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XII.
Kritische Gänge

Sie überraschen mich wirklich, Vater Elton,« sagte Dr. Calthrop, als die Herren mit dem Ausdrucke größter Ungezwungenheit niedersaßen und ihre Zigarren anzündeten, »und Sie interessieren mich, weil ich allen Ernstes zugeben muß, daß wir manchmal geneigt sind, heutzutage an Aufgeblasenheit zu leiden. Aber sagen Sie,« fuhr er einschmeichelnd fort, »fürchten Sie uns denn nicht in der Tat? Wir haben euch hinter die Wälle zurückgetrieben, und sind jetzt eben daran, uns zum letzten Sturme zu sammeln.«

»Um ein anderes Bild zu gebrauchen,« erwiderte Vater Elton lächelnd, »sagen Sie, sahen Sie je als Städter zufällig einmal eine Schar von Krähen, die dem Sämann auf gepflügtem Felde folgten?«

»Gewiß,« entgegnete der Doktor.

»Nun, Sie sollen wissen: Wir sind die Krähen. Jeden französischen gamin heißt man, Quoi! quoi! uns in den Straßen nachzuschreien. Aber wie Sie wohl wissen, folgen die eifrigen, sparsamen Krähen der Spur des Sämanns, picken die Körner auf, die er verstreut hat, und verwenden sie zu ihren Zwecken. Sie fürchten den Sämann nicht. Und sie lachen, sie lachen tatsächlich über den Hut auf der Stange und die herunterhängenden Fetzen daran, die sie erschrecken sollen.«

»Ich verstehe Sie noch nicht,« erklärte der schwerfällige Doktor.

»Nun, mein lieber Herr,« fuhr Vater Elton fort, »wir sind die Krähen. Ihr seid die Säenden. Jede Tatsache, die ihr aus dem Sacke der Wissenschaft fallen lasset, verwenden wir zu unseren Zwecken. Ihr mögt darauf zehnmal »Gift« schreiben, wenn ihr Lust habt, wir lachen darüber und heben sie auf. Auf eure Vogelscheuche – das Ende und die schließliche Verneinung aller Religion und Offenbarung – blicken wir kühn, krächzen verächtlich darauf und fliegen weg.«

»Ah, jetzt verstehe ich,« gab der Doktor lachend zurück. »Aber eines schönen Tages wird der Sämann wütend werden und eine oder zwei von euch aufknüpfen.«

»Das wäre aber unwissenschaftlich,« erwiderte der Priester. »Und vor allen Dingen glauben die Krähen an die Philosophie und die unerschütterliche Gelassenheit des Sämannes. Eine oder zwei von uns aufzuknüpfen, würde einen Rückschritt bedeuten; und die Wissenschaft ist wesentlich fortschrittlich.«

»Aber der ganze Ton von euch Herrn in Kontroverssachen scheint mir deutlich auf die Apologetik gestimmt zu sein. Da ist ein Händereiben und ein Ausdruck des Abbittens in eurer ganzen Literatur zu beobachten, der zu sagen scheint: »Um Gotteswillen, vernichtet uns doch nicht völlig«!«

»Ich kann zwar von ironischen Kontroversen nicht reden,« fiel der Kanzelredner plötzlich ein, »aber was uns in England betrifft, so halten wir unsern Kopf ebenso hoch wie jeder Philosoph oder Ungläubige. Vielleicht verwechseln Sie, verehrter Herr Doktor, Höflichkeit mit Mangel an Mut.«

»Ach nein!« erklärte der Doktor in seiner langsamen, schwerfälligen Art. »Aber ich gestehe, daß ihr Angriffe von unserer Seite geradezu herausfordert durch eure entzückende Demut und eure ausgesprochene, bescheidene Nachgiebigkeit gegenüber Männern der Wissenschaft. Die Dinge lägen nicht so, müssen Sie wissen; und eure neuerliche Haltung macht uns mißtrauisch.«

