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XXIII.
Der Rheinfall

Eure Jünglinge sollen Gesichte schauen und eure Greise Träume träumen.« Und Vater Meade, der Nachfolger Vater Tims als Pfarrer von Gortnagoshel, hatte einen Traum. Und obgleich er vierzig Jahre lang gelehrt hatte, daß es Sünde sei, Träumen oder Wahrsagereien Glauben beizumessen oder Vorahnungen und Zufällen irgend eine Wichtigkeit beizumessen, müssen wir doch bedauerlicherweise berichten, daß Vater Meade an diesen Traum glaubte. Es hatte ihm geschienen, er sei drunten an der See, in der Nähe von Vater Martins Haus, und es war eine wilde, stürmische Nacht, dunkel wie der Erebus mit Ausnahme der weißen Flecken im Tumult der Wogen und der helleren Flächen zu seinen Füßen. Er wußte nicht, was ihn dahinbrachte; aber als er so in die mitternächtige Wildnis hinausstarrte, da hörte er in der Ferne einen Schrei; und aus dem Strudel der Wogen drangen klar und deutlich, das Pfeifen des Sturmes übertönend, die Worte: Allua! Allua! Allua! an sein Ohr. Dann war es ihm, als ob Lukas Delmege von den Klippen herabspringe und sich in die aufschäumenden Wasser stürze – und Vater Meade erwachte und fragte sich, als er seine zerstreuten Sinne wieder gesammelt hatte, ärgerlich: Was habe ich denn gegessen? Denn er rühmte sich seiner gesundheitlichen Gewohnheiten und hatte mit seinem Magen und den Schicksalsgöttinnen einen Bund geschlossen, daß er wenigstens ein Jahrhundert erleben sollte. Dann entschied er, daß es »Büchsenfleisch« gewesen, ein Gericht, das wegen seiner Anziehungskraft sehr gefährlich war.

»Ich hätte ein zweites Glas trinken sollen,« murmelte er und schlief wieder ein.

Aber als der Morgen dämmerte und er nachdenklich am Kaminfeuer saß, denn die Kälte war dieses Jahr frühe gekommen, da fiel ihm sein Traum immer wieder von neuem ein, und Allua! Allua! klang's in seinen Ohren und floß es durch die Psalmen seines Breviers. Und diese Silben kamen ihm etwas bekannt vor, obwohl sich sein Gedächtnis lange weigerte, das Geheimnis zu erschließen. Dann erinnerte er sich plötzlich, wie es oft beim Gedächtnis der Fall ist, einer Szene. Drinnen, im Herzen der Stadt, war eine Klosterschule, und in dieser gab es auch einmal eine »Ausstellung«. Das heißt, die Kinder hatten alle ihre Sonntagskleider an und es gab große Haufen Rosinenkuchen auf den Seitentischen und sehr schöne Gesänge herrlicher alter irischer Lieder und eine Ansprache an ihn selber. Und dann trat ein liebes kleines Mädchen vor und begann mit unnachahmlicher Selbstbeherrschung Callanans berühmtes Gedicht:

Es liegt eine Insel in Gougaune Barra

zu rezitieren. Aber sie stolperte bei der zweiten Zeile, denn die Osterhymnen lagen noch in ihren Ohren und sie tappte in

Wo Alleluja-Sänge wie Pfeile entfliegen.

Und Allua wurde ihr Neckname von diesem Tage an.

Nun war aber Vater Meade, damals ein stürmischer junger Kaplan, begeistert; und in seinem Entzücken und seiner Begeisterung hielt er eine Rede, und die Rede enthielt ein Versprechen. Es war allerdings ein rasches, wie sich denken läßt.

»Wohin ihr, liebe Kleinen,« sprach er, »im späteren Leben auch zerstreut werden möget – nach Norden oder Süden, nach Osten oder Westen, nach Amerika, England, Australien oder Neuseeland – ihr müßt immer auf mich als auf euren Vater und Freund zählen und euch an mich wenden, nein, über mich verfügen, daß ich euch zu Hilfe eile, wenn ihr mich je nötig habt!«

Er dachte in seinem späteren Leben oft an dieses Versprechen, wenn er auch selten in Anspruch genommen wurde, es einzulösen. Denn in ihren bescheidenen Pfarrhäusern und an ihren einsamen Herden sehnen sich diese irischen Priester stets nach ihren verbannten Kindern und wollen wissen, was aus den Burschen geworden ist, die ihnen bei der Messe dienten in den Hütten der Berge oder die Pferde am Zügel hielten während eines Krankenbesuches; oder aus den kleinen Mädchen, die unter ihren Haaren hervorguckten und über die schreckliche Macht und Würde des Priesters staunten oder beim kleinsten Lobe in der ärmlichen Landschule erröteten. Aber jetzt nach dreißig Jahren hat Allua ihn gerufen, sein Versprechen zu halten, und Allua ist in Not und braucht ihn. Er war in Verlegenheit, was er tun sollte, und dachte schon daran, seine Haushälterin um Rat zu fragen. Er fürchtete aber eine spöttische Abfertigung. Denn sie war stets darauf bedacht, ihn praktisch zu machen, hielt ihn ab, gute Schuhe, »die noch einmal gesohlt werden könnten«, einem Landstreicher zu schenken, dessen Zehen vorne herausschauten, oder ihr einen ihrer guten, selbstgepökelten Schinken zu stehlen, die sie für eine große Gelegenheit in Verwahrung hielt. Dann versuchte er, den Traum und die Erinnerung zu vergessen. Doch es half nichts. Die Stimme, die er im Traume gehört, tönte immer wieder in seinen Ohren. Dann dachte er, seinen Nachbar, Vater Cussen, um Rat zu fragen. Das Schlimmste aber, das ein Pfarrer tun kann, ist, einen Kaplan über irgend etwas um Rat zu fragen. Er erzählt es der ganzen Welt und triumphiert für immer über einen. Vater Meade entschied sich schließlich dazu, ans Meer hinunterzugehen und den Schauplatz seines mitternächtlichen Schreckens in Augenschein zu nehmen und danach zu beurteilen, inwieweit er wirklich und inwieweit er nur eingebildet war. Es war ein guter, scharfer Gang, aber Vater Meade gedachte, hundert Jahre zu leben, und das war noch ein langer Weg bis dahin. So stellte er sich denn auf die Spitze des Felsens, gerade da, wo er in seinem Traume gestanden war, und blickte auf die weite Wasserwüste hinaus. Ueberall, soweit das Auge reichte, bis zu dem feinen Nebelstreifen, der die Landzunge von Loop Head andeutete, breitete sich der Ozean in fast herausfordernder Ruhe aus. Kein Wogenkräuseln überlief an diesem ruhigen Septembertag die glatte Oberfläche, außer da, wo gerade in der Mitte der weiten Seebucht ein sehr schwaches Wellenkräuseln die Stelle andeutete, wo der mächtige Wasserstrom des Flusses auf die hereinströmende Flut traf. Aber weder Wind noch Wogen waren zu sehen, und doch fand es der alte Priester, wie er so schaute, nicht schwer, sich vorzustellen, daß der Ruf Allua! Allua! über die Wasserwüste her an seine Ohren drang. Aengstlich und unschlüssig trat er wieder den Heimweg an, aber als er an der Hecke vorbeikam, die Vater Martins Garten umfriedigte, da glaubte er vorsprechen zu müssen. Das Resultat davon war, daß Lukas einige Tage später, als er sich von dem Schlage wieder etwas erholt hatte und seine Korrespondenz wieder aufnehmen konnte, folgenden Brief las:

Mein lieber Vater Delmege!

Sollten Sie gelegentlich, in London oder sonst wo, ein kleines Mädchen (das jetzt wohl eine junge Frau geworden sein wird) treffen, das auf den Namen Allua hört, so sagen Sie ihr, bitte, daß sie sich nur an mich wenden solle, wenn sie in Not ist, wie ich vermute.

Ihr ergebener
William Meade.

»Das ist ja das genaue Gegenstück zu dem famosen Brief mit der Adresse: An meinen Sohn in Amerika,« dachte Lukas und kümmerte sich nicht weiter um das Schreiben, zumal da dieselbe Post ihm einen recht lieben und wohltuenden Brief von seinem Heimatbischof gebracht hatte. Der hochwürdigste Herr bat ihn darin, sich den folgenschweren Schritt, den er vorhatte, nochmals recht zu überlegen, und versicherte ihn einer freudigen Aufnahme, sobald er sich entschließen könne, in die Heimat zurückzukehren.

»Ich meine,« hatte Seine Lordschaft geschrieben, »da Sie für Ihre Heimatdiözese herangebildet wurden, sollten Sie ihr auch Ihre Kraft weihen. Aber ich werde Sie nicht gegen Ihren Wunsch zurückrufen.«

»Dann ist mir der Grund unter den Füßen doch noch nicht weggenommen,« murmelte Lukas und antwortete dem Bischof umgehend, daß er auf den 1. Oktober zurückkehren wolle, wenn er von einer kleinen Reise auf den Kontinent, die ihm sein Arzt verordnet habe, heimgekehrt sei.

Er fuhr nach London, um sein Vorhaben auseinander zu setzen. Man bat ihn, zum Diner zu bleiben. Er kam neben einen berühmten Reisenden zu sitzen, eine Art neuerlichen Abbé Hucs, der unendlich höflich und herablassend war, unzählige Fragen an Lukas stellte und ihm wertvolle Aufschlüsse und Winke für seine Reise in die Schweiz gab. Lukas fühlte sich sehr glücklich in dem Gedanken, daß seine persönliche Liebenswürdigkeit ihm so schnell überall Freunde gewinne. Während der ganzen Tafel fiel kein Wort über Halleck, nicht einmal die geringste Anspielung auf Dr. Drysdale oder Aylesburgh. Aber auch seine siebenjährige Lehrzeit blieb von den Herren unberücksichtigt, und Lukas vernahm keine Silbe des Bedauerns, daß er nicht mehr unter ihnen arbeiten und leben sollte.

Zwei Tage später stand Lukas vor dem Bahnhofe der Grenzstation Herbesthal. Sein Zug war auf ein Nebengeleise gebracht worden, um dem großen kontinentalen Expreßzug Platz zu machen. Lukas hatte sein Gepäck einem Träger gegeben und wandelte auf dem Perron auf und nieder. Punkt zwölf Uhr rollte der Expreß in die Station. Der lange Gang, der den ganzen Zug durchlief, war gedrängt voll von Reisenden, deren bloßes Aeußere schon zur Genüge bewies, daß sie ihr Leben an Orten des Vergnügens und der Lust verbracht hatten und daß sie entschlossen waren, ihr Dasein zu genießen, so gut es ging. Lukas war vom Anblick dieser Crême der Gesellschaft fast erschreckt; denn obgleich er während seiner siebenjährigen Lehrzeit viel gelernt hatte, hatte er sich glücklicherweise noch etwas Idealismus bewahrt. Er hatte die traurige Stufe im Leben noch nicht erreicht, wo alles im grauen Lichte der Erfahrung gemein und gewöhnlich erscheint, sondern er blickte interessiert auf alle diese hohen Herrschaften, bis ihn eine Gestalt anzog. Der Herr war in grauem Reiseanzug und hatte einen schottischen Plaid um seine Schultern geworfen. Kein Zweifel, es war das Gesicht des Abbé Huc. Es blickte in ruhiger Gleichgültigkeit auf Lukas, mit dem unverkennbaren Ausdruck: »Ich kenne dich wohl, wünsche aber die Bekanntschaft nicht zu erneuern.« Aber Lukas' stürmische Keltennatur beachtete das nicht, und halb selbstbewußt, halb im Gefühle, einen dummen Fehler zu machen, näherte er sich und lüftete den Hut mit den Worten: » Pardon, Monsieur: je suis un prêtre Catholique – «

Der Reisende erhob sich stolz und erwiderte steif: » Et moi aussi, je suis un prêtre Catholique.«

Lukas war stumm. Das war also der Mann, an dessen Seite er vor zwei Tagen gesessen und der so höflich und besorgt gewesen war, als ob er Lukas schon sein ganzes Leben lang gekannt hätte. Lukas zog sich zurück, beleidigt von diesem kalten Nichtkennenwollen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Aber der Abbé Huc beobachtete ihn bis zuletzt. Und Lukas lernte wieder etwas die Welt kennen, eine Kenntnis, die in ihm ein seltsames Heimatsehnen weckte.

