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XXXI.
Die Gegner messen sich

Mrs. Delmege lag auf ihrem Totenbette. Die Aerzte waren gerufen worden und hatten ihre Köpfe geschüttelt. »Das ist mors«, sagte einer zum andern. Und die Umgebung der armen Kranken verstand es. Und sie selber verstand es auch.

»Gott sei Dank!« sagte sie. »Er hat mir ein langes und glückliches Leben verliehen; und nun ruft er mich zu sich. Sein heiliger Wille sei gelobt! Nur um Mike tut's mir leid. Er wird so allein sein. Aber ich bin auch wieder froh, daß ich nicht an seinem Sarg zu stehen brauche.«

Lukas war in Lisnalee eingetroffen. Als er das Krankenzimmer betrat und seine Mutter fragte, wie sie sich befinde, faßte sie nur seine Hand, seine priesterliche Hand, und küßte sie leidenschaftlich. Dann sprach sie vom König der Schrecken mit solcher Verachtung, daß er sein Haupt verbarg und ganz beschämt war.

»Was soll ich denn fürchten?« fragte sie. »Es ist doch ebenso natürlich, zu sterben wie zu leben; und was ist das Sterben denn anders, als ein Heimgehen zu Gott? Ich habe alles gehabt in meinem Leben, was ich brauchte. Meine Tochter ist im Kloster, und mein Sohn,« hier küßte sie Lukas' Hand wieder, »dient am Altare Gottes. Was könnte ein armes Weib mehr wünschen?«

»O, ich denke noch wohl daran,« fuhr sie fort, »als du, Vater Lukas, nur ein zappelnder Bube in meinen Armen warst; und so ein lieber Schelm warst du! Vater Dimpsey, der Vorgänger Vater Pats, den Gott segnen möge und alle unsere guten Priester, hatte immer den größten Spaß mit dir. Und eines Tages, als du seinen großen, knochigen Finger mit deinen kleinen Händchen faßtest und nicht mehr loslassen wolltest, da sagte er: ›Mrs. Delmege, sollen wir einen Bischof aus ihm werden lassen?‹ ›Ich wäre schon zufrieden‹, entgegnete ich, ›wenn ihn der Herr nur einen Priester werden ließe.‹ Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, und was kann ein armes Mutterherz mehr wünschen?«

»Du wirst wieder gesund werden, Mutter,« sagte Lukas weinend, »und wir werden noch viele frohe Tage in Lisnalee verbringen.«

»Nein! Der Tod hat mich schon gefaßt. Und wie viele Messen, Vater Lukas, willst du für mich lesen, wenn ich gestorben bin?«

»Das hängt von meinen anderen Verpflichtungen ab. Aber du kannst sicher sein, Mutter, daß ich bis zu meinem Tode niemals eine Messe lesen werde, ohne deiner zu gedenken.«

»Beim Memento der Toten?«

»Ja!«

Es entstand eine lange Pause. Der feine Instinkt des irischen Bauern, der sich scheut, einen delikaten Gegenstand zu berühren, und die tiefe Ehrfurcht vor der priesterlichen Würde ließen die Mutter schweigen. Dann trug ihre große Liebe aber doch den Sieg davon.

»Und wie kommst du denn mit deinen neuen Pfarrkindern aus?« fragte sie.

»O, recht gut!« erwiderte Lukas leichthin.

»Die Leute sind gut,« sagte sie, »aber eifersüchtig auf ihre Priester. Sie verehren die Erde, die ihr betretet; aber ihr müßt auch freundlich zu ihnen sein und das ›Guten Morgen!‹ und ›Grüß Gott!‹ nie vergessen. Ich habe von Leuten, da, wo du früher warst und die kleine Aufregung überstehen mußtest, sagen hören, sie würden für dich durchs Feuer gehen. Aber sie haben ihre kleinen Eigenheiten, die man ertragen muß.«

»Hat der Kanonikus schon vorgesprochen?« fragte Lukas, den Gegenstand plötzlich verlassend.