»Wir sind eben demütig, sehr demütig,« rief Vater Elton, der jetzt seine kriegerischen über seine Salonmanieren anzog. »Sie haben vollständig recht, wir befolgen unser Christentum bis auf den letzten Buchstaben. Wir reichen die andere Wange dar, wenn man uns auf die eine geschlagen hat; und wenn ihr uns die Mäntel nehmt, so werfen wir euch noch die Röcke nach. Wir sind schrecklich bescheiden und apologetisch. In der Tat, die Wissenschaft der Apologetik ist heutzutage unsere einzige Wissenschaft. Eine neue wissenschaftliche Entdeckung, oder auch nur eine vermeintliche, wird von unsern gelehrten Mitbrüdern mit einem Jubel begrüßt, als ob ein neuer Stern an unserm Horizont aufgegangen wäre; und wenn ihr einen neuen Keim entdeckt oder etwas Neues über Zellen findet, reißen sie ihre Hüte herunter, beugen das Knie und stammeln: Venite, adoremus!«

»Nun, nun, Vater Elton! Das ist aber jetzt wirklich übertrieben,« meinte der Prediger.

»Wenn ich – hm – den hochwürdigen Herrn recht verstehe,« bemerkte der Kanonikus in seiner großartigen Weise, »so meint er einen – hm – Akt der Anbetung des Schöpfers für die – hm – unerwartete Entwickelung in den – hm – wie Sie eben sagten –«

»Nein, Kanonikus,« entgegnete Vater Elton bitter, »ich meine nichts dergleichen. Ich meine im Gegenteil, daß eine gewisse Klasse unserer katholischen Mitbrüder von ihrer Begeisterung so geblendet oder von ihrer Furcht so gelähmt ist, daß sie jeden neuen Fortschritt in der Physik anbetet, und daß sie über der Verehrung des Infusionstierchens vergißt, was wir dem Schöpfer und seiner Autorität auf Erden schulden, anstatt zu sagen: ›Grabt weiter, grabt zu, ihr Schaufler in der Finsternis! Jede Lichtflamme, die ihr auf die Geheimnisse der Natur leuchten lasset, zündet für uns eine neue Lampe vor des Ewigen Altar an.‹ Und die ganze Geschichte ist übrigens lächerlich. Wie Mrs. Wenham vor kurzem erst sagte, ist sie nur die Systole und Diastole aller menschlichen Forschung. Der Geist des Demokritus ist im neunzehnten Jahrhundert erschienen; und er rasselt mit seinen Ketten wie jeder anständige Geist – ›Atome‹, ›Keime‹, ›Zellen‹, hören wir immer wieder da capo; nur stimmt Weismann nicht mit Eimer, und Siciliani nicht mit Binet überein. Und schließlich ist die Seele der Natur, während sie in den unterirdischen Höhlen der Natur herumgegraben haben, aufwärts geflogen und dem Anblick der in Finsternis weilenden entronnen. Aber am Eingang des Schachtes, da sehen sie die Wächter und schreien zu den geschwärzten Grubenleuten mit ihren Talgkerzen und rauchenden Lampen hinunter: ›Kommt herauf! Kommt herauf! Kolossale Möglichkeiten liegen in den psychischen Fähigkeiten der Dinge verborgen. Es ist leichter, die Seele zu erklären, als die Phänomene der Vererbung, und die psychischen Fähigkeiten entwickeln sich selber. Kommt herauf, kommt herauf, oder ihr stolpert vielleicht über Gott‹.«

»Ich gebe zu, daß da irgendwo ein Fehler liegt,« bemerkte Dr. Calthrop.

»Jawohl ist da ein Fehler vorhanden,« erwiderte Vater Elton, der die feindlichen Kanonen für immer zum Schweigen zu bringen hoffte, mit Nachdruck. »Und der liegt darin, daß ihr Männer der Wissenschaft ein bißchen voreilig die Metaphysik aufgegeben habt. Wir Katholiken verfolgen die zwei zusammen. Ihr habt die Geisteswissenschaft für immer verlassen. Daher seht ihr die Natur durch ein Fernrohr, wir durch ein Opernglas. Und wir sehen sie so besser. Und wir sind zufrieden, nicht zu viel und nicht zu weit zu sehen. ›Ich bin alles, was gewesen ist und sein wird; und kein Sterblicher hat noch meinen Schleier gelüftet.‹ Oder, wie es einer eurer wenigen gedankenvollen Dichter gesagt hat:

Werden Schauende sehen mit sterblichen Augen?
Oder Suchende wissen mit sterblicher Seele?
Schleier um Schleier werden fallen – und hinter ihnen
Neue Schleier stets sich zeigen.

