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IV.
Dies magna – et amara

Vater Lukas, bitte, mein Fräulein,« bemerkte Frau Delmege, zu ihrer jüngsten Tochter Margarete gewandt. Ich muß leider sagen, daß die genannte junge Dame eine unverbesserliche Sünderin in dieser Beziehung war. Sie brauchte die obige mütterliche Zurechtweisung mindestens zehnmal im Tage während der kurzen, glücklichen Zeit, die Lukas nun im Elternhaus verlebte. Sie sagte den ganzen Tag nie anders als »Lukas«, »Lukas« und wieder »Lukas«, sodaß der Mutter Stolz auf ihren neuausgeweihten Sohn schwer gekränkt wurde.

»Du meinst wohl, er sei auch nicht mehr als ihr andern,« fuhr Frau Delmege fort; »aber ich wiederhole dir, er ist es. Er ist der gesalbte Diener Gottes; und der größte Mann im Lande ist nicht so viel wie er.«

Was konnte aber die arme Margarete dafür, daß sie so familiär wurde in ihrer schwesterlichen Angst um ein glänzendes Debüt ihres geliebten Bruders, vor allem bei seiner Primiz und dann auch – ich muß leider sagen, daß das bei ihr noch mehr ins Gewicht fiel – beim Diner, zu dem ihn der Kanonikus geladen hatte.

»Ich hätte es viel lieber, er bliebe bei uns daheim am letzten Sonntag, den er in Irland noch verbringt,« meinte Frau Delmege. »Gewiß käme Vater Pat zu uns herauf, und wir würden den zweien ein nettes, kleines Diner herrichten. Nachdem ihn aber einmal der Kanonikus eingeladen hat, darf er nicht absagen. Das ist ganz das gleiche, als ob's der Bischof selbst getan hätte.«

»Da wird diese schreckliche Frau Wilson da sein und ihre vornehme, stolze Tochter; die werden dann auf unsern armen Lukas so von oben herab –«

»Vater Lukas, Fräulein! wie oft muß ich's dir noch sagen?«

»Schon gut, Mutter. Du hast ja recht. Aber Lukas und ich waren doch immer Spielkameraden, und es klingt viel anheimelnder.«

»Denk' aber doch daran, daß Lukas – nein, Vater Lukas – kein kleiner Bube mehr ist! Er ist ein Priester Gottes, und du mußt zu ihm aufschauen als solchem.«

»Natürlich, Mutter, natürlich; aber ich weiß, sie werden's ihm recht unbehaglich machen mit ihrer Vornehmtuerei und ihrem Unsinn. Wenn man nur Barbara Wilson am Sonntag die Kirche betreten sieht, meint man schon, sie sei die Königin von England. Ich wundere mich immer, daß sie nicht auf die Kanzel geht und uns predigt.«

»Mein Gott, ihre Mutter war einmal recht arm und bescheiden. Ich weiß noch recht gut, als der Kanonikus nur ein armer Kaplan war wie Vater Pat – Gott segne ihn – und als seine Schwester noch – doch wir sollen nicht von solchen Dingen reden. Vielleicht hat sie aber doch ein gutes Herz unter all dieser Vornehmheit.«

»Ich würde ja nichts sagen,« entgegnete Margarete, »aber Vater Martin sagte doch letzthin abends, daß Lukas –«

»Schon wieder,« konstatierte die Mutter.

»Der halben Diözese Theologie lehren könnte. Aber um was kümmern sich denn diese Leute? Ich weiß, sie behandeln ihn von oben herab, und er ist so empfindlich. Er wird es nicht ertragen, Mutter.«

So zog die schwesterliche Besorgnis jeden möglichen Zufall in Betracht, bis der Sonntagmorgen kam. War das ein großer Tag in Lisnalee! Sie sollten ihren geliebten Lukas am Altare sehen. Und er sollte jetzt da selber das heilige Opfer darbringen, wo er vor dreizehn Jahren gekniet und mit Furcht und heiliger Scheu dieselben Gewänder aufgehoben hatte, die er heute tragen sollte. Und hier an der Kommunionbank hatte er zuerst seinen Heiland empfangen. Und während seiner Ferien hatte er da so oft als Student, Minorist, Subdiakon und Diakon unter den Armen und Niedrigen aus dem Volke gekniet. Das war jetzt alles vorüber. Niemals mehr würde er unter der Gemeinde dort knien. »Freund, steige höher hinauf!« Er hatte die Worte vernommen, und von jetzt an sollte er oben stehen als Mittler und Lehrer, wo er bis dahin der Bittende und Schüler gewesen. Die kleine Kirche war zum Erdrücken voll; und als nun Lukas erschien, mit dem Kelch in den Händen, da ruhten tausend Blicke auf seinem jugendlichen Antlitz. Es hatte soeben in der Sakristei eine kurze, erregte Debatte gegeben.