»Oft und oft, Gott segne ihn!« erwiderte sie. »Erst gestern Morgen las er hier auf dem Tisch die hl. Messe. Man könnte ihn für eine Frau halten, so lieb und gut ist er.«

»Und Vater Cussen?«

»Er ist jeden Tag da, und manchmal sogar zweimal, der arme Mann –«

»Und Vater Meade und Vater Martin kommen auch oft!« rief Lizzie dazwischen, die, mit ihrem Kind auf den Armen, eingetreten war.

»Das freut mich sehr,« sagte Lukas, während Lizzie ihr kleines Kind neben ihre Mutter ins Bett legte. Und da lagen sie nun, die eine am Ende ihrer Pilgerfahrt, das andere am Anfang, und beide in den Händen des Allvaters.

Der Kanonikus erschien Lukas mehr als je gealtert. Seine schlanke Gestalt war etwas gebeugt, wenn er sich auch bemühte, mehr als je aufrecht zu gehen, und die Blässe des Alters lag recht bemerkbar auf seinem Antlitz. Etwas wie sanfte Resignation schien über seinem ganzen Wesen zu schweben, als ob er nach einem Leben voller Bemühungen erkannt habe, daß alle Dinge nichtig und hohl seien im Lichte der einen Wirklichkeit. Er fragte Lukas sofort, ob er etwas von Barbara gehört habe. Ihr Schicksal schien das einzige zu sein, was ihn vom Leben noch interessierte. Lukas hatte nichts vernommen.

»Es liegt auch nicht viel daran,« meinte der Kanonikus. »Sie ist jedenfalls sicher geborgen unter dem Schutz eines Klosters. Und nach und nach wird sie die ihr gebührende Stellung erreichen.«

»Es ist wirklich auffällig, daß sie Ihnen nicht geschrieben hat,« erwiderte Lukas. »Das schwarze Tuch, das man bei der Profeß über eine Novizin wirft, bedeutet zwar den Tod für die Welt. Aber kein Orden ist so streng, daß er die Korrespondenz mit Verwandten ganz verbieten würde.«

»Vielleicht hält sie die Familienehre – oder soll ich es Stolz nennen? – zurück. Wenn sie erreicht hat, was sie will, wird sie schon schreiben.«

»Ich muß gestehen,« meinte Lukas, »daß die Frage ehrender Bevorzugungen mir ganz gleichgültig geworden ist. Sie scheinen über der Menschen Häupter wie durch Zufall verstreut zu werden.«

»Sehr richtig, mein junger Freund! Und als Beispiel dessen, was Sie sagen, habe ich soeben einen Brief erhalten, worin mir mitgeteilt wird, daß ein junger Geistlicher, der seinerzeit, wie Sie sich noch erinnern werden, eine Stellung am Diözesanseminar erhielt, die eigentlich Ihnen gebührt hätte, jetzt zum Mitglied des Diözesankapitels befördert worden ist, als ob die ihm letzthin verliehene Auszeichnung noch keine genügende Anerkennung seiner Dienste wäre.«

Lukas war verblüfft. Ihm war die Nachricht noch unbekannt gewesen. Er wollte schon herausplatzen: »Und der hatte nicht einmal die geringste Auszeichnung im Kolleg erhalten,« als eine innere Stimme ihm gebieterisch zurief: Schweigen! Denn Schweigen ist deiner allein würdig!

Aber die Wunde war geschlagen und schmerzte. Aufgeregt und wie geistesabwesend betrat er das Bibliothekzimmer in Seaview, um Vater Martin Hughes und Vater Cussen zu treffen. Der letztere warf einen Ball unter dem großen Tische des Zimmers hin und her, unter dem Tiny und Tony, die jetzt größer geworden waren, schreiend und lärmend nach ihm haschten. Als Lukas gemeldet wurde, hatte der Spaß ein Ende, und die Kinder verließen das Zimmer.