Der Stern – die Zelle – die Seele, das sind lauter undurchdringliche Rätsel.«

»Ganz richtig, wir lassen das alles für euch Irländer gelten,« bemerkte dazu der Prediger; »aber ihr seid nicht in unserer schwierigen Lage und versteht daher auch unsere Handlungsweise nicht. Wir haben es mit einer mächtigen und von Vorurteilen erfüllten Gegnerschaft zu tun, die mit seltener Unaufrichtigkeit und Unehrlichkeit immer die Schlagwörter alter Vorurteile gegen uns wiederholt. Sie wissen natürlich, daß es eine angeborene Ueberzeugung der Protestanten ist, wir seien Gegner der Naturwissenschaften und fürchteten sie.«

»Jawohl, und ihr bestärkt sie noch in dieser Ueberzeugung durch eine künstliche Begeisterung. ›Ihr protestiert zu viel, meine Herren.‹ Was ihr braucht, ist ein christlicher Paskal, ebenso wie wir einen zweiten Swift brauchen, um alle antichristliche Philosophie in jeder Form und Gestalt mit Spott zu überhäufen.«

»Aber man wird uns dann ›agressiv‹ heißen.«

»Und warum denn nicht? Nach neunzehnhundert Jahren einer Kirchengeschichte, die in jedem Zeitraum und jedem Jahrhundert durch Wunder ausgezeichnet ist, ist sicherlich unsere Zeit jetzt dazu berufen, das verschlissene Gewand und die papiernen Götzen der Welt den Nachdenklichen vor Augen zu halten. »Das sind deine Götter, o Israel!« Glauben Sie es mir nur, mein lieber Vater, unser Mangel an Initiative und Entschlossenheit ist die Hauptursache der betrüblichen Tatsache, daß wir keine größeren Erfolge erzielen. Zahlen Sie Schlag mit Schlag, und Spott mit Spott heim! Mit Essig überwand Hannibal die Schneemassen der Alpen; mit Milch und Honig hätte er es nicht gekonnt.«

»Tertullian wurde aber nicht heilig gesprochen,« bemerkte der Prediger.

»Nein; und mit vollem Recht verweigerte man ihm die Heiligsprechung. Aber kann jemand bestreiten, daß Tertullian durch seine heftigen Schmähungen und Anklagen den Bau des heidnischen und kaiserlichen Rom nicht stärker untergrub als jeder seiner sanfteren Mitapologeten?«

»Gewiß nicht! Aber Sie müssen doch zugeben, Vater Elton, daß unsere hl. Kirche unter der englischen Flagge weit größerer Freiheit sich erfreut als unter irgend einer anderen, wenn auch dem Namen nach katholischen Macht.«

»Ganz richtig! Aber was folgt denn daraus?«

»Nun, daß es uns geziemt, geduldig und vorsichtig zu sein.«

»Jawohl, gehorchen wir den höheren Gewalten! So befiehlt uns ja auch unsere Lehre. Doch ich spreche nicht von diesen höheren Gewalten. Ich spreche von den niederen, höllischen Mächten, die durch die Mittel der Wissenschaft, Literatur und einer gemeinen und käuflichen Presse jede Gelegenheit benützen, uns zu verunglimpfen und zu verleumden, und uns und unsere Lehre lächerlich zu machen, und welche die geheimen Verschwörer sind, die die Zügel der Regierungen in der Hand halten, und ihre Puppen nach ihrem Willen lenken. Blicken Sie doch nur auf ihre Literatur, wie sie von antikatholischen Roheiten entstellt und beschmutzt ist! Haben Sie jemals davon gehört, daß ein katholischer Schriftsteller einen anglikanischen Pfarrer oder einen nonkonformistischen Diener am Wort dem Gespötte preisgegeben habe? Niemals! Aber die ganze gegnerische Literatur ist von gemeinen Verleumdungen unseres Priestertums verpestet. Jawohl, fast die Hälfte aller ihrer Romane handelt von Jesuiten und Inquisition. Und ihr ›Seher und Prophet‹ macht, wenn er nicht gerade ›O Himmel!‹ schreit oder › Ay de mi‹ schluchzt, das › simulacrum‹ eines Papstes lächerlich oder kreischt über einen imaginären ›schmutzigen, schwachsinnigen, halbverbrecherischen, Proselyten machenden irischen Priester‹, der den durchaus nicht normalen Gleichmut ›seines guten Herzens‹ gestört haben sollte. Und was ist das Resultat? Wähler werden mit dem Gifte und der Tollheit der Bigotterie bearbeitet; dann beeinflußt man Staatsmänner, Parlamentsbeschlüsse werden herbeigeführt, und das Ganze heißt dann Freiheit und Fortschritt. Jawohl, schauen Sie heute nur auf das ganz katholische Frankreich hin, das auf das Geheiß von ein paar schmutzigen, schäbigen Juden sich willig dem Joche beugt! Aber das Traurige an der Geschichte ist, daß wir dasitzen und uns das alles ohne Widerspruch gefallen lassen. Wenn wir einen klaren Beweis von der Kontinuität unserer Kirche mit derjenigen der Katakomben brauchen, so ist es die Tatsache unserer Knechtschaft. Der Engel der Apokalypse mag auf unsere Stirne das mystische Zeichen Tau geprägt haben; aber bei Zeus, der Engel des Schicksals hat unseren Rücken mit dem Sigma der Sklaverei gebrandmarkt.«