»Soll er die ›Akte‹ Die Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, die man in Irland häufig vor der hl. Messe betet. lesen?«

»Gewiß.«

»Und das ›Gebet vor der Messe‹?«

»Natürlich.«

»Er kann das nicht alles tun.«

»Er muß es; und wenn du noch so viel Mut fassen wolltest, Lukas, und ein paar Worte an die Versammlung richtetest, so würden sie alle entzückt sein.«

Aber hier zog Lukas die Grenze. Zitternd, halb vor Freude, halb vor Angst, vollbrachte er langsam und andächtig die heilige Handlung. Mit welcher Hingabe und welcher Verzückung, weiß nur Gott allein! Nur ein einziges Mal hatte Vater Pat (»ein stolzer Mann heute«, wie er sich selber nannte) einzugreifen. Es war in dem erhabenen Augenblick, als Lukas die hl. Hostie über den Kelch hielt, beide zu Gott dem Vater erhob und leise » Omnis honor et gloria« hervorbrachte. Da rollte eine Träne über des jungen Priesters Wange, und Vater Pat mußte ermuntern: »Mut, mein Lieber, es ist gleich vorüber!«

Aber es stand mehrere Minuten an, bis er seine Stimme zum Paternoster erheben konnte; und späterhin konnte er das » Per ipsum, et cum ipso, et in ipso« nie wiederholen, ohne daß er an seine Erregung bei seiner ersten Messe denken mußte.

Vater Pat hatte für den Primizianten ein frugales Frühstück in der Sakristei zurechtstellen lassen. Das war eine weise Vorsicht, denn Lukas hatte jetzt die schwere Aufgabe vor sich, jedem und allen aus der zahlreichen Gemeinde seinen priesterlichen Segen zu erteilen. Es war ein rührender und erhebender Anblick. Da knieten sie auf dem harten Kies, alt und jung, arm und reich, durch das Band des gleichen Glaubens gleich an Demut und Hingebung; und selbst das alte Bettelweib, das während der Woche ihr täglich Brot erbettelte, fühlte, daß hier ein neutraler Boden war, wo alle gleiche Rechte genossen und wo es kein Ansehen der Person gab. Und die Sonne schien durch das grüne Laubdach der Bäume und fiel hier auf ehrwürdige graue Haare, dort auf die reichen braunen Flechten eines Mädchens, da auf die Goldlocken eines Kindes. Durch das grüne Halbdunkel aber schritt der junge Priester entblößten Hauptes und voll der Erregung, wenn er seine Hände auf einen alten Spielkameraden oder Schulfreund legte oder auf seinen ehrwürdigen Dorfschullehrer, zu dem er nur mit Verehrung aufzublicken gewohnt war seit den Tagen seiner Kindheit. Und die kleinen Kinder sprangen um die Bäume und schlossen sich hinten dem Zuge wieder an, um seinen Segen nochmals zu erhalten.

Aber, war alles nur eitel Sonnenschein und Harmonie? Ach nein! Es muß auch Wolken und Dissonanzen geben, um einen goldnen Sonnentag und herrliche Musik richtig schätzen zu können.

Er war eben daran, sich sanft einen Weg durch die Menge zu bahnen, die am engen Eingang in den Kirchhof zusammengedrängt war, als er gerade vor sich und so nahe, daß er den groben Rock des Sprechers streifte, die Worte vernahm:

»Das ist aber sonderbar, daß er auf die ausländische Mission muß. Ich glaub' halt, daß nur die, die im Kolleg nicht für sich selber zahlen können, fort müssen.«

»Was kann man wissen? Vielleicht ist der Mike Delmege doch nicht der Mann, für den wir ihn g'halten hab'n.«

»Und ich hab' g'hört, daß der Sohn von Bryan Dwyer, drüben in Altamount, im Kolleg angestellt ist, um ein Dekan oder sonst etwas ganz Großes zu werden.«

»Und die waren doch miteinander im Kolleg. Und wenn der junge Mann« – er streckte seinen Daumen über die Schulter – »wirklich der große Gelehrte ist, den sie aus ihm machen, warum schicken sie ihn dann nicht ans Kolleg statt in die Fremde?«

»Ja, aber Vater Pat, Gott segne ihn, sagt doch, daß er der aller-allererste in Maynooth war.«

»Ich mein' auch. Mike Delmege weiß schon, wie er's anfangen muß. Er hat eine schöne Schar Truthühner. Da werden wohl bald das eine oder andere verschwinden.«

