Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.
Die Illusionen der Jugend

Er war noch jung, Lukas Delmege, sehr jung, sonst wäre er nicht so stolz gewesen, als sein Name zum vierten Male gerufen wurde und er seine Landsleute bitten mußte, die Menge schon gewonnener Preise zu überwachen, während er das Mittelschiff der Kapelle hinanstieg und sein Bischof ihm lächelnd eine weitere Reihe von Kalblederbänden mit einem leise gesprochenen » Optime, Luca!« einhändigte. Und doch, wenn ein bißchen Eitelkeit – und Eitelkeit ist ja ein so hübscher Fehler – je verzeihlich ist, so war sie es sicher in seinem Falle. Er war der erste seiner Klasse in einem großen geistlichen Seminar gewesen; die Blicke von fünfhundertsechzig Mitschülern waren ihm in Bewunderung und Eifersucht gefolgt, als er im Triumphe an ihnen vorbeischritt. Er war als Sieger aus einem großen geistigen Kampfe hervorgegangen und empfing von seinem Bischof, der wohl fühlte, daß er selbst und seine ganze Diözese dadurch geehrt wurden, hohes Lob. Sicherlich, das waren Dinge, die auch den trägsten Puls höher schlagen ließen. Und wenn das alles nur der Vorgeschmack einer großen Laufbahn im Dienste der Kirche sein sollte, wenn das Schicksal damit auf ein an Ehren und Auszeichnungen reiches Leben hindeuten wollte, so war dies gewiß ein triftiger Grund für den elastischen Schritt und für die liebenswürdige Herablassung im Benehmen des glücklichen Studenten. Dazu kam, daß seine Bewunderer sich um ihn drängten und selbst seine aus dem Felde geschlagenen Rivalen ihm aufrichtig zu seinem außergewöhnlichen Erfolg gratulierten. Und doch – er war trotz allem bescheiden. Nur etwas Selbstbewußtsein zeigte sein Gang, und die Huldigungen nahm er ruhig entgegen als etwas, das man seiner gebieterischen Stellung schuldete. Nur seine Augen feuchteten sich, wenn er von einem fernen Heim träumte, drunten am Meere, und vom Stolze seiner Mutter, wenn er ihr all die gewonnenen Schätze in den Schoß legen würde, und von seinen Schwestern, wenn sie dem geliebten Bruder aus Freude um den Hals fliegen würden – ach, wer begriffe das nicht?

Laß nur, du bleicher, sanfter Levite, den Sonnenschein und die Rosen und die Liebe der deinen dich umspielen, solange es möglich ist! Gar bald wird die Enttäuschung kommen; der Lorbeer wird dahinwelken und der Sonnenschein zu grauem, aschfarbenem Schatten sich wandeln; das Heim und die Lieben aber wird Zeit und Schicksal dir nehmen! Nur die weite Arena des Lebens wird immer vor dir offen stehen, und jeder neue Triumph sich als neuer Kampf erweisen! Du aber bist dann freundlos und unbeschützt. Wie konntest du nur glauben, daß die ruhige Studierstube die Welt sei und du der Anziehungspunkt aller Augen – und sprichwörtlich in aller Munde? Höre, liebes Kind, denn ein Kind bist du! Die weite Welt hat noch nie von dir vernommen, kennt nicht einmal deinen Namen; die Presse schweigt über dich, und nicht einmal die Priester deiner Diözese wissen etwas von deinem Dasein. Du aber glaubst es nicht. Du bist ja der erste Preisträger deiner Klasse gewesen, und das Universum liegt dir zu Füßen.

* * *

Der erste Stoß kam. Es war an der Broadstone-Endstation der großen Zentralbahn. Ein junger, urwüchsiger Packträger war so roh und unwissend, daß er vor dem jungen Priester seine Mütze nur lupfte, als dieser vom Wagen sprang.

»Nun, was machst du denn?« fragte ihn ein älterer Kamerad.

»Ach was, das sind doch nur Alumnen. Die werden vor einem oder zwei Jahren nicht ausgeweiht.«

Der Packträger wußte nichts von Lukas Delmege und seinem ersten Preis.