»Ich fürchte, Vater Elton,« erwiderte der Prediger, »das Bestreben, Ihren Worten Nachdruck zu verleihen, hat Sie dem nationalen Hange zur Uebertreibung nachgeben lassen. Ich versichere Sie, es geht uns sehr gut drüben ›im dunkelsten England‹, und wir sind nicht so empfindlich gegen Verfolgung, vielleicht weil wir uns um Kleinigkeiten überhaupt weniger kümmern, als ihr denkt. Uebrigens sind unsere Leute durchaus nicht so von der Literatur beeinflußt, wie Sie sich das vorzustellen scheinen. Es würde Sie überraschen, wenn Sie sehen könnten, wie wenig sich meine Landsleute um ihre Propheten kümmern. Sie denken mehr an ihre Lieferanten, ihr Brot und ihr Bier.«

»Wir hatten nur einen einzigen ›Mann‹ in unserm Jahrhundert,« erklärte Vater Elton, der seinen eigenen Gedankengang fortsetzte, »und das war derjenige, der seine irischen Untertanen in New-York bewaffnete und dem Bürgermeister dann erklärte, daß der erste Haufe wilder religiöser Fanatiker, der in der Stadt auftrete, dieselbe Stadt in Flammen vorfinden würde!«

»Ich – hm – fürchte, meine Herren,« fiel jetzt der Kanonikus ein, der sich sehr unbehaglich fühlte, »wir nähern uns – hm – sehr fragwürdigen und – hm – gefährlichen Themen, die in ihrem Gefolge leicht – hm – etwas Bitterkeit – hm – hereintragen könnten, welche die schöne Harmonie dieses angenehmen Beisammenseins – hm – stören würde. Ich denke, wir begeben uns jetzt in die – hm – gleichförmigere und – hm – gemäßigtere Atmosphäre des Gesellschaftszimmers.«

Vater Elton und der Kanzelredner traten zusammen aus der Türe.

»Der gute Kanonikus,« meinte der letztere, »schien seine wenig schmeichelhafte Anspielung nicht ganz zu verstehen. Er meint, wir hätten uns etwas zu sehr gehen lassen.«

Vater Elton lachte, sah aber etwas verdrossen drein.

* * *

Am späten Abend fand noch ein Familienrat statt.

»Warum tut man denn für diesen Vater Elton nichts?« fragte Mrs. Wilson. »Warum macht man ihn nicht zum Monsignore oder sonst etwas? Er ist ja nicht einmal Doktor der Rechte!«

»Warum macht man denn Einfaltspinsel zu Baronets und Betrüger zu Richtern? Warum steckt man denn stets runde Leute in viereckige Löcher und umgekehrt?« gab ihr Gemahl zurück.

»Ich bin – hm – mehr als je – hm – von der Weisheit der Kirche überzeugt,« bemerkte jetzt der Kanonikus, »die einen Mann, der solch extreme Anschauungen vertritt, zu keiner anständigen und ehrenvollen Stellung befördert hat. Dieser Geistliche ist – hm – wirklich ein Revolutionär – und sogar – hm – ein Anarchist in seinen Ansichten.«

»Gibt es in Irland viele solcher Leute wie er?« fragte Dr. Calthrop.

