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I.
Einleitung

Es kam so. Ich gab mich eben wachem Träumen hin und stellte mit mir selbst eine akademische Erörterung darüber an, ob die Nachfrage das Angebot schaffe oder ob das Angebot die Nachfrage hervorrufe – eine schwierige Frage in allen Debattierklubs der Welt. Und ich war ihrer Lösung nur wenig näher gekommen, als sie sich plötzlich in bemerkenswerter und auffallender Weise selber löste. Es schien mir, als ob ich über das dumpfe Rollen und Donnern der riesigen Druckpresse hinaus, weit drüben in einer gewissen Straße New-Yorks, das Wort »Manuskript« in ein Telephon rufen hörte. »Manuskript« tönte es im Zimmer des Geschäftsführers nach, wo zwischen Haufen beschmutzter, feuchter, nach Druckerschwärze riechender Papiere der große Potentat saß. »Manuskript!« schrie er in sein Telephon und fügte etwas hinzu, das wie eine Bitte – aber es war keine – zum Redakteur hinklang, der viele Meilen entfernt war. »Manuskript,« schrie der Redakteur durch sein Telephon zurück – »nein, das ist noch nicht eingetroffen, wird aber die nächsten Tage anlangen.« Und »Manuskript« schrieb er dreitausend englische Meilen über die kalten, weiten Wasserwüsten des atlantischen Ozeans an einen Mann, der auf einem Landsitz in einem ruhevollen Garten in einem Dorfe am Fuße der dunkeln Berge wohnte, welche die Grafschaft Kork von Limerik trennen und zu dessen Füßen Spensers »liebliche Mulla« vorbeifloß. Und das Wort »Manuskript« legte die akademische Erörterung für immer bei. Der mächtige moderne Minotaurus, Presse genannt, muß seine Sättigung finden, zwar nicht mit hübschen arkadischen Jünglingen und schönen athenischen Jungfrauen, sondern mit Gedanken, die dem Gehirn Sterblicher entsprungen sind, und Träumen, die ihre schönen, unregelmäßigen Formen durchs halberhellte Reich der Phantasie zeichnen.

Diese Tatsache ist es, die Schriftsteller unehrerbietig und skrupellos macht. Sagte man nicht von Balzac, er grabe und ziehe jeden seiner Romane mitten aus dem Herzen eines Weibes? »Die Wahrheit ist seltsamer als die Dichtung.« Nein, mein lieber Freund, denn alle Dichtung ist Wahrheit – Wahrheit, die man mit den Wurzeln aus blutenden Menschenherzen gerissen und sorgfältig mit Wortbändern umbunden hat, um sie so in ihren grünen oder roten Vasen auf euren Schreibtisch oder euren Frühstückstisch zu legen. Ist das nicht schrecklich? Gewiß. Und unehrerbietig? Auch das ein wenig. Aber du, mein lieber Freund, und alle die anderen, wollt nichts anderes haben. » Nil humani a me alienum puto«, sagte einst der lateinische Dichter. Wir sind noch einen Schritt weiter gegangen, wir wollen nichts haben, das nicht menschlich ist. Die Bühne mag noch so prachtvoll sein, die Szenerie von einer Meisterhand gezeichnet, das elektrische Licht sanft, leicht, durchdringend, das Orchester tadellos vom Baß bis zur ersten Geige, das Publikum starrt und gähnt und ist ungeduldig. Es fehlt etwas, plötzlich ist es da, und wir alle bekommen Leben. Man nimmt die Operngläser vor, und Männlein wie Weiblein halten ihren Atem an, damit ihnen auch die geringste Kleinigkeit nicht entgehe. Und doch ist nirgends der mächtige Beweger zu sehen. Aller Augen sind geheftet auf was? – Auf ein kleines Kind vielleicht, einen Clown, eine italienische Schäferin, einen Banditen, einen Narren – ganz gleichgültig, aber es ist eine menschliche Gestalt, und Bühne, Ausstattung, Beleuchtung, Blumen und Musik sind ihr dienstbar und gehorsam. Und so sagte auch ich, als es Manuskript! Manuskript!! Manuskript!!! wie eine ungeduldige elektrische Klingel in meine Ohren gellte. Ich muß mir irgendwo ein Vorbild suchen. Schau in dein inneres Bewußtsein, rief eine Stimme, vergeblich! Es gleicht einer tabula rasa, von der alles Interesse schon längst weggewischt wurde. Rufe dir deine Erfahrungen ins Gedächtnis zurück! Aber ach! Erfahrungen gleichen alten Photographien. Sicherlich war dieser elegante Herr, der die Mode der sechziger Jahre trägt, einmal anziehend und interessant genug. Aber leider ist er jetzt eine Vogelscheuche. So geht es auch mit den Erfahrungen. Sie erschüttern und brennen und bohren, werden aber dann zu Gespenstern, die nur noch für die Dachstube oder die Rumpelkammer taugen. Nein! Nimm ein lebendes, atmendes, menschliches Wesen und zerschneide es! Mache alle seine Gedanken, Träume, Empfindungen und Erfahrungen ausfindig! Belauere es wachend und schlafend, wie der alte Roger Chillingsworth Arthur Dimmesdale belauerte in dem schrecklichen Drama Hawthornes. Dann hast du zuckendes und lebendiges Fleisch und Blut, und die Welt ist zufrieden gestellt.