Gerade als sein eigener Zug im Begriffe stand, abzufahren, passierte ihm noch eine hübsche, kleine Geschichte. Wie alle tüchtigen Reisenden, war Lukas entschlossen, sich vor Betrügereien in acht zu nehmen, aber sonst splendid zu sein. Und als nun ein prächtig herausgeputzter Angestellter auf ihn zuging und ihm etwas auf deutsch sagte, wovon Lukas nur das eine Wort »Kommissionär« verstand, da schüttelte Lukas traurig sein Haupt. Aber als der Dienstmann mit seinem Gepäck kam, da war Lukas freigebig, königlich freigebig. Er gab dem Dienstmann eine Münze, die er für eine genügende Belohnung seiner Mühe hielt. Der Dienstmann lächelte, lüftete seine Mütze, verbeugte sich und ging, kehrte aber augenblicklich voller Wut zurück. Er sprang auf das Abteil, gestikulierte heftig mit der elenden Münze in seinen Händen und rief: Pfennig! Pfennig! Es wäre sehr schwierig zu sagen, durch welchen Denkprozeß Lukas die Ueberzeugung erlangt hatte, ein Pfennig habe in Deutschland den Wert eines Franken. Es war nun einmal so, und daher kam auch seine königliche Handbewegung. Aber augenscheinlich herrschte darüber große Meinungsverschiedenheit, die in mannigfachen Beschwörungen und Gebärden ihren Ausdruck fand, wobei der prächtige Kommissionär dem Gepäckträger billigend zuschaute.

» Un pfennig! oui, oui! c'est un franc!« beteuerte Lukas.

Der Dienstmann stampfte auf den Boden des Abteils und fuhr sich in die Haare.

» Cela suffit pour vous!« bemerkte Lukas ruhig. Er war entschlossen, sich nicht beschwindeln zu lassen.

Der Packträger beschwor alle Engel und Sterne. Als das nichts half, beschwor er den Kommissionär. Der stieß eine Flut unverständlicher Worte heraus. Lukas war überzeugt, daß es die reine Verschwörung war. Er sprach wunderbar französisch. Sie sprachen wunderbar deutsch. Schließlich setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Der Dienstmann klammerte sich bis zuletzt an die Coupétüre. Dann stieß er zum Abschied einen Fluch aus und sprang atemlos und schwitzend auf den Boden. Lukas aber lehnte sich im Wagen zurück, als sie in die Nacht hineinfuhren und beglückwünschte sich zu seiner Festigkeit.

Dann umfingen Lukas die Wunder des heiligen Köln und die Herrlichkeit des Rheins. Bald verhüllten Tunnels den Blick, dann lagen wieder liebliche Dörfer und Städte und der majestätische Strom vor dem entzückten Auge; durch Tannenwälder an Weinbergen und Schlössern vorbei ging die Fahrt, bis der Zug nach Bingen kam. Dann noch eine abwechslungsreiche Fahrt durch Südwestdeutschland, und Lukas war in Schaffhausen, wo der mächtige, sagenfrohe Rhein in kindlicher Laune den berühmten Wasserfall bildet, bevor er in majestätischer Größe dem Meere zufließt.

Hier verweilte Lukas zwei Tage, zwei goldene Tage, die ihm für immer in der Erinnerung haften blieben. Dieser Sonntag im Schweizer Hof, den er verlebte, blieb ein goldener Traum fürs ganze Leben. In aller Frühe ging er ins Dorf hinunter, um Messe zu lesen, und hörte die dreiviertelstündige deutsche Predigt an, ohne ein Wort zu verstehen. Um ½12 Uhr frühstückte er dann und durchträumte den Tag voll strahlenden Sonnenscheins, während zu seinen Füßen der große Strom erbrauste und er von fern die mächtigen Ketten der Alpen erblickte. Am Nachmittag erstieg er den Hohen Flüh. Nach der Enge, Beschränkung und Stickluft der letzten sieben Jahre benahm ihm das herrliche Panorama, das sich auf dem Gipfel des Berges vor ihm entrollte, fast den Atem. »Herr,« rief er aus und warf seinen Hut in die Höhe, »hier ist gut sein!« Er fühlte sich wieder frei. Die klare Luft, der fast schrankenlose Horizont, die Unermeßlichkeit der riesigen Bergesketten, die den Ausblick begrenzten und dennoch der Einbildungskraft unbekannte Erhabenheiten erschlossen, das lange, sonnenglänzende Stromband des Rheins, der zwischen Weingärten und Obstbäumen dahinfloß, die Dörfer, die mit ihren roten Ziegeldächern aus der Landschaft leuchteten, ruinengekrönte Hügel, und da und dort kleine Gruppen friedlicher Leute, die den Sonntag in Gottes freier Natur genossen: da dachte Lukas, während er so dasaß und dem Liede lauschte, das drei Kinder im nahen Waldesschatten sangen, an den Schmutz, den Auswurf, den Rauch und die Sünden dieser großen, England genannten Mühle. Der Lärm und das Dröhnen und der kalte, tote, seelenlose Mechanismus waren weit weg. »Gott sei Dank,« murmelte Lukas, »daß ich das alles hinter mir habe!« Er wandte sich um und wollte eben wieder hinuntersteigen, als er Halleck vor sich sah.

Wären sie zwei Kelten gewesen, sie wären grollend an einander vorüber gegangen. Der eine war aber ein Engländer und sagte: »Guten Tag, Mr. Delmege! Das ist ein seltenes Vergnügen.«

»Guten Tag!« erwiderte Lukas, der zu überrascht war, um mehr sagen zu können.

»Ich ahnte nicht, daß Sie ins Ausland gegangen waren,« fuhr Halleck fort. »Lassen Sie mich hoffen, daß Sie länger in diesem entzückenden Lande bleiben.«

»Ganze vierundzwanzig Stunden lang,« gab Lukas zurück.