»Zum größten Glücke nicht!« entgegnete der Kanonikus. »Unsere zahlreichen Geistlichen sind liebenswürdige, fleißige, achtbare Glieder der Gesellschaft; sie beobachten genau die Gesetze ihrer – hm – Kirche und achten und – hm – respektieren die bestehende Regierungsform.«

»Wenn ihr nur ein paar tausend, ja nur hundert Leute von diesem Schlage, mit seiner Intelligenz und Lebhaftigkeit, besäßet, hättet ihr nicht so lange um eure katholische Universität zu winseln brauchen,« bemerkte der Doktor.

»Ich kann aber für mein Leben nicht einsehen, warum diese Geistlichen in der Wissenschaft herumpfuschen? Es ist schon schlimm genug, daß wir ›politische Geistliche‹ haben, aber noch ›wissenschaftliche Geistliche‹ hinzuzubekommen, die alle unsere Sparten monopolisieren und möglicherweise gar noch unsere Entdeckungen vorwegnehmen, das würde unerträglich sein,« erwiderte Dr. Wilson. »Dieser Elton da scheint alle unsere wissenschaftlichen Autoritäten durchstudiert zu haben. Zitierte er nicht Shaler und Eimer, Calthrop?«

»Jawohl, und schien sie sogar gut zu kennen. Uebrigens berührt es mein eigenes Gebiet, und ich muß sagen, daß ich diese ungemütliche Diskussion über mich heraufbeschwor. Aber ich gestehe, daß euer prächtiger Geistlicher für mich eine größere Ueberraschung ist als alles, was ich bei diesem denkwürdigen Besuche gesehen habe. Wie wenig kennen wir doch einander!«

»Mrs. Wenham denkt sehr hoch von ihm,« fiel Mrs. Wilson schüchtern ein. »Ich hörte, wie sie zu Barbara sagte: ›Das ist der richtige Mann, um Seelen am Zügel zu führen‹.«

»Das ist so Weiberart,« bemerkte ihr Mann. »Sie wollen einen Herrn haben. Sie haben den Ehrgeiz zu herrschen; aber sie lieben es, beherrscht zu werden. Kein Weib kann ein Selbstherrscher sein. Sie muß eine höhere Macht zu verehren haben.«

»Sagtest du nicht, Bessie,« fragte der Kanonikus, »dieser – hm – ausgezeichnete Geistliche mache im Landhaus des Vizekönigs Besuche und frühstücke im Schlosse?«

»Daran ist nicht zu zweifeln, Kanonikus,« gab sie zur Antwort. »Er ist sogar ein Günstling der Lady C–, die ihn in vielen Dingen um seinen Rat angeht.«

»Dann nehme ich an, daß er seine – hm – sehr fortgeschrittenen und – hm – umstürzlerischen Grundsätze unterdrückt, und die Lehren der Kirche in einem – hm – anziehenden Gewande darbietet.«

»Verlassen Sie sich darauf, daß er nichts Derartiges tut,« erwiderte Dr. Calthrop; »er ist nicht der Mann, der seine Grundsätze verwässert. Und wenn er es täte, würde er alle seine Pikanterie verlieren.«

»Aber die anerkannten Autoritäten, Herr Doktor, die – hm – Vertreter der Königin, wie können sie ohne – hm – nachdrücklichen Protest solch unloyalen Grundsätzen zuhören?« fragte der Kanonikus.

»O, diese Exzentrizitäten sind für Engländer ganz erträglich, ja sogar amüsant,« erwiderte der Doktor. »Nur wenn wir solche Grundsätze durch stille und stetige Organisationsarbeit in die Praxis umgesetzt sehen, greifen wir zur Peitsche.«

»Aber die Sprache, Herr Doktor!«

»Aufs Sprechen geben wir nichts; nur das Schweigen fürchten wir.« Und der Kanonikus schwieg von nun an.

»Die Abendpost hat einen Brief von Louis gebracht,« sagte Mrs. Wilson zu ihrem Gatten.

»Eine bescheidene Anfrage um zwanzig Pfund?« fragte der Doktor und zog seine schwarzen Augenbrauen hoch.