Lukas durchflog eilig alle Zeitungen des Restaurants, wo er bescheiden eine Tasse Kaffee trank. Da las er Neuigkeiten von allen Ecken und Enden der Welt – von einem Erdbeben in Japan, einer Revolution in Argentinien, einer Szene in der französischen Deputiertenkammer, ein paar Reden im Hause der Gemeinen, anderthalb Seiten Sportnachrichten, eine ganze Seite über einen Windhund namens Ben Bow, ein Interview mit einem berühmten Jockey, einen Artikel über einen bekannten österreichischen Minister, riesige Börsenberichte, viel Schmutz und Verbrechen an den Gerichtshöfen, eine ganze Zeile über einen großen Philosophen, der am Sterben lag, und – ist es möglich? – keine einzige Zeile, nicht ein Wort über den Triumph gestern in der Akademie! Der Name Lukas Delmege, des ersten Preisträgers, war nirgends zu erblicken.

Sollte er vielleicht sein Bild im Auslagekasten eines Photographen finden? Ach nein! Da sah man zwar lächelnde Schauspielerinnen, Kinder in allen Posen und mit jedem Ausdruck, Lieblingsmöpse, schmutzige Viecher aller Art, mit Haarbüscheln an ihren Schwänzen, Modeschönheiten, Portias, Imogens und Cordelias; aber wo blieb der große Geistesriese von gestern?

Und die Dienstmänner machten gar keinen Unterschied zwischen ihm und seinen Kollegen, als er südwärts heimeilte. Ein paar Schulmädchen starrten ihn an und gingen ihres Weges; Kaufleute blickten auf ihn und vergruben sich dann wieder in ihre Zeitungen; ein paar Priester fragten frohgelaunt:

»Geht's heim für die Feiertage, junge Leute?«

Aber Lukas Delmege war nur ein Atom unter Millionen und erregte nicht mehr Beachtung als die andern.

Er konnte das nicht verstehen. Er hatte stets geglaubt und gemeint, daß seine Schule die Nabe des Weltalls sei, und daß ihre Preisträger, von einer Lichtaureole umflossen, in die ungelehrte Welt hinausträten. War ein Preis in seinem Kolleg nicht gleichbedeutend mit einem Universitätsgrad? Und sagte man nicht, er werfe ein strahlendes Licht über die ganze zukünftige Laufbahn des Gewinners, wie düster sich diese auch sonst gestalten möge? Hatte er nicht von Männern gehört, die ihre Arme in den Schoß legten und auf ihren Lorbeeren ausruhten ihr ganzes übriges Leben lang, und die doch für die Triumphe ihrer Knabenzeit bis in ihr höchstes Alter hinein geehrt und geachtet waren? Und hier, in der Morgenröte seines Erfolges, war er nur ein Student unter Studenten; und selbst diese ließen in ihrer Verehrung nach, als sie sahen, wie die Welt so achtlos und gleichgültig war. Er begriff das nicht; es quälte und verwirrte ihn.

Nun, schließlich kam er ja nach Hause; da war Verehrung, und da war Liebe. Wirklich! Die Nachricht war vor ihm hingedrungen. Der größte Geistesriese des größten Kollegs in der Welt kam heim; und er war der ihrige und eines ihrer Lieben. Es tröstete und entschädigte ihn fast für all die Gleichgültigkeit und Vernachlässigung, als er beim Eintritt unter das niedrige Dach seines Vaterhauses, wo er die besten Lehren seines Lebens in sich aufgenommen, die ganze Familie auf den Knien fand. Da war sein betagter Vater. Er legte seine neugeweihten Hände auf das graue Haupt und sprach den Segen. Dann streckte er sie zum Kusse hin, und die rauhen Lippen bissen sie fast in der Glut der Liebe und Zuneigung. Der alte Mann erhob sich und ging hinaus, da er zu voll von Freude war, um sprechen zu können. Und der junge Priester segnete seine Mutter; und sie küßte seine Hände, von denen sie jede Linie kannte. Er aber beugte sich nieder und küßte ihr gefurchtes Antlitz. Dann segnete er seine Brüder und legte seine Hände auf die sanften Stirnen seiner Schwestern. Ehrfurchtsvoll berührten sie seine Hände mit ihren zarten Lippen; und dann vergaß Margaret, die jüngste, alles außer ihrer großen Liebe zu ihm, schlang ihre Arme um seinen Nacken und küßte ihn leidenschaftlich, wobei sie weinte und schluchzte: »O Lukas, Lukas!« Ja, das war wert, daß man darum arbeitete! Dann holte man den großen Koffer herein, schloß die vielen Schätze auf, nahm sie heraus, ließ sie ehrerbietig von Hand zu Hand gehen und stellte sie auf die paar Bretter, die von einem ländlichen Zimmermann in den Alkoven seines Schlafzimmers genagelt worden waren. Da blinkten und blitzten sie in all dem Glanz ihres Kalbleders und ihres Goldschnitts, und Peggy weigerte sich, sie abzustauben oder sie auch nur im geringsten zu berühren; denn wie konnte sie wissen, was in ihnen enthalten war? Sie sind eines Priesters Bücher, und da ist's am besten, wenn man nichts mit ihnen zu tun hat. Die Priester sind ja die Gesalbten des Herrn. Je weniger wir ihnen zu sagen haben, desto besser! Nur ein paar besonders begünstigte Nachbarn durften hereinkommen, diese Trophäen anstaunen und den Weihrauch ihres Lobes vor dem Altar dieses Familienheiligtums ausstreuen und dabei in ihrem Innern überlegen, ob je einer ihrer kleinen flachshaarigen Burschen zu diesen unerreichbaren Höhen gelangen würde.