»Das tut mir aber sehr leid. Ich kenne keinen andern Ort, der so das Gefühl der Freiheit erweckt. Wenn man sich in die Alpentunnels versenkt, hat man die Empfindung, als ob man ersticke, als ob die Luft durch das Gewicht des Schnees und der Steinkolosse zu einer festen Masse zusammengedrückt wäre. Hier aber ist man frei und genießt eine schrankenlose Aussicht und eine unermeßliche Lieblichkeit.«

»Ich habe oft gehört, man müsse von Italien herkommen, um die Alpen in recht vorteilhaftem Licht zu sehen.«

»Vollständig richtig! Und Sie müssen schon wieder zurück? Ich hoffte, das Vergnügen Ihrer Gesellschaft und Mitarbeit hier zu haben. Ich arbeite momentan in der Bibliothek von St. Gallen an einem Werke, das bald die Presse verlassen soll, und da könnten Sie mir von großem Vorteil sein.«

»Ich bedauere, daß meine Tätigkeit bis jetzt nur dazu gedient hat, Ihren Gedanken eine falsche Richtung zu geben,« erwiderte Lukas, der die Gelegenheit rasch erfaßt hatte.

»Wirklich! Eine falsche Richtung? Wie meinen Sie das, wenn ich fragen darf?«

»Zu meinem Bedauern habe ich hören müssen, daß es einige meiner Predigten waren, die Sie aus der Kirche wieder vertrieben haben.«

»Aber ich bin nicht aus der Kirche getrieben worden. Das ist ein vollkommener Irrtum. Im Gegenteil, ich kann gar nicht aus ihr getrieben werden.«

»Entschuldigen Sie meinen harten Ausdruck, aber die Kirche hat Sie zurückgewiesen, und Sie können nicht zu den Sakramenten gehen.«

»Ich kann nicht? Ich tue es aber. Erst heute morgen habe ich drunten in Schaffhausen die heilige Kommunion empfangen.«

»Wir halten ein solches Vorgehen für sakrilegisch und unehrlich,« rief Lukas, den Hallecks kühle Ruhe außer sich brachte.

»Wer kümmert sich aber darum, für was Ihr etwas haltet? Ihre Meinung hat gar keine Konsequenz für mich.«

»Ich habe diese Zusammenkunft nicht gesucht, Mr. Halleck,« erwiderte Lukas, »und wenn Sie gestatten, breche ich sie hiermit ab. Aber Sie haben kein Recht, eine Verleumdung zu verbreiten; und als ein Gentleman sollten Sie auch schleunigst widerrufen, was Sie an Miß Lefevril über meine falsche Leitung geschrieben haben.«

»Wenn es aber wahr ist? Ihre Theologie mag sie vielleicht gestatten, aber ich als englischer Gentleman kann keine Falschheit sagen.«

»Aber Ihre Behauptung, daß unsere Priester liberal und sehr frei in ihren Ansichten seien und daß besonders ich diesen Liberalismus teile, ist unrichtig und – verzeihen Sie den Ausdruck – eine Lüge. Wir halten an allen Dogmen der Kirche rückhaltlos und unbedingt fest.«

»Dann müssen Sie eben die andere Alternative hinnehmen, daß Ihre Kenntnis der englischen Sprache, die, wie alles Englische, sich keinerlei dogmatischen Beschränkungen fügt, außerordentlich beschränkt ist. Sie scheinen die riesige Verantwortlichkeit von an feierlicher Stätte gesprochenen Worten nicht zu verstehen.«

»Mag sein,« erwiderte Lukas demütig.

Dann schwiegen sie einige Minuten. Die drei kleinen Schweizermädchen sangen immer noch auf ihrem primitiven Ruheplatz im Kiefernschatten. Schließlich bat Halleck: »Lassen Sie uns nicht im Unfrieden scheiden, Mr. Delmege! Es tut mir leid, daß ich Ihnen wehe getan habe. Aber – die treuen Israeliten täten gut daran, während ihrer Gefangenschaft nicht zu neugierig auf die Götter Babylons zu blicken.«

Damit lüftete Halleck seinen Hut und stieg die steilen Stufen zur Straße hinab.

Wäre das in London vorgefallen, es hätte Lukas für mehrere Tage in eine deprimierte Stimmung versetzt. Hier aber, im strahlenden Sonnenglanz und in Gottes herrlicher Natur, warf er den augenblicklichen Kummer gleich von sich ab. So trieb auch am selben Nachmittage die Entdeckung, daß ein Pfennig, statt den Wert eines Franken zu besitzen, nur dem hundertsten Teile eines solchen gleichkam, Lukas die Schamröte ins Gesicht, aber nur für einen Augenblick.

»Der Dienstmann hätte mich umbringen sollen,« murmelte er und dachte nicht mehr an die Geschichte. Nur ein Sehnen regte sich in seinem Herzen, das von Minute zu Minute wuchs, nach dem Frieden und der Ruhe, der Sicherheit und dem Glücke der Heimat.

»Die Kruste Brot und der Krug Wasser sind besser, als die Fleischtöpfe Aegyptens,« dachte er.

Er verließ den Speisesaal schon sehr frühzeitig an diesem Abend. Das Treiben der Gesellschaft begann ihn anzuwidern. Ihn verlangte es nach Ruhe zum Denken vor dem Flitter und Glanz der Mode; und schon lange, ehe die letzten Speisen aufgetragen wurden, hatte er sich an das äußerste Ende der gasbeleuchteten Veranda zurückgezogen. Hier saß er mit einer Tasse Kaffee und Biskuits an einem kleinen runden Tische, hinter einem schweren Vorhang fast versteckt, und erwartete die Beleuchtung der Fälle.