»Nein, nein. Du kannst ihn lesen. Es steht nichts dergleichen darin.« Nach einigen einleitenden Worten über sein Eintreffen in London schrieb der Sohn an seine Mutter:

»Heiße Straßen, glühender Himmel und keine Geselligkeit hier. Halt, doch ein wenig. Letzten Montag war Versammlung der Präraphaeliten, um noch verschiedene Anordnungen vor den Ferien zu treffen. Ich soll im Januar einen Vortrag über Turner halten. – Einige Auserlesene von der Maler-, Dichter- und Musikerzunft trafen sich letzthin bei Lady L., die ja so die Kunst protegiert, wie du weißt. Ich war auch eingeladen. Ich schützte Kopfweh, Hitzschlag, andere Einladungen vor. Vergeblich. Ich mußte kommen. Es war herrlich. Etwas burschikos, aber sehr modern und ganz wie geschaffen für blasierte Leute. Diese Dinge passen nicht für mich. Ich arbeite streng. Jeden Tag gehe ich ins St. Thomasspital und studiere jeden einzelnen Fall. Uebrigens kannst Du Barbara sagen, daß ich auch das ›eine Notwendige‹ nicht vergesse. Sonntag Abend war ich im Dom zur Vesper. Die Musik war großartig, die Zeremonien superb. Aber die Predigt!!! Ach! Und wer war der Prediger, meinst du? Unser junger bäuerlicher Freund, dessen Rebellenlied Onkel so aufregte. Es war schrecklich. Das reinste Potpourri mittelalterlicher Absurditäten – freier Wille, Gnade, Vorherbestimmung. Und die Aussprache! Lieber Himmel! Ihr hättet sie mit Beilen hacken können. Ich möchte nur wissen, was man in so einem irischen Kolleg eigentlich treibt? Ein Bekannter nannte die jungen Priester die größten Grünschnäbel der Welt. Aber unsere Kirche leidet tief darunter. Kein Protestant könnte diese scholastischen Rodomontaden ohne Verachtung anhören. Dagegen machte ich eine andere Erfahrung. Ich hörte neulich Dr. Vaughan predigen. Gerate nicht außer Dir, liebe Mutter! Du weißt, wir Katholiken können ungehindert hingehen, wohin wir wollen. Solch ruhige, majestätische, wohldurchdachte und wohlvorgetragene Rede habe ich niemals vorher gehört; und welches Selbstvertrauen ohne Ziererei, und welche Selbstbeherrschung ohne Kälte! Ich wollte, ich studierte Theologie und säße unter seiner Kanzel.«

»Ist das alles?« fragte Dr. Wilson.

»Das ist alles,« gab stolz die Mutter zurück; »ausgenommen ein paar nebensächliche persönliche Bemerkungen am Schluß.«

»Der junge Bengel!« sagte der Vater.

»Ich finde,« warf der Kanonikus ein, »das ist – hm – ein ganz wunderbarer Brief, vier oder fünf Stellen darin sind – hm – wahrhaft tröstlich. Es ist leicht zu sehen, daß euer Sohn sich in vorzüglicher Gesellschaft befindet. Und dann seine Hingabe an sein Studium – nicht wahr, Herr Doktor? welcher Eifer und welche Ausdauer gehören dazu, ganze Tage in diesen – hm – schrecklichen Spitalsälen zu bleiben, in ständiger Gefahr, angesteckt zu werden! Dann die treue Erfüllung seiner – hm – religiösen Pflichten! Der Besuch der Vesper ist für uns Katholiken gar nicht einmal geboten. Aber man sieht, wie frühe Eindrücke und gute christliche Erziehung aufs zukünftige Leben unserer Knaben einwirken. Wie schreibt er doch, Bessie? Die Musik war – hm –«

»Großartig!« las Mrs. Wilson im Briefe nach.

»Ausgezeichnet kritisiert!« fuhr der Kanonikus fort. »Und dann seine witzigen, wenn auch etwas – hm – sehr freien Bemerkungen über die Predigt! Und dann seine Besorgnis um die Kirche, welchen Eindruck sie auf das Publikum macht! Wie bedauerlich, daß man aus unseren Lehranstalten – hm – kein besseres Material in die Welt sendet! Sehen Sie nur den – hm – Unterschied zwischen diesem ungeschliffenen jungen – hm – Kelten und diesem vornehmen, gebildeten anglikanischen Geistlichen – wie hieß er doch gleich, Bessie?«

»Dr. Vaughan!« las Mrs. Wilson wieder aus dem Briefe.

»Dr. Vaughan!« echote der Kanonikus. »Und wie lobt Louis – hm – dieses Predigers Beredsamkeit? ›Ruhig, majestätisch, wohldurchdacht und – hm – wohlvorgetragen‹ – solche Reden machen immer – hm – großen Eindruck.«

»Und was würden Sie denn dazu sagen, wenn Louis Theologie studieren wollte?« fragte Dr. Wilson.