Der betagte Kaplan, der Lukas die erste heilige Kommunion gereicht hatte, trat später ein.

»Nun, Lukas, alter Bursche, hast jetzt endlich den Melchisedech angezogen? Wie geht's dir denn? Mann, siehst du verwaschen aus und so dünn wie eine Latte, wie Moll Brien sagte, als ihr Sohn aus dem Zuchthaus kam. Ein paar Pürschtage auf den Bergen werden dir wieder neues Leben eingießen. Rotbrust und Rabe, die zwei Hunde, sind in bester Verfassung, und seit der großen Jagdpartie im Mai ist das Gebirge nicht mehr abgejagt worden. O diese Bücher! Diese Bücher! Lukas' Preise sagt ihr, Frau? Vampire sind sie, Frau, die das gute Blut aus seinen Adern saugen. Gott sei Dank, daß ich mich nie viel mit ihnen abgequält habe! Da sind sie, natürlich: Cambrensis Eversus! Ich glaubte wahrhaftig, der Bursche wäre schon längst begraben. Ja, zu meiner Zeit, vor dreißig Jahren, Frau – wie die Zeit vergeht –, da war dies Buch vergriffen. Und hier taucht der Bursche wieder auf, so schmuck wie je. Richtig von den Toten wieder auferstanden! Nun, das ist ja schließlich gleich. Niemand hat ihn je gelesen, noch wird ihn je lesen. O'Kanes Liturgik! Ein gutes Buch. Der arme Jimmy! Die beste Seele auf der Welt! Hurra! Murrays Kirche! Armer – alter – Paddy! Du Faß der Gottesgelahrtheit! Crolly de Contractibus …«

Hier ging ein schrecklicher Schauer durch die stämmige Gestalt.

»Armer Lukas! Hoffentlich hast du nun genug an diesen Gesellen! Komme morgen zu Tisch zu uns! Nur Vater Tim und der eine oder andere der Nachbarn wird da sein. Was –«

»Ich habe beim Kanonikus noch nicht vorgesprochen,« sagte Lukas schüchtern.

»Macht nichts! Ich würde überhaupt nichts nach dem fragen. Du kannst ihn ja morgen besuchen. Aber nicht zu früh, gelt! Zwischen vier und sechs Uhr. Du bist dann noch zeitig genug daran für das, was er Fünfuhr-Tee nennt. Laß sehen! Ich will sagen halb fünf Uhr, daß du noch eine Entschuldigung hast, um wegzukommen. Sag aber nicht, daß du bei mir speisest; er würde es dir nie vergeben. Alles, nur das nicht!«

Er verfiel in nachdenkliches Sinnen. Unangenehme Erinnerungen waren wachgerufen worden.

»Was ich noch sagen wollte, wie steht's mit der Primiz?« rief er, wieder zu sich kommend.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie so gütig sein wollten, mir dabei zu assistieren, Vater Pat,« sagte Lukas.