Um halb zehn Uhr hatten sich alle Gäste in der Veranda versammelt, und die Lichter wurden herabgeschraubt, bis der ganze Platz vollständig dunkel war. Dunkelheit lag auch über dem Tale, und nichts verriet menschliche Anwesenheit. Aber ein weißer Schimmer, wie von Zwielicht, kam von der Stelle, wo das Rauschen herdrang. Dann strömte ein schwaches Rosa, das in Purpur überging, durchs Tal, und die Wasserfälle röteten sich unter der Beleuchtung und schienen lauter dem Rufe des Lichtes zu antworten. Und das rosa Dämmern huschte wieder über das Tal, bis es zögerte, innehielt, schwand und wieder Dunkelheit über dem Tale herrschte, das die Stimme vieler Wasser durchdrang.

Lukas wandte sich um und sah dicht neben seinem Stuhl – denn jeder Sitz war eingenommen – einen gebrechlichen alten Mann und dessen Tochter stehen. Er lehnte sich schwer auf ihren Arm und sein weißes Haar leuchtete in dem dunklen Raume. Sofort erhob sich Lukas und bot seinen Stuhl an. Die junge Dame dankte ihm, während der alte Mann müde in den Armstuhl sank. Sie stellte sich an seine Seite, während sich Lukas in den Schatten zurückzog und auf eine rauhe Bank setzte, die an der Mauer entlang angebracht war. Die Fälle wurden hierauf noch mit grünem und blauem Licht beleuchtet; dann kamen die Kellner und drehten die Gaslampen wieder auf. Des Menschen kleines Spiel mit der großen Natur war vorüber.

Lukas war eben im Begriffe, die Veranda zu verlassen, als eine Stimme hinter ihm erklang:

»Ich sah es in der Dunkelheit nicht, daß wir Vater Delmege für seine Liebenswürdigkeit zu danken hatten.«

Es war Barbara Wilson. Lukas errötete vor Freude. Nach all seiner Vernachlässigung war ihm das Bewußtsein, ihr einen kleinen Dienst erwiesen zu haben, ein Trost. Dann sprach durch ihre Lippen aber auch seine Heimat und sein Vaterland zu ihm.

»Miß Wilson!« rief er aus. »Welch unerwartete Freude, Sie zu treffen! Ich wußte nicht, daß Sie sich mit Ihrem Vater auf Reisen befanden.«

»Es ist nicht mein Vater,« gab sie mit zitternden Lippen zurück, »es ist Louis. Sie werden ihn kaum wiedererkennen.«

Sie führte ihn hinüber an den Platz, wo Louis noch immer saß. Sein Gesicht war in die Nacht hinaus gewendet, und es war ein Antlitz des Todes. Seine düsteren Augen sahen nur Dunkelheit, und seine zitternden Hände griffen in die Luft, wie die Hände eines halberfrorenen Auswürflings nach der Wärme des Feuers. Sein Haar fiel auf die Schultern nieder, und es war weiß im trüben Gaslicht, nicht wie das ehrwürdige Silber des Alters, sondern wie der geisterhafte Glanz einer gebleichten, blutlosen Jugend. Er wendete bei der Stimme seiner Schwester den Kopf und versuchte aufzustehen, fiel aber hilflos wieder auf seinen Sitz zurück.

»Jawohl, natürlich, Vater Delmege,« sagte er, blickte aber nicht empor, sondern in die Nacht hinaus, während sein schwaches Gedächtnis nach den flüchtigen, entschwindenden Schatten der Vergangenheit suchte. »Natürlich, Vater, – bitte um Entschuldigung – wie geht es Ihnen, Sir? Ich hoffe, Sie befinden sich wohl.«

»Louis, Lieber, erinnerst du dich nicht mehr an Lisnalee und an Onkel und all die herrlichen Tage, die wir da verlebten? Das ist Vater Delmege, der immer so lieb war.«

»Gewiß, gewiß! Wie geht es Ihnen, Sir? Ich hoffe, daß Sie sich im besten Wohlsein befinden,« erwiderte der arme Kranke.

»Und nun, lieber Louis, versuche, aufzustehen! Morgen wollen wir nach Luzern, und du mußt Kräfte für die Reise sammeln. War die Beleuchtung nicht hübsch? Es war Vater Delmege, der uns so gütig seinen Platz überließ.«

»Gewiß, gewiß! Wieviel schulde ich Ihnen, Sir? Ich bezahle immer sofort. Aber Barbara, warum hast du sie dieses schreckliche Kalklicht auf die Bühne werfen lassen? Kein Künstler hätte es getan. Wenn Elfrieda sich von der Brücke zu stürzen hatte, mußte es in der Dunkelheit vor sich gehen. Ich sah sie; das hat sie gut gemacht, sag' ich Ihnen. Madame Lerida ist wirklich eine Künstlerin. Haben Sie diesen Schrei gehört? O! O!«

Barbara hob den Kopf und blickte traurig auf Lukas.

»Da, da!« rief Louis, noch immer irre, »da schwimmt sie den Strom hinunter, ihr langes Haar flattert hinter ihr, und die Stromschnellen stoßen sie von einer Seite auf die andere, Horch! Da ist es wieder! Elfrieda! Elfrieda!«

Das schrie er so laut, daß die Kellner mit dem Herrichten der Frühstückstische innehielten und ein paar furchtsame Gäste aus der Veranda flohen.

»Das geht so nicht,« sagte da Lukas gütig; »wir müssen ihn fortbringen.«

»Komm, Lieber!« bat Barbara und legte ihre Hand um Louis' Nacken. »Komm, es ist Zeit, sich schlafen zu legen.«

Er erhob sich mühsam, augenscheinlich ängstlich bestrebt, seinen Traum durch die Nacht und den Fluß hinunter zu verfolgen.