Das Schicksal, oder die Schicksalsgöttinnen, die immer gütig sind, warfen mir damals, gerade, als meine Einbildungskraft schwach war und die elektrische Glocke immer ungeduldiger wurde, einen solchen Stoff in den Weg. Ich wußte, daß er eine Geschichte hinter sich hatte. Eine Eingebung sagte es mir. Antwortete nicht Kardinal Manning, als man ihn bat, seine großen Kollegen Wiseman und Newman nachzuahmen und einen Roman zu schreiben, daß jeder Mensch den Stoff wenigstens eines Romanes mit sich herumtrage?

Das Schicksal hatte mich auf einen Mann stoßen lassen, der mein höchstes Interesse wachrief. Die Leute konnten aus ihm nicht klug werden und nannten ihn einen Mystiker und einen Sonderling. Ein Mystiker war er – oder galt wenigstens als solcher –, weil er einmal in der Torheit seiner Jugend etwas über Plato geschrieben hatte; einen Sonderling hieß man ihn, weil er sein Haar von der Stirn gerade zurückbürstete und lang auf seinen Nacken herunterhängen ließ; und kaum einer seiner geistlichen Mitbrüder hatte je in sein inneres Heiligtum schauen dürfen oder die Kruste eines höflichen Benehmens durchbrechen können, das immer verbindlich liebenswürdig und ruhig war, das aber eine unsichtbare Grenzlinie zwischen ihm und jedem andern zog und allen Zudringlichen bedeutete: »Bis hierher und nicht weiter!« Einige dachten, er mache zu viel Wesens aus sich und sei eingebildet; der eine oder andere derbe Kollege nannte ihn wohl auch, wie Carlyle einst Herbert Spencer, einen »entsetzlichen –«; er aber ließ sich dadurch nicht stören, sondern blickte stets ruhig auf, diesen aufgewühlten, stürmischen Ozean des Menschenlebens aus der ruhigen Zurückgezogenheit eines bescheidenen Heims und der noch tieferen und abgeschlosseneren Zurückgezogenheit einer ruhigen, gedankenreichen Seele.

Wie alle gewissenhaften Interviewer, machte ich ein paar verzweifelte Versuche, in sein Geheimnis einzudringen und es zu entschleiern, aber stets wurde ich abgewiesen. Ueber den Eingang zum Tempel drang ich nie vor, wenn ich auch noch so laut hustete und ehrfurchtsvoll meine Schuhe auszog. Das Heiligtum selber blieb mir verschlossen. Eines Tages jedoch hörte er, ich hätte jemand einen guten Dienst geleistet. Da verschwand das in dem Blick seiner Augen, was mir immer sagte: Du bist schon ein recht unverschämter Kamerad! Die Außenwerke waren also genommen. Ich schrieb ihm hierauf einen unterwürfigen Brief über so ein altes Fossil namens Maximus Tyrius. Zu meiner Ueberraschung erhielt ich vier Folioseiten über den vierten Satz: » Quomodo ab adulatore amicus distingui possit« zurück.

Bald darauf, an einem Winterabend, fuhr ich in der Dunkelheit von der Eisenbahnstation heim, als ich plötzlich merkte, daß aus der Ferne Warnungsrufe erschollen und der Weg versperrt war. So war es auch – leider. Mein geheimnisvoller Freund versuchte vergeblich, das Zuggeschirr seines gefallenen Gaules abzuschneiden, während der Wagen zerbrochen in den Straßengraben hinunterhing.

»Ein böser Sturz?« schrie ich.

»Jawohl!« entgegnete er lakonisch.

»Ist der Krug gebrochen?« fragte ich.

»Ich bitte um Entschuldigung,« gab er steif zurück. Da wußte ich, daß er das Sprichwort nicht kannte.