Der Kanonikus, der den Hohn, der in dieser Frage lag, wohl fühlte, erwiderte achselzuckend: »Ich würde es nicht für gut halten, wenn Louis bei seinem vorgeschrittenen Studium umsatteln wollte. Aber ich habe die feste Ueberzeugung, daß Louis immer, welchen Beruf er auch wählen würde, unserm Namen und unserm Wahlspruch › sans tache‹ Ehre machen würde.«

»Bitte, Calthrop, rauchen Sie zum Schlusse noch eine Zigarre mit mir!« forderte der Doktor auf.

»Ich will Ihnen 'was sagen, Wilson,« bemerkte Dr. Calthrop, während er die Spitze seiner Zigarre abschnitt, »und Sie werden den Vergleich entschuldigen: aber Ihr guter Schwager erinnert mich stark an den Beichtvater des Marschallgefängnisses oder an Casby.«

»Beides ist aber unrichtig,« erwiderte Dr. Wilson; »er ist vielmehr ein aufrichtiger, guter Mann, der mit zunehmendem Alter nur etwas maniriert geworden ist. Manche halten das für die Folge einer Krankheit, denn ich weiß sicher, daß er in jungen Jahren ein feuerroter Rebelle war. Man erzählt sich da eine merkwürdige Geschichte von ihm. Er war kaum in seiner ersten Pfarrei aufgezogen, als er vom Dorfmagnaten eine Botschaft des Inhalts erhielt, er müsse aus seiner Kirche bis Montag früh alle Stühle, Bänke und Sitze entfernen lassen, damit darin des Gutsbesitzers Getreide gedroschen werden könne.«

»Was?« rief Dr. Calthrop und nahm die Zigarre aus dem Munde.

»Ich spreche von Tatsachen,« bemerkte Dr. Wilson. »Der Priester schenkte der Aufforderung keine Beachtung, sondern ließ einige handfeste Pfarrkinder kommen. Und als des Gutsbesitzers Leute anrückten, trafen sie auf ein ganzes Regiment von Freibeutern. Darauf waren sie nicht vorbereitet, denn so etwas war noch nie vorgekommen. Man hatte ihnen noch immer gestattet, ihr Korn auf dem Kirchenboden zu dreschen. Sie mußten abziehen und dem Hauptquartiere mitteilen, daß ein Aufstand losgebrochen sei; und dann –«

»Und dann?« fragte Dr. Calthrop voll Interesse.

»Und dann lud der Gutsbesitzer den Priester zum Diner ein; und seitdem wurde für den Pfarrer im Herrenhause stets ein Gedeck reserviert, und er bekam sogar die Erlaubnis, eine Glocke in einem eigens dazu erbauten kleinen Turme aufzuhängen.«

»Es scheint mir,« meinte darauf Dr. Calthrop, »daß wir Engländer so ungefähr am Tage des letzten Gerichtes euch allmählich verstehen werden.«

»Ich fürchte, wir werden dann aber kaum geneigt sein, die Bekanntschaft fortzusetzen,« bemerkte Dr. Wilson. »Wir müssen uns an jenem Tage voneinander trennen, wenn nicht schon früher.«

Dr. Calthrop lachte.

»Aber das affektierte Wesen des Kanonikus datiert von jenem Ereignis her,« fuhr Dr. Wilson fort. »Er wurde ein Mann des Friedens und ist einer von den fünf oder sechs seiner Standesgenossen in Irland, die an Gutsbesitzer glauben – und an das Utopien, wo der Löwe sich mit dem Lamm zur Ruhe legt. Bis jetzt hat er recht behalten. Seine Pfarrei ist ein Paradies. Er hat ein bedeutendes Privateinkommen, und es geht alles darauf, die Stellung seiner Leute zu verbessern. Die Hütten sind Landhäuser geworden. Die alten Düngerhaufen sind verschwunden. Blumen, Küchengewächse, neue Hühnerarten – alles Neue und Fortschrittliche hat er eingeführt. Niemand wagt sich ihm entgegenzustellen. Er ist ein Autokrat, oder vielmehr ein Patriarch. Und gerade sein Formenkram macht auf das Volk großen Eindruck. Wenn er am Sonntag Morgen am Altare steht und ›Hm!‹ sagt, so möchte man glauben, Moses sei vom Berge gestiegen, so ehrerbietig und ehrfürchtig sind die Leute. Er rühmt sich nicht; aber was die Jesuiten in Paraguay taten, das vollbringt er in seiner eigenen Pfarrei.«