»Es war eine kluge Personifizierung,« fuhr er fort. »Der Sprung von der Brücke war einzig. Aber das gemeine Calcium auf eine solche Künstlerin in einem solchen Augenblicke fallen zu lassen, das war eine Beleidigung, Sir, das war eine Beleidigung!«

»Das ist Vater Delmege, lieber Louis,« bemerkte Barbara wieder, als Lukas dem armen Kranken vorwärts half. »Gelt, du erinnerst dich noch?«

»Natürlich, natürlich! Wie geht es Ihnen, Sir? Hoffentlich befinden Sie sich recht wohl.«

Lukas half den Gang entlang, blieb dann stehen und beobachtete am Fuß der Stiege die zwei Gestalten, die weißhaarige Ruine und die schlanke, geschmeidige Form der schönen Schwester, wie sie sich mühsam, Stufe um Stufe, zum zweiten Korridor hinaufmühten. Dann trat er auf die Straße hinaus. Der Vollmond war eben aufgegangen und warf seinen Schein über das Tal und den Wasserfall zu dem alten Schloß hinüber, das Wache hielt über der stürmischen Jugend des Flusses. Wie lächerlich und niedrig sind doch die schwachen Versuche der Menschen gegenüber den Taten des Allmächtigen! Die elende Illumination vor einer Stunde – welche Versündigung an der Majestät der Natur, jetzt, da die Natur selbst triumphierte! Lukas blickte hinunter ins Tal, aber er sah nur die zwei müden Gestalten, die sich die Treppe empormühten. Er sah einer Schwester Liebe des Bruders Schande zudecken. Er sah das alte griechische Opfer wieder: die Schwester setzte ihr Leben und ihre Ehre aufs Spiel, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Wie nichtig schienen ihm jetzt seine gelehrten ästhetischen Freunde! Wie verächtlich ihre traurigen Plattheiten! »Suche das Göttliche im Menschen!« Gab es je eine größere Blasphemie?

Und er selbst – was war sein Leben sieben lange Jahre hindurch gewesen? Im Vergleich mit der edlen Hingabe dieses jungen Mädchens, wie leer, hohl und jämmerlich waren seine schönen Predigten, seine würdevollen Plattheiten, sein Haschen nach Effekt gewesen! Zum ersten Male flüsterte ihm sein Gewissen »du Tor!« zu, aber zu schwach, um Beachtung zu finden.

Da legte sich eine Hand auf seinen Arm, und Halleck, die Zigarre aus dem Munde nehmend, sagte: »Ich würde Ihnen empfehlen, Mr. Delmege, Ihren jungen Freund so bald wie möglich nach Hause zu bringen. Es dürfte für Sie kaum angenehm sein, mit einem Leichnam zu reisen.«

Er ging auf sein Zimmer – ein sehr schönes Zimmer mit tadellos gewichstem Parkettboden – aber er konnte nicht schlafen. Er wollte es auch nicht. Was er begehrte, das waren ein paar Stunden Gedankenwollust. Er hatte ja so viel zu denken, und soviele Gedanken und Erinnerungen voll der Qual der Freude und des Entzückens des Schmerzes durchwühlten sein Gehirn. Er öffnete ein Fenster, durch das der Mond hereinflutete, und trat auf den Balkon hinaus, der über den Garten hinabhing. Die nächtliche Aussicht war beschränkt, denn der Garten zog sich zu einem kleinen Gehölze hinauf, wo, vom Mondlicht gestreift, das Gitterwerk eines Sommerhauses sichtbar wurde. Lukas lehnte sich über die Balustrade und überließ sich seinen Gedanken. Er war an einem Wendepunkt seines Lebens angelangt. – Gerade als die tiefen Töne der Kirchenglocke Mitternacht schlugen, war es Lukas, als höre er Stimmen unten im Garten.

»Hier kommen Lorenzo und Jessika,« murmelte er. »›Wie süß das Mondlicht schläft auf dieser Bank!‹ etc. Da muß ich mich zurückziehen.«

Ach nein! Keine Mondnachtliebenden, vom Schimmer ihrer Zuneigung und der Poesie des sie umströmenden Lebens umwoben, waren es, die da sichtbar wurden, sondern wieder die Menschenruine und ihr Schutzengel. Langsam traten sie aus dem Schatten ins Mondlicht, und Lukas schämte sich nicht, sie zu beobachten. Das arme graue Haupt lag schwer auf seiner Schwester Schulter, oder vielmehr auf ihrem Busen, während sie ihren Arm um seinen Nacken schlang und ihm beim Gehen half. Dieses zerwühlte, aufgeregte Gehirn konnte augenscheinlich keinen Schlaf finden, oder nur einen solchen, der mehr ermüdet als erfrischt. Langsam traten sie unter den Balkon, und Lukas vernahm die Gebete, die Barbara in ihres Bruders Ohren flüsterte – nur flüsterte, weil ihre rücksichtsvolle Seele ja keinen Schläfer über ihr stören wollte. Aber Lukas hörte das Geräusch der Rosenkranzperlen, die durch ihre Finger glitten, und sah das Silberkreuz im Mondlichte funkeln. Und weiter gingen sie, langsam, ganz langsam, während der Kies unter den schweren Tritten des Kranken knirschte. Und als sie vorüberwandelten, da sah Lukas das schöne, emporgerichtete Antlitz und das reiche schwarze Haar über der reinen, weißen Stirne. Und als er das Fenster seines Schlafzimmers leise schloß und seine Augen rieb, murmelte er:

»Sie ist unsterblich. Sie ist ein Geist und ein Symbol. Das ist meines Vaterlandes Heroismus und Sorge.«

Am folgenden Morgen trat Lukas, ohne einen Augenblick zu zögern, an den Tisch heran, wo Barbara und Louis saßen, und sagte: »Miß Wilson, wir müssen sofort heimkehren. Ich bin auf dem Wege nach Irland, und Sie und Louis müssen mitkommen.«

Sie stieß einen leisen Schrei freudiger Ueberraschung aus.

»Gott sei Dank! Der Wirt hat uns schon unsere Zimmer gekündigt.«

»Sehr gut! Machen Sie sich nur fertig!«

»Aber, Vater, wir dürfen Sie nicht von Ihrer Route ablenken!«

»Lassen Sie das meine Sorge sein! All unsere Bemühungen müssen jetzt darauf abzielen, Louis nach London zurückzubringen.«

»Und nach Irland. O, wie glücklich werden wir bei unserm lieben Onkel sein! Sie müssen nämlich wissen, daß er uns zu sich gebeten hat, bis Louis wiederhergestellt ist.«

»Freut mich sehr, das zu hören. Ihr Onkel ist ein guter Mann. Fassen Sie Mut, dort werden wir noch viele frohe Tage erleben!«

So tröstete und ermutigte Lukas Delmege, der Optimist, das einsame Mädchen auf ihrer mühsamen Reise nach Luzern, Genf, Paris und London, wo er die Geschwister nach Nr. 11, Albemarle Buildings, brachte mit dem Gefühle, daß er niemals glücklicher gewesen in dem erhebenden Bewußtsein, ein kleines Opfer gebracht zu haben.