»Verzeihen Sie,« fuhr er fort, »ich verstehe Ihre Anspielungen nicht recht.«

»Macht nichts,« erwiderte ich mit all der Geringschätzung eines Professionisten für einen Amateur, als ich sah, wie er, mit einem hübschen, perlmuttereingelegten Federmesser in der linken Hand, das schöne, neue Geschirr zerschneiden wollte. »Warum ruinieren Sie auch noch das Geschirr, nachdem der Wagen schon in Trümmer gegangen ist?«

»Ich dachte, das wäre das richtige,« murmelte er.

Ich aber sagte zu mir selber: Er ist wirklich ein entsetzlicher –.

»Hierher, Jem!« schrie ich meinem Burschen zu. Der sprang herbei, und während ich den Kopf des Pferdes hochhob, gab er ihm einen derben Stoß. Es stand im Nu auf seinen Füßen.

»Wo haben Sie denn Ihren Burschen?« fragte ich dann.

»Ich weiß nicht,« gab er verwundert zurück.

Wir fanden ihn bald, sicher und heil – und gemütlich an eine Hecke gelehnt schlafen.

»Kommen Sie jetzt,« befahl ich dann, denn ich hatte mir stillschweigend das Recht angemaßt, auf Grund meiner überlegenen Kenntnis hier zu befehlen, » montez! Sie müssen mit mir gehen!«

»Unmöglich! Ich muß heute noch heimkommen.«

»Sehr gut! Glauben Sie etwa, Sie kämen in Ihrem zerbrochenen Wagen leichter und rascher heim als in meinem? Doch was sehe ich da? Sind Sie linkshändig?«

»Nein, aber mein rechter Arm ist ein wenig verletzt, nur ein bißchen.«

Ich war so frei, seine Hand zu fassen. Es war eine kleine, sanfte, weiße Hand. Hilflos fiel sie wieder zurück. Zugleich bemerkte ich, daß sein Gesicht totenblaß war. Das bewies, daß er sich vollständig in der Gewalt hatte.

»Ist der Krug – ich wollte sagen der Arm – gebrochen?« fragte er lächelnd.

Da wußte ich, daß er auch ein menschliches Herz in der Brust trug. Dieser Funke von Witz, während er qualvolle Schmerzen litt, sprach Bände von Lebenserfahrung. Ich half ihm auf den Sitz hinauf und fuhr ihn wortlos vor seine Wohnung.

Der Arzt konstatierte einen komplizierten Ellbogenbruch. Es war eine schlimme Geschichte, und das Beseitigen der Knochensplitter erforderte allein sechs Wochen. Ich erbot mich, jeden Sonntag für ihn Messe zu lesen, während ein liebenswürdiger Nachbar meine eigene Stelle versah. Und so gelang es mir, die Schranken kühlen Stolzes und kalter Zurückhaltung niederzureißen und in das Innere seines Hauses, wie seines Herzens, einen Blick zu tun.

Das Haus war einfach, ja fast ärmlich; das Herz aber reich zum Ueberströmen. Vier Wände, vom Boden bis zur Decke voller Bücher, ein glänzend gewichster Boden, ein kleiner indischer Teppich und ein Schreibtisch mit Stuhl – das war alles. Aber auf dem marmornen Kaminsims standen einige kostbare indische Vasen, außerdem zwei schlangenartig gewundene Leuchter. Sein Schreibtisch war von Ebenholz, dessen feiner Duft sich dem Gemache mitteilte. In einer Ecke, wo das Licht von Norden hereinfiel, stand eine Staffelei; daran lehnte eine Malerpalette, und darauf stand ein halbvollendetes Oelgemälde – eine jener träumerischen Meeresstimmungen, in denen das flüchtige Rot der untergehenden Sonne ins purpurne übergeht und des schlummernden Meeres kräuselnde Wellen von Gold und Silber erglänzen. Ein großer Dreimaster, dessen Takelwerk sich wie das Gerüst eines luftigen Hauses gegen den Himmel abhob, segelte hinaus ins Unbekannte. Ein Bild des ewigen Rätsels von Zukunft und Schicksal.

Ich wollte meine kostbare Zeit nicht verlieren. Daher steuerte ich schon am ersten Sonntag Abend, an dem wir zusammen speisten, auf mein Ziel los.