Nach einigen Worten gegenseitiger Begrüßung und liebevoller Erkundigungen nach dem Befinden seiner Mutter, ging das Gespräch zwischen Vater Martin und Lukas auf allgemeine Gegenstände über. Vater Cussen – einer jener ruhelosen, ungeduldigen Geister, die immer in Bewegung sein müssen – ging in dem großen Zimmer auf und ab; bald packte er ein Buch und las den Titel, dann legte er es wieder ungeduldig weg, während er die ganze Zeit an seiner Uhrkette herumzerrte, als ob er die einzelnen Glieder auseinanderreißen wollte. War es George Eliot, die über die unvermeidliche Konvergenz von verschiedenen Lebenswegen sprach, die scheinbar wie die Pole auseinanderlagen? Und von verschiedenen Linien menschlichen Denkens, die für immer von Einflüssen, die weit von einander und ihren Gegenständen getrennt schienen, verschoben und geändert wurden? Es ist ja unvermeidlich, daß zwei Linien, die nicht ganz parallel laufen, sich schneiden müssen, wenn sie weit genug im Raume verlängert sind. Es ist unvermeidlich, daß der russische Bär den britischen Löwen in den Engpässen des Himalaya einmal umarmen wird; und es war unvermeidlich, daß Lukas Delmege und Henry Cussen sich trafen und das große Problem, für das jeder seine eigene Lösung hatte, gründlich besprachen. Vater Martin fühlte ebenfalls, daß das Unvermeidliche eingetreten war, und er bemühte sich mit sanften Worten und liebenswürdigen Kunstgriffen, das Aufeinanderprallen der Gegensätze zu mildern.

»Die Mutter ließ es sich nicht nehmen,« sagte Lukas unbefangen, »mir eine kleine Strafpredigt über die unglückliche Geschichte in N– zu halten. Sie sieht eben nicht ein, die arme Seele, daß wir Pflichten gegen unser Volk haben, die weniger angenehm als notwendig sind.«

»Und so kam denn Vater Pat herüber,« sagte Martin Hughes, der Lukas auf eine andere Fährte bringen wollte. »Er hat mich aufgegeben, seit der arme Vater Tim zur ewigen Belohnung einging.«

»Natürlich,« fuhr Lukas fort, »kann jeder gut, leicht und bequem leben, wenn er eben nichts tut. Dann kann niemand etwas auszusetzen haben; aber man kann in Irland unmöglich seine Pflicht tun und dabei populär bleiben.«

»Das ist aber nicht die Moral Lisnalees,« bemerkte Vater Martin. »Jeden Priester liebt man dort, weil man bloß einen Gradmesser kennt: – Liebt er das Volk?«

»Zwischen Liebe und Liebe ist aber ein Unterschied,« sagte Lukas. »Es gibt die übertriebene Liebe einer törichten Mutter und die weise Liebe eines verständigen Vaters. Und die erstgenannte war unser Erbteil von Anbeginn. Die Welt sagt uns: Es ist jetzt Zeit, daß wir uns ändern.«

»Die Welt? Welche Welt?« fragte Vater Cussen und wandte sich hastig um.

»Die Welt des Fortschrittes und der Zivilisation,« erwiderte Lukas ruhig.

»Ach was!« rief Henry Cussen. »Die Welt, die wir kolonisieren und zivilisieren, wagt uns Vorschriften zu machen!«

»Mein lieber Vater,« entgegnete Lukas, »das sind ja rein insulare Anschauungen! Wenn wir uns nicht die besten Sitze auf dem Wagen des modernen Fortschrittes erobern, werden wir unter seinen Rädern zertrümmert werden.«

»Worin besteht denn eigentlich dieser sogenannte moderne Fortschritt?« fragte Vater Cussen, seinen Gegner scharf ins Auge fassend. »Wir hören zwar immer davon, sehen aber nichts.«

»Es ist seltsam, daß Sie mich um die Definition von etwas fragen, das so sichtbar und greifbar ist. Fortschritt ist der unüberwindliche Vorwärtsmarsch der Menschheit zum letzten Ziele der Rasse.«

»Und was kann das sein?«

»Was das sein kann? Nun, einfach die vollkommene Glückseligkeit des Individuums und die Vervollkommnung der Rasse.«

»Warum stören wir aber dann die vollkommene Glückseligkeit des Wilden und zwingen ihn mit Pulver und Dynamit, ebenso unglücklich zu sein, wie wir?«

»Ach, das ist ja eine bloß sinnliche Glückseligkeit! Wir erziehen den Wilden zum höheren Ideal.«