»Es freut mich sehr, daß Sie mir all das erzählten. Ich bin wirklich stolz, einen solchen Mann kennen zu lernen,« erklärte der Gast. » O si sic omnes!«

»Aber wie alle aus seiner Berufsklasse, die nicht ganz in ihren heiligen Pflichten aufgehen, muß er sich an etwas anlehnen. Und statt eines Hundes oder Pferdes hat er Louis und Barbara dazu gewählt.«

»Ich bin über seine Zuneigung für seine Nichte nicht überrascht,« erwiderte Dr. Calthrop; »sie ist das lieblichste und süßeste Mädchen, das ich je gesehen. Ich habe bis heute Abend, wo ich dieses Weib neben ihr an der Speisetafel sitzen sah, noch nie einen Habicht mit einer Taube in so naher Berührung gesehen.«

»Ach!« seufzte Dr. Wilson, und seine Stimme würde gebebt haben, wenn er nicht seine rettende Zigarre im Munde gehabt hätte. »Aber wie alles andere, will sie mich verlassen. Louis könnte ich ja wohl leicht entbehren; aber sie kann ich nicht missen. Und doch wird sie gehen, und er wird bleiben; und ich weiß noch nicht, welche Heimsuchung bitterer sein wird.«

»Gehen? Wohin? Wohin will sie denn gehen?« fragte Dr. Calthrop.

»Nun sehen Sie mal, Calthrop! Sie können das nicht verstehen. Es ist nur die verd…te Buchstäblichkeit unserer Religion. ›Gehe hin, verkaufe alles was du hast und gib es den Armen!‹ – ›Betrachte die Lilien auf dem Felde usw.‹ – ›Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?‹ – ›Verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach!‹ Das ist es, was wir immer hören; und diese jungen Grünschnäbel glauben das alles und nehmen es ganz buchstäblich.«

»Es klingt indessen ganz wie das Evangelium,« meinte Dr. Calthrop.

»Natürlich. Aber wir leben doch im neunzehnten Jahrhundert. ›Betrachte die Lilien auf dem Felde!‹ Welche Aussicht hätte denn ein unglücklicher Mensch mit einem solchen Glauben unter der Armee wütender und skrupelloser Orangisten Irische Protestanten. hier in Dublin? Innerhalb eines Monats wäre er in einem Armenhaus.«

»Vermutlich,« bemerkte Dr. Calthrop, gemütlich seine Zigarre rauchend.

»Nun sehen Sie mal, das ist das Schöne an eurer Religion,« fuhr Dr. Wilson fort. »Sie paßt euch wie ein Schlafrock – sie ist bequem, schön und elastisch. Ihr könnt damit sitzen, stehen oder liegen. Ihr könnt sein, was ihr wollt – Türke, Jude oder Gottesleugner, Freimaurer, Agnostiker, Sozinianer, – niemand bekümmert sich darum. Ihr könnt rauben, stehlen, schwindeln, und ruhig am nächsten Sonntag euren Platz einnehmen und hören, daß solche Leute keinen Anteil am Himmelreiche haben. Ich finde das entzückend. Aber laß nur einen unserer schwerfälligen, barfüßigen Mönche nächsten Sonntag mit einer gewissen Emphase predigen: ›Kommet, erhebet euch, und tretet in die blutigen Fußstapfen!‹, ja, dann stirbt jedes junge Mädchen fast vor Ungeduld, sogleich nach China oder Japan abreisen zu dürfen und seinen kleinen Nacken von einem bezopften Wilden abhauen zu lassen. Und so wird es auch mit Barbara gehen. Statt einiger Bälle und Gesellschaften, und dann einer anständigen Heirat, wird sie eine ›Dienerin der Armen‹ oder eine Küchenmagd bei Verrückten werden.«

»Und Ihr Sohn – hat der ähnliche Absichten?«

»Der will sich seine Hörner abstoßen, glaube ich.«

»Und dann?«

»Und dann wegen einer Praxis sich auf seinen Onkel verlassen.«


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