»Ich bin ein Geschichtenschreiber,« begann ich, »und Sie haben mir eine solche zu erzählen. Sagen Sie nicht nein« – er wehrte mit seiner linken Hand schwach ab – »Sie haben viel, sehr viel vom menschlichen Leben gesehen, empfunden und erlebt; und ich muß Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, daß Sie Ihrem Entschluß, sich von Ihresgleichen – das heißt von Ihren geistlichen Mitbrüdern – zurückzuziehen und abzusondern, in edler Weise treu geblieben sind. Da sind also alle Erfordernisse zu einem erstklassigen Roman –«

»Aber ich habe noch nie auch nur die harmloseste Backfischgeschichte geschrieben. Ich zweifle überhaupt, ob ich Erzählertalent besitze.«

»Ueberlassen Sie das nur getrost mir! Geben Sie mir lediglich nackte Tatsachen und Erfahrungen, und selbst Worth ersann noch nie solche Phantasiekostüme, wie ich solche für sie erfinden will.«

»Warum suchen Sie denn keinen interessanteren Stoff? Da habe ich zum Beispiel ein wunderbares Buch, welches das ewige Sprichwort bestätigt: Die menschliche Natur ist immer dieselbe auf der ganzen, weiten Welt. Sie glaubten wohl, die anglikanischen Geistlichen seien durch ihre Universitätserziehung und bessere gesellschaftliche Bildung zu solch vollkommenen Wesen umgemodelt worden, daß sie zu keinen Exzentrizitäten mehr fähig wären?«

»Lassen Sie mich aufrichtig sein und Ihnen sagen, daß es allerdings meine Ueberzeugung ist, sie seien in bezug auf gesellschaftlichen Schliff und das Abwägen und Abmessen der täglichen sozialen Umgebungen über jedes Lob erhaben. Haben Sie denn da irgendwie Absonderlichkeiten oder Seltsamkeiten entdeckt?«

»Was sagen Sie zu folgendem? Ein lieber, alter Pfarrherr muß seine Pfarrei wegen seines Kaplans Weib resignieren, vor der er besagten Kaplan, als dieser noch Junggeselle war, törichterweise gewarnt hatte. Sie stellte sich, als ob sie ihn für einen vorsintflutlichen Menschen halte, und redete mit der süßen Einfalt eines Kindes bei Tennispartien und beim five o'clock-Tee zu ihm; dann entdeckte sie, daß er einmal eine erborgte Predigt gehalten hatte, und zankte ihn wegen seines Mißgriffs seither immer öffentlich aus: ›O, Sie lieber, alter Schlauberger, warum bieten Sie uns so oft elende und wertlose Predigten, wo Sie doch so schön predigen können?‹«

»Da schau mal her!« rief ich. »Das ist ja die reinste Fundgrube! Haben Sie noch mehr solcher Diamanten?«

»Nicht mehr viel. Die Mine ist verschüttet. Aber was halten Sie von dem guten Pfarrer, der durch eine Zeitungsanzeige einen verheirateten, aber kinderlosen Kaplan suchte, um seinen Posten zu versehen, während er in Nizza seine Ferien zubringen wollte?«

»Bekam er denn einen?«

»Gewiß. Aber die Frau war eine Hundenärrin und brachte vierzehn gescheckte Bulldoggen mit. Das Pfarrhaus mit seiner Umgebung war drei Monate lang eine Wüste. Kein Lebewesen, weder Postbote, noch Metzger, noch Bäckerjunge, wagte das Hoftor zu überschreiten. Gelegentlich gab es dann einen großen Aufruhr in der Menagerie, den nur die Herrin allein wieder unterdrücken konnte.«

»Und womit?«

»Können Sie es nicht erraten?«

»Ich gebe es auf, wie Mr. Johnston.«

»Nun, mit einem rotglühenden Eisen, das sie zu diesem Zwecke immer im Küchenfeuer behielt.«

»Etwas drastisch,« bemerkte ich. »wer hätte so etwas im ruhigen, nüchternen England für möglich gehalten? Wirklich wahr, die menschliche Natur ist überall gleich.«

»Was beweist?« forschte er.

Ich schwieg.

»Was beweist,« fuhr er fort, »daß es nichts gibt, das auch nur halb so unsinnig ist, wie allgemeine generalisierende Schlußfolgerungen über Völker und Rassen aus sehr schwachen Prämissen zu ziehen. Die Welt ist voll seltsamer Leute und sonderbarer Charaktere.«

Da wußte ich denn, daß er aus sich herausgehen würde. Und so war es auch. Der arme Mann! Nach ein paar Tagen mußte er sich legen, denn die Schmerzen waren heftig und das Wetter regnerisch. Ich zweifelte, ob unser Dorfarzt die gefährliche Wunde richtig behandeln könne, und schlug ein paarmal vor, eine Zelebrität aus der Stadt zu rufen. Der Arzt war damit auch einverstanden, und ich sah, wie bekümmert seine Miene war. Aber mein armer Freund lehnte ab.