»Und haben wir Erfolg damit?«

»Ganz gewiß!«

»Und Sie wollen nun auch unser irisches Volk zu einem höheren Ideal erziehen?«

»Gewiß!«

»Sagen Sie mir nur das eine: Können Sie sich, selbst bei Ihrer Kenntnis der vornehmen englischen Gesellschaft, ein höheres Leben denken, als dasjenige Ihrer guten Mutter, das jetzt ein Tod beschließt, um den sie der größte Philosoph beneiden könnte?«

»Das ist ein Ausnahmefall,« verteidigte sich Lukas schwach. »Ich habe mich auch stets gewundert, wie es dem Kanonikus gelungen ist, das Niveau der Lebensführung zu erhöhen; überall scheinen ja sonst unsere Anstrengungen zum Scheitern verurteilt zu sein.«

»Das Niveau der Lebensführung?« wiederholte Vater Cussen verächtlich. »Das scheint der einzige Gedanke eures modernen Fortschrittes zu sein, der Gottesdienst des Leibes, sonst auch die Religion der Humanität genannt.«

»Es ist der Geist der Kirche in unserer Zeit, daß wir uns auf gleicher Höhe mit dem modernen Fortschritt halten.«

»Jawohl! Aber was ist denn moderner Fortschritt? Meinen Sie damit den Zirkuswagen, der in roten und goldenen Gestalten mit den Abscheulichkeiten der Hölle bemalt ist und dessen Zügel der Teufel lenkt; oder meinen Sie das langsamere, aber sicherere Fahrzeug, das zur Ewigkeit führt?«

»Ich verstehe Ihre Bildersprache nicht,« entgegnete Lukas ungeduldig. »Ich behaupte nur, daß die Humanität einen Anspruch auf die Kirche hat; daß die Kirche ihn zugibt; und daß sie daher jedes Element begünstigt, das auf die Besserung des Volkes abzielt.«

»Gewiß! Aber was wollen Sie denn mit der Besserung des Volkes sagen? Wenn Sie eine Hebung und Besserung seiner sozialen Lage, die von einer geistigen und moralischen Hebung begleitet ist, meinen: concedo; wenn Sie aber nur den Erwerb von Reichtum mit seinem Gefolge von Laster und Gemeinheit im Auge haben: nego.«

»Aber warum soll denn Reichtum Laster und Gemeinheit heraufbeschwören?« fragte Lukas verwirrt.

»Weil Mammon eine im Grunde seines Wesens gemeine Gottheit ist; so gemein wie Bacchus, so schändlich wie Aphrodite und so unersättlich wie Moloch. Weil sich noch keine reiche Nation durch Erziehung und Bildung ausgezeichnet hat, wohl aber durch Roheit und Sinnlichkeit. Beweis: Babylon und Rom, von den modernen Reichen, die ähnlicher Vernichtung entgegengehen, gar nicht zu sprechen. Und was von Staaten gilt, gilt auch von Individuen; und der moderne, schlecht erworbene, schlecht verteilte und schlecht angewandte Reichtum erzeugt nur auf der einen Seite aufgeblasene Lebemänner und auf der andern gottlose, mörderische Hungerleider. Wenn Sie nun meinen, die Kirche Gottes fahre als Passagier zweiter Klasse mit diesem Zerstörungswagen, den der Teufel lenkt, dann sind Sie arg auf dem Holzwege.«

»Der Kirche können aber die Interessen der Menschheit doch nicht gleichgültig sein. Ihre Rolle im zwanzigsten Jahrhundert muß eine wesentlich humanitäre und philanthropische sein.«

»Gewiß! Das ist sie schon immer gewesen. Aber mit ihrem eigenen zur Ewigkeit führenden Licht, nicht als blinde Dienerin des Staates.«

»Wie mir scheint, wollt ihr beide mit verschiedenen Worten dasselbe sagen,« fiel Vater Martin milde ein.