»Natürlich, natürlich, mein Junge,« erwiderte der Geistliche, »obgleich du sehr wenig Assistenz brauchen wirst, wie ich denke.«

»Wenn ich nur meine erste Messe hier unter meines Vaters Dach lesen könnte,« meinte schüchtern der junge Priester.

»Versteht sich, versteht sich,« entgegnete der Kurat. »Doch laß mich mal sehen. Es ist gegen die Vorschrift natürlich, ohne des Bischofs Erlaubnis. Ich weiß nicht – aber wir werden bei dieser Gelegenheit auch ohne Vorschrift auskommen. Wirst du lange brauchen?«

»Eine halbe Stunde ungefähr, denke ich!« sagte Lukas.

»Ja, es wird lange dauern, Hochwürden, bis Lukas so gut Messe lesen kann, wie Sie!« fiel da Frau Delmege ein. »Das ist wahr, Sie lassen uns nicht lange warten.«

»Gewiß nicht; warum auch? Meint ihr, ihr müßtet Kamelskniee bekommen, wie die armen alten Heiligen drüben in Aegypten?«

»Mike sagte, da helfe alles nichts, wenn man mit Ew. Hochwürden Schritt halten wolle. Und Sie haben doch das Latein, und ich glaube, da gibt's sehr harte Wörter im Latein, und wir haben das Englische. Aber Sie schlagen uns vollständig.«

»Schaut da selber zu, wie ihr zurecht kommt!« meinte Vater Pat und schaute bewundernd um sich.

»Denn das letzte mal, als er mit der Butter nach Cork ging, kaufte er das netteste kleine Gebetbuch, das ihr je gesehen. Es war nur 'nen halben Finger lang, und der Druck war doch recht fett. ›Ich hab' ihn jetzt‹, sagte er, ›und es muß sonderbar zugehen, wenn ich ihn nicht hinter mir lasse‹. Jawohl, Hochwürden, und als Sie beim De profundis waren, kam er kaum zum Paternoster.«

»Gelt, da könnt Ihr sehen, Frau, was die Uebung macht. Aber ich bringe es wieder herein bei der Predigt, nicht wahr?« schloß er mit einem Lächeln.

»Ja, das tun Sie!« erwiderte Frau Delmege, »'s ist nicht viel, aber was Sie sagen, das kommt von Herzen.«

»Da hör', Lukas, das ist eine Lehre für dich. Schau scharf zu, alter Bursche! Doch ich vergaß, du gehst ja ins Ausland. Glücklicher Kerl! Nur in Irland sind die kräftigen Püffe Mode. Also, vergiß nicht auf morgen! Halb fünf Uhr, keinen Augenblick später! Ich bin ein Muster von Pünktlichkeit. Guten Tag, Frau! Aber, beim Himmel! Ich vergaß; gib uns deinen Segen, mein armer Junge! Ist da nicht eine Art Ablaß damit verbunden?«

Er beugte andächtig sein Haupt, während er am Boden kniete und den Segen empfing.

»So, das wird mir auf jeden Fall gut tun, und das brauche ich.«

»Der beste arme Priester in ganz Irland!« sagte Frau Delmege und wischte ihre Augen, als der Kaplan den schmalen Fußweg dahinschritt und leicht über den Stiegel sprang.