»Es wird schon recht sein,« meinte er, »und schließlich ist das doch eine recht beschwerliche Welt. Ach, schlafen und Ruhe haben für immer! Nichts wissen vom Aufstehen und Schlafengehen, von den Bedürfnissen unseres armseligen Leibes, der Speise, Trank und Kleidung bedarf! Frei sein von den ewigen Plagen der Menschen, von ihrer Eitelkeit, ihrer Torheit und ihrer Anmaßung! Selbst im Himmel fürchte ich ihnen zu begegnen. Suchen Sie mich, lieber Freund, um das Wort eines großen Dichters anzuführen, in der ›Kleinkinderstube des Himmels‹!«

Damit gewann er mein ganzes Herz, denn ich sah, daß er ein mühseliges und schmerzgetrübtes Leben gelebt hatte, und Tag für Tag saß ich an seinem Krankenbette, während er, teils als Linderungsmittel gegen seine Schmerzen, teils um mir eine Freude zu machen, sein Leben in allen Einzelheiten durchging. Eines Tages wagte ich dann die Bemerkung, daß sein Lebensgang eine carrière manquée gewesen und er ein enttäuschter und verbitterter Mann sei. Da richtete er sich auf seinem linken Arm auf und blickte mich lange und nachdenklich an. Ein kleiner Flecken hatte sich über dem gebrochenen Gelenk gebildet. Er wies darauf hin.

»Das ist der Vorbote des Todes,« sagte er langsam. »Sie werden meinen letzten Willen im untern Schubfach meines Schreibtisches finden. Ich habe all mein Hab und Gut armen und kranken Kindern vermacht. Aber Sie haben unrecht, ich bin weder versauert, noch enttäuscht oder unglücklich. Mein Herz ist voll des Dankes gegen Gott und die Menschen. Mein Leben ist durchaus nicht unglücklich gewesen. Im Gegenteil, ich habe mehr, als mir zukam, von seinen Segnungen genossen. Aber, mein Freund,« fuhr er ernst fort, »ich bin ein armer, gequälter Mann, der mit sich selbst nie ins Reine gekommen ist. Das Rätsel des Lebens ist immer zu viel für mich gewesen. Sie werden das aus allem erkannt haben, was ich Ihnen erzählte. In der Ewigkeit suche ich die Lösung des schrecklichen Lebensrätsels.«

Er fiel zurück im Uebermaß seiner Schmerzen, und ich vergaß meinen Beruf als Interviewer über dem Mitleid des Freundes. Du lieber Gott! Und diesen Mann nannte die Welt stolz!

»Nun,« tröstete ich, »Sie sind niedergedrückt. Ihr Unfall und das lange Krankenlager haben sich Ihnen auf die Nerven gelegt. Sie müssen mich Dr. S. holen lassen. Ich telegraphiere sonst an den Bischof, und er wird es Ihnen dann unter dem Gehorsam befehlen.«

Er lächelte schwach.

»Hilft nichts mehr; das ist Septichämie. Ich habe wahrscheinlich nur noch achtundvierzig Stunden zu leben. Dann Ruhe! Ruhe! Ruhe! Es ist ein seltsam Ding, des Lebens überdrüssig zu sein, wenn man alles hat, was das Menschenherz begehrt. Ich habe eine hübsche Landpfarrei, einen schönen Wirkungskreis, tadellose Kirchen und Schulen und« – hier lächelte er – »keinen Kaplan. Und doch bin ich müde, müde wie ein Kind nach einem heißen Sommertag, und müde der törichten Laune, das Unversöhnliche versöhnen zu wollen.«

»Ja, warum geben Sie dann dieses Abquälen Ihres Gehirns nicht auf und leben? Nur durch Arbeit und Nichtbeachtung der Rätsel löst man sie. Wir alle würden ja verrückt werden, wenn wir es machten wie Sie.«

»Das ist wahr,« erwiderte er schwach, »nur zu wahr, mein Freund. Aber Gewohnheiten sind eben Tyrannen, wie Sie sehen, und ich habe schlecht begonnen. Ich war noch sehr einfältig und wollte Amt und Handlungsweise, Prinzip und Interesse, das, was sein soll, und das, was ist, zu harmonischer Einheit verschmelzen. Erst spät in meinem Leben entdeckte ich die gänzliche Unmöglichkeit einer solchen Entwicklung. Das Leben war mir ein ›spanisches Dorf‹. Dann, leider zu spät, warf ich alle Rätsel des Lebens beiseite und klammerte mich an den Busen des großen Geheimnisses Gottes und suchte da Ruhe. Aber hinter dem Schleier! hinter dem Schleier! Da nur ist die Lösung.«

Träumerisch starrte er eine lange Weile zur Decke empor.