»O, nein!« rief Vater Cussen. »Wir stehen weiter auseinander, als die zwei Pole. Delmege tritt für die Zeit ein, ich für die Ewigkeit; er für den Körper, ich für die Seele; er für das Reale bloß, ich für das Reale und Ideale. Im Gegenstand, wie in der Methode, sind wir wesentlich verschieden. Aber es hat keinen Wert, im Kreise herum zu argumentieren. Nehmen Sie das Konkrete!«

»Einverstanden. Wählen Sie Ihre Typen und zeigen Sie, was fortschrittlich und was rückschrittlich ist!«

»›Ich dank' dir, Jude, für dies Wort!‹ Ich wähle also meine Typen, und zwar den höchsten und den niedersten Typus nach Ihrer Schätzung, den neapolitanischen Lazzarone und den britischen Arbeiter. Genügen Ihnen die zwei?«

»Vollkommen! Sie konnten gar keine besseren Beispiele der Trägheit auf der einen und der Regsamkeit auf der anderen Seite finden. Die Götter haben Sie in meine Hände gegeben, Vater Cussen!«

»Nun lassen Sie nur mal sehen! Mein malerischer Südländer nimmt morgens ein Frühstück von trockenem Brot und schwarzem Kaffee zu sich, geht dann aus und streckt sich behäbig auf der Brüstung der Kaimauer aus, die den entzückenden Golf umgibt. Er ist aber wirklich pittoresk! Er ist ein hübscher Zigeuner, zwar in Lumpen gehüllt, aber malerisch anzuschauen. Zu einem bescheidenen Mittagessen kehrt er dann heim, hält Siesta, kramt ein bißchen im Hause herum und spielt mit seinen halbnackten, aber gesunden Kindern. Dann schlendert er wieder an den Strand hinab, macht einige Witze über englische Touristen, und nach einem Abendessen von Makkaroni und saurem Wein nimmt er an einem improvisierten Konzert am Meere teil und singt die Sterne an. Ist das Gemälde richtig?«

»Ganz richtig! Ich kann mir ein nutzloseres Wesen, einen seelenloseren Tagedieb nicht mehr vorstellen.«

»O, nicht seelenlos! So sagte ich nicht. Dieser Mann verehrt Gott auf seine Art; und die Weiblichkeit in seiner liebenden und geliebten Madonna. Und Italia! Italia! Seine Göttin und Königin! Und nun der britische Arbeiter!«

»Nur zu! Sie sinken tiefer im Sumpfe.«

»Ja, mein Muster des Fortschritts und der Aufklärung ist sehr unmalerisch und prosaisch. Er ist nicht in Lumpen, aber in Kohlenstaub und in eine – Pfeife gekleidet. Jeden Montag morgen fährt er nieder zur Hölle; und da gräbt und wühlt er beim Scheine eines Grubenlichtes in Hitze und Düster, wenn er nicht von einer Gasexplosion in Atome zerrissen wird. Er kommt an die Sonne herauf, das heißt, was man so nennt, denn die Sonne scheint niemals über England, und erhält seinen Lohn – drei Pfund wöchentlich. Dann säuft er den ganzen Samstag hindurch und säuft und schläft den ganzen Sonntag hindurch. Einen Gott kennt er nicht; und Montag früh fährt er wieder zur Hölle hinunter.«

»Er ist aber doch wenigstens ein Produzent,« rief Lukas, der fast die Fassung verlor. »Er versteht die Heiligkeit und den Adel der Arbeit. Er ist kein verächtlicher Parasit, der von der Arbeit anderer lebt.«

»Das gleiche können Sie auch vom Pferde und vom Esel behaupten. Ist aber mein Neapolitaner nicht in jeder Hinsicht glücklicher, besser, edler, als –«

»Glücklicher? Das ist eine Täuschung. Die Menschen sind nicht zum Glück auf der Welt, sondern –«

»Sie haben ganz recht. Sie widersprechen sich aber selber, Delmege! Sie sagten doch soeben, daß der ganze Zug und die Tendenz dieses modernen Fortschritts auf das Glück der Mehrzahl hinausläuft.«

»Gewiß! Das läßt sich aber nur durch Entsagung, durch die Selbsttötung erwählter Seelen erreichen.«