Doch ob auch Lukas der Mutter liebe Worte wiederholte, tief drinnen in seinem Herzen war irgendwo ein Mißklang. Was war es? Dieser Ausdruck: »den Melchisedech angezogen«? Das war aber doch nur eine hübsche gebräuchliche Umgangsphrase, die keine Mißachtung bedeutete. Dann, wie stand es mit dem Messelesen in einem Privathaus ohne bischöfliche Erlaubnis? Wie weit verpflichtete diese Vorschrift? War es sub gravi? Lukas schauderte beim bloßen Gedanken, unter solchen Umständen seine Primiz zu feiern. Diesen Abend noch wollte er dem Kaplan schreiben und die Feier bis Sonntag verschieben. Natürlich gab es eine Epikeia, aber er war – verwirrt. Dann diese fürchterliche Eile beim Zelebrieren! Das Volk nahm es wahr und hielt sich darüber auf. Und doch liebten sie es trotz allem; und gab es nicht auch irgendwo eine kirchliche Vorschrift, die besagte, die Leute nicht warten zu lassen? Wer war er denn eigentlich, daß er über seinen Vorgesetzten richten wollte – über einen Mann, der schon dreißig Jahre in der Seelsorge stand? Dann dämmerte es in seinem verwirrten Hirne auf, daß Vater Casey nicht ein einziges Mal auf die hohen Ehren angespielt hatte, die dem glücklichen Studenten in seiner Lehranstalt zuteil geworden waren. Er hatte mit ihm gerade gesprochen, wie mit einem gewöhnlichen Studenten auch, zwar herzlich, aber ohne alle Bewunderung. Hatte er nichts gehört? Natürlich wußte er es. Und doch, nie eine Anspielung auf den ersten Preis, nicht einmal in Gegenwart der Mutter! Was war das? Vergeßlichkeit? Nein. Er hatte ja die Preisbücher gesehen und sich nichts aus ihnen gemacht. Wäre es möglich, daß er trotz allem in einem Narrenparadies gelebt hatte und daß die große Welt sich nichts aus diesen akademischen Triumphen machte, die mit so fürchterlichem Aufwand von Fleiß erstrebt und gewonnen wurden? Der Gedanke war zu schrecklich. Der Kanonikus wird da wohl anders denken. Er ist ein sehr gelehrter und gebildeter Mann. Sicherlich wird er eine solche Auszeichnung und diese akademischen Erfolge würdigen. Und der arme Lukas fühlte sich gereizt, geärgert, elend und niedergeschlagen. Das war alles so gar nicht das, wie er es sich gedacht hatte. Er hatte nicht gelesen: »Denn da wird kein Ansehen des Weisen noch des Toren sein in Ewigkeit«.

Am nächsten Tage stattete Lukas seinem Pfarrer einen formellen Besuch ab. Er hatte eine alteingewurzelte Furcht vor dem Pfarrhaus; seine Nerven zitterten und bebten, als er das Tor öffnete, über den gutgepflegten Rasenplatz wegschritt und mit dem höflichen Klopfen anpochte, das für seinen Geschmack dennoch viel zu laut war. Das war ein Gefühl, das er schon als Kind gehabt und das mit den Jahren nur stärker geworden war. Und als Lukas um vier Uhr über den Rasen hinschritt, da wünschte er von Herzen, der Besuch möchte schon vorüber sein. Er hatte sich oft bemüht, in seinen freien Augenblicken im Kolleg, dieses Gefühl zu zergliedern, aber ohne Erfolg. Er hatte oft, da er solche Fortschritte im Studium machte, ein gewisses Selbstvertrauen in sich aufkeimen gefühlt und gesucht, der jährlichen Feuerprobe mit kühler Ruhe zu begegnen. Aber es war umsonst; wenn die Haushälterin auf sein Pochen erschien und ihm sagte, der Kanonikus befinde sich in seiner Bibliothek, da fiel ihm sein Herz in die Schuhe, und nervös aufgeregt betrat er den Salon. Das war unvernünftig und dumm! Aber ach, es war eines der vielen Rätsel seines Innern und der Außenwelt, an deren Lösung er fortwährend arbeitete.

Der Kanonikus war ein Mann in vorgerückten Jahren, dessen Leben makellos und dessen Manieren ruhig und höflich waren; ein Mann, der sehr viel für wohltätige Zwecke tat, und als Priester eine Zierde der Kirche war. Und doch schreckten die Leute vor ihm zurück. Wie ein Eisberg, den der Golfstrom losgelöst, verbreitete er überall, wohin er kam, eine Atmosphäre eisiger Kälte um sich her, die ihn fast ganz von seinen Mitmenschen absonderte. Er war eben ein Formenmensch, über den man nicht einmal lachen konnte; ein in sich abgeschlossener, einheitlicher Charakter, an dem kein Makel zu finden war. Er war der arbiter elegantiarum des ganzen Bistums und ein gestrenger Kritiker auch des kleinsten Verstoßes gegen die Gesetze der Höflichkeit und des guten Tones. Wenn er nur wenigstens zum Lachen gewesen wäre, das hätte ihn gerettet! Wenn die Leute sich über ihn hätten lustig machen können, hätten sie ihn auch geliebt. Aber nein! Stattlich, würdig und eisigkalt wie er war, konnte es niemand einfallen, einen solchen Mann zu bespötteln. Und so schwebte er stets in den Wolken, hoch erhaben über das kleinliche Getriebe der Welt.