»Sie wissen,« brach er schließlich das Schweigen, »daß meine Mitbrüder mich nicht liebten. Warum? Hatte ich eine Abneigung gegen sie? Nein! Gott bewahre! Ich liebte alles, was Gott geschaffen. Aber ich war unbefriedigt. Ihre Wege verwirrten mich, und ich schwieg. Nichts war aufrichtig und offen in der Welt, als die Gesichter kleiner Kinder. Gott segne sie! Sie sind eine unmittelbare Offenbarung des Himmels. Wie Sie sehen werden, befindet sich kein einziges modernes Buch in meiner Bibliothek. Warum? Weil die ganze moderne Literatur nichts ist als Lüge! Lüge! Lüge! Und solch eine qualvolle Lüge! Warum wollen denn eigentlich die Romanciers die Bürde der Menschen durch solch qualvolle Analysen menschlichen Charakters und menschlichen Handelns vermehren und erschweren?«

»Nun, nun,« begütigte ich, »Sie sind aber wirklich in einer krankhaften Stimmung. Die Hälfte aller Freuden unseres Lebens fließt uns doch aus den Werken unserer Dichter zu.«

»Das ist ja wahr. Aber warum sind sie stets so qualvoll und unwahr? Glauben Sie, jemand würde einen Roman lesen, der nicht von etwas Qualvollem handelte? Und je qualvoller, desto entzückender! Die Menschen schwelgen darin, Qual zu schaffen und zu fühlen. Das ist auch wieder ein Rätsel.«

Es war so traurig, dieses sanfte, mitleidige Leben sich seinem Ende zuneigen zu sehen, ohne ein Abschiedswort der Hoffnung an die Welt, die es im Begriffe war zu verlassen, daß ich kein Trostwort und kein Geleitwort vorbringen konnte. Das schlug all meinen täglichen Erfahrungen so ins Gesicht, daß ich vor Mitleid und Ueberraschung keine Worte fand.

Dann begann er wieder:

»Und jetzt zum großen Abschluß. Morgen werden Sie frühzeitig herüberkommen und mir die Sterbesakramente spenden. Wenn ich tot bin, so bitte ich, meine armen Ueberreste sofort einsargen zu lassen, denn ich werde schrecklich entstellt sein und rasch verwesen. Und Sie wissen ja, wir dürfen unserm armen Volke nicht den geringsten Anstoß geben. Ich wünsche in meiner kleinen Kirche begraben zu sein, gerade unter der Statue U. L. Frau und in der Nähe des Altares. Da verbrachte ich meine glücklichsten Stunden auf Erden. Und ich kann nur dort in Frieden schlummern, wo ich den Klang des Meßglöckleins höre. Sie glauben wohl, ich sei nicht ganz bei mir? Nein! Ich bin vollständig gesammelt. Ich habe oft mit mir selber gestritten, ob ich nicht lieber außerhalb der Kirchenmauern begraben sein wollte, wo ich die Leute über mein Grab dahinwandeln hörte. Doch nein! Ich habe mich entschlossen, da zu bleiben, wo die Gottesmutter mit ihren mitleidsvollen Augen herniederschauen wird auf den Ort, wo dieser irdische Tabernakel in Staub verweht und wo das Geflüster der Meßgebete darüber hinhauchen wird. Und keinen törichten Grabspruch! ›Hier liegt …‹ und ›Betet für seine Seele!‹ – das genügt!«

Er schwieg wieder eine kleine Weile; dann enthüllte mir dann und wann ein schwacher Schauer den Todeskampf, den er litt.

»Ich ermüde Sie,« begann er wieder, »aber manchmal träume ich davon, daß an den langen Sommerabenden, wenn mein kleiner Dorfchor Probe singt, die Gedanken des einen oder andern Kindes beim Singen herniederschweben zur Begräbnisstätte seines Pfarrers; und vielleicht kommt eine arme Mutter, wenn sie ihren Rosenkranz gebetet hat, auf mein Grab herüber und zeigt dem erstaunten Kleinen auf ihren Armen den Ort, wo der Mann ruht, der die kleinen Kinder so liebte. Wir sind nicht ganz vergessen, wenn es auch so scheint. Das ist ebenfalls ein Rätsel. Ich bin sehr müde.«

Ich stand auf und verließ das Zimmer mit dem Gelübde, diese arme Seele für immer der Ruhe zu überlassen.