»Aber so hören Sie doch einmal, Delmege! Ich will Sie nicht verletzen; aber das ist ja alles Unsinn, nur Phrasenschwall und Täuschung von solchen, die der Welt vorschreiben wollen, was die Kirche Gottes allein nur leisten kann. Sie wissen so gut wie ich, daß all die moderne Begeisterung für Humanität nur ein Bettlergewand um die Götzen der Welt ist. Nur in der Kirche Gottes gibt es wahre Nächstenliebe. Alle Humanität außer ihr ist nur politische Selbsterhaltung, wobei die Interessen des einzelnen in den Interessen des Staates aufgehen. Wenn Sie dafür einen Beweis haben wollen, so gehen Sie nur in die Gefängnisse und Arbeitshäuser! Oder gehen Sie an unsere Landungsplätze, wo Bettler und hilflose Geisteskranke an unseren irischen Küsten abgeladen werden, weil ihr ärmlicher Unterhalt, ein paar Schillinge die Woche, nachdem sie während ihrer besten Jahre den Mammontempel in England und Amerika aufbauen halfen, die Majestät dieses mächtigen Gottes herabsetzen würde! Das ist die große Fiktion des Protestantismus: der Staat, die Humanität, die Rasse usw. Sagen Sie mir aber nichts mehr von der Majestät der individuellen Seele!«

»Das ist ja alles ganz schön gesagt, Cussen, wie schöne Worte überhaupt der Fluch unserer Rasse sind. Aber während all Ihre Theorien die Städte und Dörfer Munsters entvölkern, macht Belfast an Volkszahl und Reichtum riesige Fortschritte.«

»Einen Augenblick! Die Dörfer und Städte unseres Südens entvölkern sich. Warum? Weil der große Gott Mammon seine Apostel und Missionare zu uns schickt; weil jeder Brief von Amerika ein Appell an die Habgier und Vergnügungssucht ist, der die spartanische Einfachheit und Strenge unserer Rasse untergräbt. Die gasbeleuchteten Herrlichkeiten New Yorks und Chikagos rivalisieren erfolgreich mit den zarten, keuschen Schönheiten irischen Lebens und irischen Landes. Weil es die keusche Einfachheit des heimatlichen Lebens verachtet und den heuchlerischen Glanz des Städtelebens dafür eintauschen will, nur darum flieht unser Volk sein Vaterland. Aber Sie sprachen doch von Belfast?«

»Jawohl,« sagte Lukas, »während alles hier unten ein Morast der Verzweiflung und des Elends ist, haben wir droben im Norden eine Metropole des Glanzes, Reichtums und Fortschrittes.«

»Schon wieder Fortschritt! In des Himmels Namen, Mensch, sind Sie noch ein Christ und ein Katholik?«

»Eben weil ich beides, das eine wie das andere, bin, sehe ich das unvermeidliche Aufgehen unserer Rasse in der stärkeren Rasse, oder ihr völliges Hinschwinden unter den überwältigenden Einflüssen modernen Lebens. Wenn wir nicht modern werden, ist's aus mit uns.«

»Haben Sie aber auch erwogen, was wir verlieren, wenn wir modern werden? Ist das Spiel denn die Kerze wert? Passen Sie mal auf: Voriges Jahr radelte ich durch den Norden Irlands –«

»Das überrascht mich aber,« gestand Lukas.

»Was überrascht Sie denn?«

»Daß Sie so modern sein können, überhaupt zu radeln!«

»Schon gut! Ich kam nach Portrush und kehrte in einem der dortigen großen Hotels ein.«

»O, nicht doch!« warf Lukas sarkastisch ein. »Sie kehrten doch in einer Hütte am Wege ein und ließen sich Kartoffeln zum Mittagessen auftragen.«

»Jawohl,« fuhr Vater Cussen fort, »wir waren während einer Woche eine hübsche, fröhliche Gesellschaft bei einander – ein paar sehr nette englische und schottische Familien, die zum Lochballspiel herübergekommen waren –«

»Das ist ja nicht möglich! Sie träumen wohl. Mann! Wie stimmt denn das zusammen: Engländer sein und hübsch?« fragte Lukas.