»Ja, ja! Und habt ihr nicht g'hört, wie nervös der junge Priester bei den ›Akten‹ war? Mein kleiner Terry hätt's besser gemacht. Und was brauchte er die Königin hineinzubringen?«

»Er soll nach England kommen, heißt es. Er muß da für die Königin beten.«

»Bei Gott, ich hätt' gemeint, die Kirch' wär' überall die gleiche auf der ganzen Welt. Ein Gott – ein Glauben – eine Taufe –«

»Pst!« machte sein Nachbar und stieß ihn an. Lukas aber ging heim mit einem bitteren Tropfen in seinem Freudenkelche.

Es waren nicht gerade die unzarten Anspielungen, die diese Bauern gemacht, oder der schlechtverhehlte Sarkasmus über seine Angehörigen, was ihn quälte. Das waren zwar häßliche und empörende Tatsachen und doppelt bitter für einen stolzen Geist am Tage seines Triumphes. Aber daß der Bischof ihn und all seine Erfolge so gänzlich übersehen, daß er einen Jungpriester in der Heimatdiözese behalten und zu einer Ehrenstellung berufen hatte, der sich nie im Kolleg ausgezeichnet, ja nicht einmal unter der Zahl der erfolgreichen Alumnen am Tage der großen Preisverteilung sich befunden hatte, was sollte er davon denken? Hatte ihm der Bischof nicht zugelächelt, ihm Glück gewünscht und ihm gesagt, welche Ehre er seiner Diözese mache? Und nun sollte er ins Ausland gehen für sechs oder sieben Jahre, während ein jüngerer Mann, der ihm entschieden nachstand, über die Köpfe von dreißig oder vierzig Aelteren hinweg, auf einmal zu einer verantwortlichen Stellung am Diözesanseminar erhoben wurde! Lukas erstickte fast vor Aerger und Unmut.

Er fuhr mit seiner Hand mechanisch an die Stirne, und es war ihm, als ob seine Lorbeerkrone nicht mehr der glänzende, königliche Kranz hoher Auszeichnung sei, dessen Duft die halbe Welt erfüllt, sondern nur noch ein armseliges, kleines Kränzlein aus Flittergold und Seidenpapier, so wie Kinder es für einander winden um den Maibaum der Jugend.

Das machte ihn sehr schlechter Laune.

Und als er heimkam und alle zum Mittagsmahl versammelt sah, da blickte er nur wortlos umher, drehte sich dann ebenso wortlos um, verließ das Haus wieder und lenkte seine Schritte dem Meeresstrande zu.

»Der arme Junge,« seufzte mitleidig die Mutter; »die Primiz war halt zu viel für ihn. Und ich glaubte schon, die Leute wollten ihn aufessen.«

Margaretes Schwesterliebe sah jedoch tiefer; sie sagte aber nur: »Ich glaube, das große Diner heute abend quält ihn. Wenn er doch bei uns zu Hause bleiben könnte!«

Rasch hatte Lukas die Felder hinter sich, sprang leicht über einen Stiegel und befand sich nun auf einer der Wiesen, die sich zur See hinabdehnten. Ein paar Schafe, die da weideten, liefen davon. Lukas hüpfte über die zerbröckelnden Steine einer alten Umfassungsmauer und befand sich in einer Fischerhütte.

Die Familie saß gerade beim Mittagsmahl. Lukas zog den Hut und grüßte in fröhlicher irischer Art: »Gott segne die Arbeit samt den Arbeitern!«

»Gott segne Euch, Hochwürden, und seid tausendmal willkommen! Mona, hole dem geistlichen Herrn einen Stuhl!«

»Und das soll meine kleine Mona sein?« rief staunend Lukas. »Himmel, ist die aber groß geworden!«

»Ja, und sie erhielt heute morgen den Segen von Euer Hochwürden, Gott sei gepriesen dafür! Wischa, Herr Lukas, ich kann Euch gar nicht sagen, wie mein Herz aufging, als ich Euch am Altare sah.«

»Ist Moira nicht da?« forschte Lukas. »Wo ist denn die?«

Moira war eben mit ihrer Toilette beschäftigt und kam nun auch errötend herbei. Mona und Moira waren Zwillinge, und Lukas bestand darauf, daß man sie bei ihren irischen Vornamen rufe.