Lukas saß schüchtern in einem hübschen Armstuhl, dessen Holzwerk mit Perlmutter eingelegt war. Er hätte sich wohlig in die Tiefen dieses bequemen Sessels versenken mögen; aber er dachte, das sei zu familiär. Wie oft entsann er sich noch später dieser seiner Nervosität und Scheu, wenn ein junger Student bei ihm vorsprach, sich nachlässig auf ein Sofa warf und in aller Gemütsruhe ein Bein über das andere schlug! Was war nun besser: seine Scheu und tiefgewurzelte Ehrfurcht vor allem, was Autorität, Alter und Würde bedeutete, oder die etwaige Pietätlosigkeit späterer Jahre? Auch das war wieder ein Rätsel für ihn.

Lukas sah auf. Seine Blicke fielen auf das Bildnis einer schönen Frau; es war ein hübsches, längliches Gesicht, mit einem Ausdruck unsäglicher Trauer darin. Es zog ihn sofort an, ja es faszinierte ihn. Es war eine der zahllosen Kopien des Bildes der Cenci, wie sie die Künstler dritten Ranges in Rom fabrizieren. Der Kanonikus hielt sie aber für das Original. Als Lukas das später erfuhr und den Glauben des Kanonikus an das Bild erschüttern wollte, vergab ihm dieser es nie, wie so manches andere auch. Aber jetzt wandte er seine Blicke rasch von dem herrlichen Bilde weg. Er war noch in der erhabenen Stimmung der eben erhaltenen Priesterweihe. Es war gewiß nicht recht, so ein Frauenbild zu betrachten. Es war Sünde. Und seine Augen weilten auf einem glorreichen Bilde der Gottesmutter, das über dem Kaminsims am Ehrenplatz hing. Lukas kam ganz in Verzückung, als er es näher betrachtete, und jeder Ausdruck seiner Bewunderung war ein Gebet. Da begann plötzlich eine Gruppe künstlicher Vögel in einem Glaskästchen zu singen und zu flattern, und der tiefe Ton eines Gong schlug viertel. Die Türe öffnete sich leise, und der Kanonikus trat ins Zimmer. Er war hochgewachsen und mochte fünfundsechzig Jahre zählen, sah aber noch sehr gut aus. Sein Haar war weiß, aber nicht silbern, sondern flachsweiß. Seine Gestalt umfloß eine Soutane, wie sie Kanoniker tragen. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck einer steten Gemütsruhe, wie sie nur durch Selbstzucht erworben wird.

Sanft klang der Ton seiner Stimme, und als er niedersaß, zog er seinen Rock etwas höher, daß man die Silberschnallen an seinen Schuhen sehen konnte. Ein feines, undefinierbares Aroma entstieg seinen Kleidern. Lukas erkannte es sehr wohl.

Es war eine jener Erinnerungen, die einem von Kindheit an in Gedanken bleiben.

»Nehmen Sie Platz! Es freut mich sehr, Sie zu sehen, Herr Delmege,« begann der Kanonikus.

Wenn er nur wenigstens »Lukas« oder »Vater« Delmege gesagt hätte, Lukas hätte ihn angebetet. Das eisige »Herr« aber machte ihn frieren.

»Danke, Herr Kanonikus,« entgegnete er.

»Wie ich höre, sind Sie ausgeweiht worden? Ja! Das muß ein großer Trost für Ihre – verehrten Eltern sein.«

»Gewiß, sie sind sehr glücklich darüber,« erwiderte Lukas. »Wenn ich so frei sein darf, um eine solch große Vergünstigung zu bitten, so würde es sie doppelt glücklich machen, wenn ich meine Primiz in meinem Vaterhause – – in ihrem Hause feiern könnte.«

»Unmöglich, ganz unmöglich, ich versichere Sie, mein – hm – lieber Herr Delmege. Eine – hm – bischöfliche Vorschrift verbietet das. Der Bischof hat unglücklicherweise – hm – und unüberlegt – darf ich wohl sagen – die Erlaubnis, solche Messen zu lesen, sich selber vorbehalten. Ich bin nicht – hm – ganz sicher, ob dies nicht – hm – eine kanonische Verletzung pfarrlicher – hm – Rechte ist. Doch wir brauchen das hier nicht – hm – zu erörtern. Sie sind ja noch – hm – sehr jung.«

Der Kanonikus schien verletzt, und Lukas schwieg.

