immer zum Fenster hinaus. Dann fielen langsam, während ihr Herz vor Qual brach, heiße Tränen auf ihre Hand herab und netzten das Buch, das sie festhielt.

Als Lukas an Lauras Krankenbett vorbeikam, winkte sie ihn heran.

»Wollen Sie mir nicht auf Ihr Ehrenwort sagen,« fragte sie, »ob Sie dieses Mädchen kennen?«

»Gewiß,« erwiderte er kurz. »Ich kenne sie flüchtig.«

»Wollen Sie mir nicht ein für allemal sagen, Hochwürden, ob sie die allerseligste Jungfrau Maria ist?«

»Nein!« gab er streng zurück; »das ist sie nicht!«

»Gott sei Dank!« rief das arme Mädchen. »Ich schlug sie mal mit der Hand ins Gesicht. Ich sah den Abdruck meiner Finger eben wieder, als sie errötete, auf ihrer Wange. Gott sei Dank! Nun sterbe ich leicht!«

Die Schwester, die Lukas auf dem Korridor erwartete, war überrascht über die Veränderung, die in seinem Wesen und Auftreten vorgegangen war.

»Kann ich die ehrwürdige Mutter sprechen, Schwester,« fragte er ungeduldig, »und zwar sogleich?«

»Gewiß, Vater! Treten Sie nur hier ins Sprechzimmer ein!«

Was bei diesem kurzen Zwiegespräche vorfiel, können wir leider nicht berichten. Aber Lukas Delmege trat beschämt und umgewandelt aus dem Zimmer. Er wußte jetzt, daß all der erhabene Supranaturalismus, mit dem er in den letzten Tagen in Berührung getreten war, in diesem Herzen, das er blutend und zerrissen im Krankensaal verlassen hatte, den Gipfelpunkt erreicht hatte. Er hatte gesehen, was er gewünscht hatte: das höchste Beispiel von Selbstverleugnung; und er wußte jetzt, daß die heroische Heiligkeit, wie die Kirche und die Heiligen sie lehrten, keine Mythe war.

Er war schon bis zur Eingangspforte des Klosters gekommen, ehe er an seine Schwester dachte. Sie hatte ihn vorbeigehen sehen, scheute sich aber, ihn anzureden. Sie fühlte, daß er alles wußte, daß das Geheimnis des Königs, das zehn Jahre lang so treu bewahrt worden war, jetzt enthüllt sei. Sie rief Lukas, gerade als er an sie dachte. Er kehrte um, verwirrt und geblendet. Sie hatte ihm hundert Dinge zu sagen, aber jetzt blieben ihre Lippen geschlossen, als sie vor ihm stand und in seine wilden Augen und sein erregtes Gesicht blickte. Er blieb einen Augenblick vor seiner Schwester stehen und der Gedanke an ihre Warnung an dem Abend, als er beim Kanonikus zum Diner geladen war, kam ihm in den Sinn, und Margarets rasches Urteil damals und sein eigenes rasches Urteil vor einer Stunde legten sich schwer auf seine Seele. Er legte seine Hände auf die Schultern seiner lieben, kleinen Schwester und würde die ganze Welt darum gegeben haben, sie küssen zu dürfen. Aber er fühlte es wohl, daß es nicht ging. Der Glanz einer überirdischen Welt umgab ihn hier rings, und er erschrak.

Margaret sagte nur leise: »O Lukas! Was gibt's? Was ist vorgefallen?«

Er beugte sich nieder und ergriff hastig das weiße Elfenbeinkreuz, das von ihrem Rosenkranz niederhing. Er drückte einen leidenschaftlichen Kuß darauf und schritt dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, in die Stadt hinaus.


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