Es war vorgerückte Nachtzeit, als Lukas aus der Schweiz angekommen war und Barbara mit ihrem Bruder in ihre Wohnung geleitet hatte. Er wandelte darauf durch die Stadt über die Themse der Kathedrale zu. Er dachte an viele Dinge – an Halleck, Dr. Drysdale, Barbara, Louis, Seathorpe, Lisnalee, England, Irland, an die Vergangenheit und die Zukunft. Um keinen Umweg zu machen, hatte er einen Weg eingeschlagen, der eine kurze Strecke durch die Slums führte. Aber er fürchtete sich nicht, denn er kannte die Gegend sehr gut. Das elende Pflaster war von keinem Lärm menschlichen Verkehrs belebt, denn es war bald Mitternacht. Eben bog er auf einen freien Platz ein, der ihm wohlbekannt war, denn er gehörte ehemals zu seinem Seelsorgsbezirk, als er einen Menschenauflauf sich um eine Droschke vor ihm ansammeln sah. Der behäbige englische Kutscher gestikulierte heftig. Im Vorbeigehen hörte er ihn in ärgerlichem und ungeduldigem Tone der herumstehenden Menge sagen:

»Ein halbverrückter alter irischer Pfarrer. Will irgendwo du unten jemand aufsuchen. Aber ich will des Teufels sein, wenn der alte Kerl weiß, wo. Er soll mich bezahlen oder ich komme ihm.«

Mitleid um einen Landsmann in Not, wenn es auch ein Häretiker wäre, ließ Lukas anhalten und herzutreten. Dabei hörte er aus dem dunklen Hintergrund eine tiefe Stimme ertönen:

»Hat der Herr je so eine stumpfsinnige Gesellschaft erschaffen wie diese Engländer? Sie kennen ihr eigenes Land nicht. Kommen Sie her, ehrliche Frau, und führen Sie mich! Gott sei Lob und Dank! Ist das nicht Lukas Delmege? Lukas! Lukas! Kommen Sie her! Das ist ja ganz wie in meinem Traum!«

Lukas trat näher und erkannte mit einiger Anstrengung den hochwürdigen Vater Meade, Pfarrer von Gortnagoshel.

»Was in aller Welt? –« wollte er eben ausrufen, als ihn Vater Meade unterbrach.

»Sie erhielten meinen Brief? Natürlich. Ich wußte ja, daß Sie für mich Ausschau halten würden. Aber ich konnte weder Tag noch Nacht Ruhe finden, bis ich hierher kam. Aber bei Gott, was ist das für ein Pack von Wilden! Sie kennen ihre eigenen Namen nicht. Sage diesem Grobian auf dem Bock, er solle uns nach Denham Court fahren.«

»Sie sind ja in Denham Court, Vater Meade,« sagte Lukas. »Auf welcher Wildgansjagd sind Sie denn jetzt begriffen?«

»Wildgansjagd? Meiner Treu, das ist es nicht, lieber Junge! Nun, suchen Sie mir Nr. 25 S – was auch das S sein mag!«

»Ah, ich verstehe!« erwiderte Lukas. »Fahren Sie uns nach 25 Süd, lieber Mann, gerade da hinüber.«

»Nun, soweit wäre es ja gut. Allua ist da,« flüsterte der greise Priester Lukas zu, »und ich bin ihretwegen hier.«

Er zeigte Lukas ein elendes Fetzchen Papier in einem noch elenderen Couvert, das mit Seife versiegelt, ohne Frankatur, tintenbeschmutzt und gelb war; und deutlich genug war darauf »Denham Court, 25 S., London, SW.« vermerkt.

»Was nun?« dachte Lukas. Laut aber sagte er: »Sie kennen vielleicht, Vater Meade, den Ruf dieses Ortes und seiner Nachbarschaft nicht. Das ist ein Ort, an dem man sich sehr in acht nehmen –«

»Ich kenne ihn weder, noch kümmere ich mich darum,« entgegnete der greise Priester. »Alles, was ich weiß, ist, daß Allua dort ist und daß sie sich im Elend befindet und nach mir verlangt hat. Und da bin ich nun. Bleiben Sie hier, guter Mann,« wandte er sich an den Kutscher. »Wenn Sie den Platz irgendwie verlassen, werde ich Sie gerichtlich belangen.«

»Ist schon recht, Sir,« gab der Kutscher zurück; »aber Sie werden dafür zu bezahlen haben.«

»Kommen Sie, Lukas!« sagte vornehm Vater Meade, als er kühn in das elende Haus trat und die verfallenen Treppen hinanstieg.

Im ersten Stock klopfte er nacheinander an vier Türen an. Man hörte zwar Stühle verschieben, aber es kam keine Antwort. Wieder gings die knarrende Stiege hinan und wieder klopfte er und erhielt keine Antwort.

»Sie sind alle im Schlafe oder tot,« sagte er.

Höher und immer höher ging's hinauf, bis sie zu einer Dachstube kamen. Hier hörten sie sprechen. Sie betraten ein elendes Zimmer. Ein mattes Licht brannte in einem Zinnleuchter. Und bei der schwachen Beleuchtung sahen sie eine elende Matratze, auf der eine Kranke in den letzten Stadien der Auszehrung lag. Sie war alt und grau, aber ihre Augen waren jung, als sie sich auf den Priester richteten.

»Sie erhielten meinen Brief,« sagte sie leise in englischem Dialekt.

Vater Meade zögerte. Niemand außer dem Vater im Himmel konnte in dieser armseligen menschlichen Ruine das Kind wiedererkennen – das Kind vor so vielen Jahren. Und der englische Dialekt verwirrte Vater Meade vollständig.

»Sind Sie Allua?« fragte er zweifelnd.