»Ich hoffe,« nahm dann der Kanonikus wieder das Wort, »Sie haben im Kolleg gute Fortschritte gemacht.«

Unerhört! Dieser Kanonikus hatte also wirklich noch nichts davon vernommen, daß er der erste Preisträger gewesen! Lukas war verstimmt.

»Ganz gute,« gab er lakonisch zur Antwort. Der Kanonikus bemerkte den Aerger.

»Richtig, nun erinnere ich mich. Ich hörte jemand sagen – ich glaube, es war mein Kaplan –, daß es Ihnen im Kolleg gut ging, wenn ich nicht irre, sogar sehr gut, wie er sagte.«

»Ich habe den ersten Preis in der Theologie, Exegese und im Kirchenrecht, und den zweiten im Hebräischen erhalten,« erwiderte Lukas, den eine solche Gleichgültigkeit ganz aus der Fassung gebracht hatte, »und ich hätte auch den ersten Preis im Hebräischen bekommen –«

»Gütiger Himmel! Ist das aber interessant,« warf der Kanonikus ein, »ist das hochinteressant! Hoffentlich ist es das Vorspiel zu – einer – vielversprechenden Laufbahn in der Kirche!«

»Hoffentlich,« meinte niedergeschlagen Lukas. Ach, man hatte ihm doch gesagt, daß seine Auszeichnung nicht das Vorspiel, sondern der Endpunkt und die höchste Stufe aller irdischen Ehren sei!

»Wenn Sie Ihre Studien fortsetzen,« fuhr der Kanonikus fort, »wie es jeder junge Priester sollte, und wenn Sie sich gesellschaftliche Bildung und feines Auftreten anzueignen trachten, wenn Sie ferner ein – hm – korrektes und – hm – achtbares Leben führen, so können Sie wohl im Laufe der Jahre auf Ehrenstellen und – hm – Einkünfte im Dienste der Kirche Anspruch machen. Sie können es sogar schließlich im Alter – eine untadlige und achtbare Laufbahn vorausgesetzt – hm – so weit bringen, daß Sie ins Domkapitel – hm – Ihrer Mutterdiözese aufgenommen werden.«

»Daran darf ich nie denken, eine solch hohe Würde zu erreichen,« meinte Lukas demütig.

»O gewiß, Sie dürfen, Sie dürfen,« ermunterte der Kanonikus. »Natürlich erst nach langen Jahren und bei ganz untadligem Lebenswandel. Aber das wird alles kommen, ganz gewiß.«

Lukas vermeinte schon, sein Fegefeuer habe begonnen, als die lieben Vögel im Glaskasten wieder ihre Federn schüttelten und zu singen begannen, während der Gong halb schlug.

Da erhob sich der Kanonikus mit den Worten: »Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen, Herr Delmege? Wir sind zwar heute – hm – etwas früh daran, da wir noch eine kleine Wagenfahrt vor dem Diner vorhaben. Nein? Nun, dann guten Tag! Es freut mich sehr, daß Sie mich besucht haben! Guten Tag!«

Lukas schritt leichten Herzens den Kiesweg hinab, froh, so guten Kaufes losgekommen zu sein, als er plötzlich zurückgerufen wurde. Seine Stimmung schlug sofort wieder um.

»Vielleicht wollen Sie uns die Ehre schenken, Sonntag Abend halb sieben bei uns zu speisen, Herr Delmege,« rief liebenswürdig der Kanonikus. »Es ist zwar etwas frühzeitig fürs Diner; aber es sind nur meine Angehörigen da.«

Lukas überlegte rasch jede mögliche Entschuldigung, um der Einladung nicht folgen zu müssen, aber vergeblich!

»Es wird mich sehr freuen,« gab er zurück; »die Zeit sagt mir vollkommen zu.«

O Lukas, Lukas!


 << zurück weiter >>