Ich erteilte ihm am nächsten Tag die Sterbesakramente, nachdem ich mit dem Arzte gesprochen hatte. Er war sehr niedergeschlagen über die traurige Wendung, welche die Dinge genommen hatten. Er hätte das nicht vorausgeahnt; der Kranke hätte in hospitalärztliche Behandlung gehört; das Wetter sei so schmutzig; er habe auch eine Amputation gefürchtet etc. Keine Hoffnung? Keine! Der Kranke hatte recht.

Und so standen wir denn zwei Tage später, genau wie er vorausgeahnt hatte, um sein Lager herum, um ihm in seinem Todeskampfe beizustehen. Aber selbst in der letzten Stunde verließ ihn sein ständiger Gleichmut nicht. Höflich gegen alle, für jede kleine Mühe um Entschuldigung bittend, besorgt um andere, gespannt dem Augenblick entgegenschauend, der ihm den Schleier lüften sollte, so verbrachte er die letzten Augenblicke seines Daseins. Um sechs Uhr abends, als eben die Aveglocke verklungen war, rief er plötzlich:

»Das ist die Armenseelenglocke, die Scheidungsglocke, nicht wahr?«

»Es ist das Angelusläuten,« erwiderte ich.

»Beten Sie den Angelus mit mir, oder besser, für mich,« flehte er. Dann nach ein paar Minuten: »Es wird ganz dunkel, und mich friert. Was ist das? Ich verstehe nicht –«

Und so schied er hinüber zur Offenbarung.

Eine ungewöhnliche Anzahl von Mitbrüdern versammelte sich zu den Leichenfeierlichkeiten, was wieder sehr auffallend und seltsam war. Er wurde beerdigt, wie er es gewünscht, und sein Andenken entschwindet rasch dem Gedächtnis der Menschen; aber mein schriftstellerischer Instinkt hat meine Hinneigung zu diesem Andenken überwunden, und ich gebe hiermit seine Lebensgeschichte und seine Erfahrungen. Habe ich damit recht gehandelt? Die Zeit wird es weisen.

Ich sollte aber noch einen andern Umstand erwähnen. Zum Begräbnis fanden sich auch zwei greise Priester ein; der eine niedergebeugt von der Jahre Last, während der andere die weiße Bürde seiner Jahre noch aufrecht zur Schau trug. Der erstere fragte mich:

»Sprach Lukas von mir, oder wünschte er mich zu sehen?«

Ich mußte »Nein!« sagen.

Er ging sehr niedergedrückt von dannen.

Der andere rief mich zur Seite und fragte: »Drückte Lukas nie den Wunsch aus, mich zu sehen?«

Der Mann erschreckte mich. Er war aber auch ein seltsames Wesen, – ein tiefer, gründlicher Gelehrter in Disziplinen, die den großen Haufen nicht interessieren. Er war einer von den wenigen, die Lukas gut kannten.

»Jawohl,« entgegnete ich, »des öfteren. Aber er kam immer wieder davon ab und sagte: ›Vater Martin ist alt und schwach. Ich kann ihm die Reise bei diesem Wetter nicht zumuten. Schreiben Sie nicht! Es wird vorübergehen.‹«

»Haben Sie geglaubt, der Unfall sei eine Kleinigkeit, und es bestehe keine Gefahr eines schlimmen Ausgangs?«

Ich hustete ein bißchen und erwiderte ein paar Worte.

»Und haben Sie geglaubt,« fuhr er fort, »der einzige Freund, den er wahrscheinlich auf dieser Welt besaß« – hier brach seine Stimme – »solle von seinem Vertrauen in so einer wichtigen Stunde ausgeschlossen sein?«

»Ich konnte aber nicht anders,« verteidigte ich mich. »Ich tat für ihn alles, was ich konnte. Sie wissen aber selber, wie eigentümlich er war, und Sie wissen auch, wie überempfindlich er alles vermied, was andern Mühe und Aufregung schaffen konnte.«

»Gewiß. Aber als Sie die Gefahr eintreten sahen, hätten Sie seine Freunde herbeirufen sollen. Diese Unterlassung ist etwas, was man schwer vergeben kann. Er hat wohl ein Testament und Aufzeichnungen hinterlassen?«

»Jawohl. Er hat mich damit beauftragt.«

»Haben Sie das Testament schon geöffnet?«

»Noch nicht.«

»Bitte, öffnen Sie es und sehen Sie nach, wer die Testamentsvollstrecker sind!«

Wir öffneten das Schriftstück sofort und fanden, daß mein ungemütlicher Gesprächsnachbar, Hochwürden Martin Hughes, der einzige Vollstrecker war. Er schloß das Dokument sofort wieder und bemerkte kalt:

»Haben Sie jetzt die Güte, mir alle anderen Papiere und vertraulichen Schriftstücke, die meinem toten Freunde gehören, auszuhändigen! Sie brauchen sie jetzt doch wohl nicht mehr –«

»Ich bitte um Entschuldigung,« erwiderte ich. »Der gute Priester, der eben starb, zog mich tief in sein Vertrauen. Sie wissen ja, daß ich sechs Wochen lang keine Stunde von seinem Krankenbette wich. Ich bat ihn um die Erlaubnis, seine Lebensgeschichte erzählen zu dürfen, und er gab mir seine volle Einwilligung, alle seine Briefe, Tagebücher, Notizen und Manuskripte zu diesem Zwecke durchsehen und behalten zu dürfen.«

»Das gibt der Sache allerdings ein anderes Gesicht,« meinte jetzt Vater Hughes. »Ihr Leute von der Feder seid doch die reinsten Grabschänder. Ihr könnt die Toten nicht in Frieden ruhen und ihre Schicksale mit ihnen begraben sein lassen.«

»Aber wenn ein Menschenleben doch eine Lehre in sich schließt?« wagte ich bescheiden einzuwenden.

»Für wen?«

»Für die Ueberlebenden und die Welt.«

»Und was bedeuten denn Ueberlebende und die Welt für den Toten?« fragte er.

Ich schwieg. Es wäre ein taktischer Mißgriff gewesen, den sonderbaren alten Mann zu reizen. Er überlegte lange.

»Nur mit größtem Wiederstreben,« sagte er endlich, »kann ich daran denken, dazu meine Zustimmung zu erteilen. Mir ist nichts widerlicher als die Art und Weise, in der die Geheimnisse der Toten in unserer sensationslüsternen Zeit literarisch verwertet und die armen Ueberbleibsel ihrer Gedanken und Gefühle in den Staub verstreut oder gar auf öffentlichem Markte dem ludibrium einer pietätlosen Masse preisgegeben werden. Das ist schon schlimm genug; aber wir haben auch noch die bedauerliche Tatsache zu verzeichnen, daß es nicht die reine Wirklichkeit, sondern eine gräßliche Karikatur der Wirklichkeit ist, die man dem Publikum darbietet –«

»Sie können das ja verhindern,« bemerkte ich sanft.

»Wieso?«

»Indem Sie einfach die Sache selbst in die Hand nehmen. Niemand kannte ja Lukas Delmege auch nur halb so gut wie Sie –«

»Ich bin zu alt und gebrechlich dazu.«

»Nun, so lassen Sie mich mit Ihnen einen Handel abschließen!« erwiderte ich. »Jede Seite dieser Lebensgeschichte werde ich Ihnen unterbreiten; Sie können, je nach Belieben, alles, was ich geschrieben, entweder ausbessern, ändern oder vernichten. Sie müssen mich nur nie von der richtigen Fährte abschweifen lassen und mir so viel Aufklärung geben, als Sie vermögen.«

»Das ist der einzige Weg, ein Unheil abzuwenden,« entgegnete er. Ich sagte ihm darauf, wie sehr er mich verbinde.

Und so kleidete ich mit Fetzen zerstreuter Notizen, zerrissenen und vergilbten Briefen, halbfertig geschriebenen Predigten und schlecht geführten Tagebüchern das Skelett dieses Menschenlebens in das Gewand der lebenden Sprache. Und ich fühle es, ich habe meine Sache im allgemeinen nicht übel gemacht, obwohl da und dort eine Ecke des Skeletts – eine Unregelmäßigkeit – noch hervorschauen mag. Manchmal ist es ein Anachronismus, den ich auf Rechnung der großen Nächstenliebe meines verstorbenen Freundes setzen muß, der scheinbar lieber der Unwissenheit als der Lieblosigkeit geziehen werden wollte. Oefters ist der Ort der Handlung verschoben, wahrscheinlich aus dem gleichen Grunde. Nicht selten machte es mir auch Schwierigkeiten, die Fäden einer zerrissenen Naht wieder zusammenzuweben und Zeit und Umstände mit den modernen Teilen unseres Romans zusammenzureimen. Und wenn auch das »Weinen und Lächeln« Irlands sich ständig ablöst in dieser Geschichte, so ist sie trotzdem eine sehr ernste Erzählung, und viele werden in ihr einen tieferen Sinn finden, als wir ihr zu geben oder unterzulegen vermochten.


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