»Ich bin es,« erwiderte sie schwach. »Sie sind auch verändert, Vater! Aber die gebenedeite Gottesmutter sandte Sie mir. Nehmen Sie mich fort!«

Vater Meade zögerte. Er rühmte sich stets, ein »Mann von Welt« zu sein; und wenn er je bei einem Visitationsdiner des Bischofs Gesundheit auszubringen hatte, so begann er die Litanei seiner Lobsprüche stets damit, daß er erklärte, Seine Lordschaft sei vor allem ein »Mann von Welt«. Er war nicht der Mann, der sich von einem Mädchen, das englischen Dialekt sprach, so leicht überrumpeln ließ.

»Ich kam um Ihretwillen,« erwiderte er, »aber ich will meiner Sache sicher sein. Wiederholen Sie die Zeilen noch einmal!«

Die arme Kranke lächelte über die Torheit. Aber sie nahm ihre Kräfte zusammen und wiederholte:

Es liegt eine Insel in Gougaune Barra,
Wo Alleluja-Sänge wie Pfeile entfliegen.

»Gut,« sagte Vater Meade. »Und Sie sagten?« Er spitzte seine Ohren.

»Ich sagte ›Alleluja-Sänge‹, weil die Priester die ganze Woche damals Alleluja sangen.«

»Gut,« erwiderte Vater Meade. »Und ich sagte?«

»Sie sagten: ›Meine lieben Kinder, wo ihr auch immer sein mögt, im Norden, Süden, Osten oder Westen, denkt immer daran, daß ich euer Vater und Freund bin; und wenn ihr je in Not kommt, so wendet euch an mich und ich werde euch zu Hilfe eilen.‹«

»Hören Sie auf!« rief jetzt Vater Meade. »Geht her, ihr jungen Dinger, kleidet sie mir sofort an und zwar rasch,« herrschte er die zwei Mädchen an, die vor der schrecklichen Gegenwart der Priester zurückgetreten waren.

Die zwei Priester gingen die Stiegen hinab, Lukas verwirrt und Vater Meade voller Jubel.

»Wir mögen sagen, was wir wollen, Gott übertrifft uns alle,« rief er. »Immer wenn wir denken, wir tun etwas aus uns selber, dann kommt er und zeigt seine Hand.«

»Wohin wollen Sie denn das arme Mädchen bringen?« fragte der praktische Lukas.

»O, daran habe ich noch gar nicht gedacht,« erwiderte Vater Meade. »Ich bringe sie in irgend ein Hotel und dann geht's nächsten Morgen nach Limerick weiter. Natürlich glaubt sie, ich wisse nichts; ich weiß aber alles.« Und er blinzelte Lukas zu.

In einigen Minuten kamen die Mädchen schon die Treppe herab, wobei sie die Kranke zwischen sich trugen. Die Hoffnung und ihre Verwirklichung hatte sie aufgerichtet und sie sah fast kräftig aus, als sie den schrecklichen Ort verließ.

»Sie wollen dieses Mädchen doch nicht mit in den Wagen nehmen?« fragte der Kutscher.

»Meinen Sie? Schauen Sie übrigens auf sich, oder ich helfe Ihnen, mein Bester.«

»Dann werden Sie aber dafür bezahlen, das sag' ich Ihnen,« erwiderte der Mann in seiner Verwirrung.

Sanft und ehrerbietig hoben sie das arme Mädchen in die Droschke, während Lukas bewegungslos dabeistand. Er fragte sich, was wohl Amiel Lefevril zu solch göttlichem Altruismus sagen würde. Die zwei Mädchen traten unter die Türe. Sie hatten ihrer Gefährtin Lebewohl gesagt. Sorge, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung standen auf ihren Gesichtern. Und eben als der Kutscher sein Pferd antrieb und sie weiterfuhren, da streckten sie in einer plötzlichen Gebärde ihre Hände aus und schluchzten:

»Vater, Vater, verlassen Sie uns nicht!«

»He? he? Was ist das? Was ist los? Halten Sie doch an, Sie elender Kerl, oder ich schlage Sie nieder! Kommt her, meine armen Mädchen! Was wollt ihr denn?«

»Wir wollen mit Ihnen gehen, Vater, wohin es auch sei, irgendwohin. O, um Gotteswillen, Vater, verlassen Sie uns nicht!«

Was sollte er anfangen? Es war zwar höchst unklug; aber er besaß zu viel Vertrauen auf Gott, um zu zögern.

»Kommt mit!« rief er, während der Kutscher fürchterlich schimpfte und Lukas staunend und verdutzt dreinstarrte. »Kommt mit und laßt Gott fürs Weitere sorgen!«

Am nächsten Morgen sprach er bei Wilsons vor. Er fand, daß Louis wieder auflebte. Es war eine ganze Reaktion nach der Reise eingetreten. Lukas erzählte ihnen dann unter Lachen und Grausen von dem Don Quichote-Streich Vater Meades.

»Er nimmt sie nach Limerick mit,« sagte er, »ins Magdalenen-Asyl. Ich habe nämlich eine Schwester in diesem Kloster, Miß Wilson. Vielleicht habe ich gelegentlich das Vergnügen, Sie mit ihr bekannt zu machen. Wenn wir einmal Zeit haben, sprechen wir dort vor.«

Zu seiner Ueberraschung bemerkte er, wie sie aufsprang und ihre Hand mit einer Bewegung des Schmerzes auf ihr Herz preßte. Schon der bloße Gedanke an gefallene Mädchen war für diese reine Seele eine solche Ueberraschung und Erschütterung. Magdalena ist doch die teuerste Heilige neben dem gebenedeiten Kreise der Menschwerdung, – wie kommt es, daß dieser teure Name trotz all seiner Süßigkeit einen Stachel der Qual in sich schließt?

»Man muß ihr von Margarets unzarten Bemerkungen erzählt haben,« dachte Lukas.

»Es ist also ausgemacht,« sagte er. »Ich werde pünktlich auf den einhalb neun Uhr-Zug im Euston-Bahnhof eintreffen. Sie beide werden ebenfalls dort sein. Ist Ihnen das so recht?«

Natürlich. Ganz einverstanden. Alles ging jetzt scheinbar glatt von statten.


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