»Jawohl, und das Pandämonium brach Samstag nachmittag über uns herein. Zug um Zug brachte uns die Träger des Fortschritts aus Belfast – eine laute, lärmende, unförmliche Bande mit roten Gesichtern, die ihr Geld überall zur Schau trug und alle Korridors und Zimmer mit einem Dunst von Schnaps erfüllte. Sie tranken Champagner mit Likör den ganzen Samstag hindurch, und den Sonntag verbrachten sie am Strande mit Operngläsern und in der Schenke mit Champagnergläsern. Die erschreckten Sachsen schlossen sich in ihren Zimmern ein. Am Montag morgen zogen sie um sieben Uhr wieder ab –«

»Und jeder war um zehn Uhr in seinem Bureau,« fiel Lukas triumphierend ein.

»Ja, das ist euer Fortschritt! Sehen Sie sich aber jetzt einmal die Kehrseite der Medaille an! Letzten Monat war ich drunten in Croßhaven, am Ausgange von Cork Harbor. Es war Sonntag. Dampfer um Dampfer setzte seine Anzahl von Fahrgästen ab – bleichgesichtige Handwerker aus der Stadt mit ihren jungen Frauen und kleinen Kindern, die Körbe mit Vorräten trugen; lachende Studenten, Kaufleute; Handelsbeflissene und Leute aller Stände, die etwas Seeluft atmen und ein paar Stunden Erholung suchen wollten; eine Schar hellgekleideter, junger Mädchen usw. usw.«

»Erzählen Sie nur weiter, weiter!« sagte Lukas. »Sie malen die Situation sehr gut aus!«

»Ich sah sie, diese echten Iren,« fuhr Vater Cussen bewegt fort, »wie sie die schimmernde Straße zum Meer hinuntergingen; ich sah sie auf den Klippen; ich sah sie an der Brandung – eine glückstrahlende, frohe Menge! Ich sah sie ihren einfachen Proviant auspacken – ein oder zwei belegte Brötchen, eine Flasche Limonade, einige Kuchen und Orangen für die Kinder. Ich wanderte durch die Gruppen hin, so nahe, daß ich jedes Wort hörte, das sie sprachen. Ich sah neugierig über die Schultern eines jungen Handwerkers. Er las ›Sesam und Lilien‹. Und ich sah sie am Abend heimkehren – eine glückliche, frohe, anständige, gebildete Schar; da gab's kein Schieben und Drängen, sondern nur keltische Höflichkeit und keltischen Witz und Humor. Und dann dachte ich an Portrush und an ihre Landsleute, die in den stinkenden Mietshöhlen New Yorks dahinsiechen oder in den Wirbelstürmen der westlichen Staaten nach ein bißchen Luft schnappen. Und ich dachte, der Fortschritt besteht nicht in meilenlangen hellerleuchteten Straßen oder in Millionen aufeinander getürmten Backsteinen, sondern in menschlichen Seelen, die gelernt haben, ihre Würde zu erkennen und das weite Universum ihres ewigen Erbteils!«

»Ich wende ja gegen Ihre Beweisführung nichts ein,« meinte Lukas sanft. »Löst sie jedoch das Problem, das zwar keine Lebenstheorien, aber die Existenz unserer Rasse bedroht? So lautet es nun einmal: Können Sie eine via media zwischen der modernen Kultur und der irischen Reinheit und Glaubenstreue finden? Wenn Sie die Methoden der ersteren verschmähen, steht die ganze Existenz der Iren als Rasse auf dem Spiel. Nehmen Sie sie aber an, dann verschwinden alle glorreichen Merkmale der Rasse und ihr Glaube aus der Welt. Da kommt der moderne Fortschritt wie eine große, seelenlose Maschine angefahren. Nur einen Ausweg gibt's, wenn man nicht von ihr zertreten werden will, und der heißt: mitgehen! Was wird aber dann aus dem zarten Glauben und der süßen Einfalt irischer Unschuld und Hilflosigkeit?«

»Wir können uns unsere eigene Kultur schaffen. Das ist, weiß Gott, unser Grundfehler, daß wir Nachahmer sind, statt Schöpfer zu sein.«

»Und was soll uns unterdessen retten? Englische Allmacht schiebt von hinten, und amerikanische Anziehungskraft zieht von vorn. Was kann uns retten?«

Vater Cussen schwieg einen Augenblick. Dann hob er feierlich seine Hand empor und sagte ernst: »Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Derselbe Gott, der unsere Rasse schon sieben Jahrhunderte durch Feuer und Blut geführt hat.«


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