»Ich kann mich da selber nicht rühmen,« meinte er, »aber es ist eine wahre Schande, daß man unsere kleinen Kinder nicht immer bei ihren schönen keltischen Namen ruft.«

»Der kleine Kerl da,« bemerkte der Vater und zeigte auf ein kleines Kind, das sich eben mit Milch und Kartoffeln vollstopfte, »hat Euer Hochwürden die ganze Zeit genau beobachtet. Und als er heimkam, war's das erste, was er tat, daß er auf einen Stuhl stieg und das › Dominus vobiscum‹ machte wie ein rechter Priester. Wer weiß? Es geht oft sonderbar zu in der Welt.«

»Ich möchte gern eine Fahrt im kleinen Boot machen,« begann jetzt Lukas. »Wie ich sehe, sind die Ruder und Klampen an ihrem alten Platze. Hält's noch gut zusammen?«

»Wie ein neues, Hochwürden,« gab der Fischer zurück. »Braucht Ihr einen von den Buben?«

»O nein, ich rudere schon selber. In ein bis zwei Stunden hoffe ich wieder zurück zu sein.«

»Bleibt nur draußen, solange es Euch gefällt, Hochwürden!«

Lukas ruderte langsam in die See hinaus. Und die gesunde Bewegung, der stets wechselnde Anblick des Meeres und die kräftige Brise lenkten seine Gedanken von den quälenden Gegenständen ab, die ihn eben noch erregt hatten. Sie haben doch recht, die Dichter, die von dem beruhigenden Zauber singen, den die Natur ausübt. Ihre zärtliche Mutterhand glättet alle rauhen Seiten und alle quälenden Unebenheiten menschlichen Fühlens und Denkens; und ihr großes Schweigen verschlingt in einer Art unendlichen Friedens, wie vom Himmel herab, das Summen und Stechen dieses Haufens von Hornissen, wo »jedermanns Kopf in einer Wolke giftiger Fliegen steckt«.

Kein Wunder daher, daß die größten Geistesarbeiter der Welt Frieden gesucht haben in Vereinigung mit der Einsamkeit der Natur, und Stärke geschöpft haben aus den großen, erhabenen Lehren, die sie denen erteilt, die zu ihren Füßen sitzen. Und nur mit dem größten Zögern, das ihn eine schreckliche Anstrengung kostete, wandte sich Lukas Delmege an diesem so bedeutungsvollen Tage in seinem Leben von der sybaritischen Versuchung ab, sich ganz dem sänftigenden und beruhigenden Einflusse von Sonne, Himmel und Meer hinzugeben. Und wie so viele andere Narren suchte er den Frieden, den Frieden, der ungesucht vor seinen Füßen lag, in einer trostlosen Selbstprüfung und in einer krankhaften und peinlichen Analyse menschlicher Grundsätze und Ansichten über sich selbst und das bißchen Platz, das er in der Welt ausfüllte. Es war sein erstes großes Untertauchen in den fieberischen und aufregenden Zeitvertreib, der Menschen Tun und Denken zu analysieren und dann für Grundsätze, die einander widerstreben, die Synthese zu finden, und wurde eine Qual und eine Tortur, weil es unmöglich war, ihren Widerstreit und Gegensatz immer zu vereinen. Das war der wahnwitzige Traum, dem Lukas sein Leben lang nachjagte mit der ganzen Leidenschaft eines Spielers am grünen Tisch. Und er rief ihn hinweg von dauernder, gründlicher Lebensarbeit, und verließ ihn auf der Höhe seines Lebens als einen enttäuschten Mann, der mit sich und der Welt nicht ins Klare gekommen war.

Und doch bedeutete das auf eine andere Art für Lukas keine neue Erfahrung. Sehr oft während seiner Sommerferien, wenn sein Ehrgeiz durch seine akademischen Erfolge angestachelt worden war, um weiterer Auszeichnungen willen freier und in größerem Maßstabe zu arbeiten, war er in demselben Boote gelegen und hatte, den Blick aufs blaue Firmament geheftet, stundenlang über die Terminologie und Bedeutung irgend eines philosophischen oder theologischen Rätsels nachgesonnen und alle Schriftsteller und alle Ansichten, die für oder wider die Streitfrage angeführt werden konnten, vor seinem geistigen Auge vorüberziehen lassen. Das war eine praktische und nützliche Art und Weise, alles, was die Bücher lehren konnten, dem Gedächtnis einzuprägen. Und sehr häufig gedachte er während der folgenden Wintermonate dankbar dieser al fresco-Studien und des ungeheuren Vorrates an Wissensstoff, den er im großen Studierzimmer der Natur aufgehäuft hatte, mit der Sonne als Lampe und dem wogenden Weltmeere als Schreibtisch. Aber heute vormittag, als er sich auf den Ruderbänken seiner Seewiege schaukelte, und nur das Trillern einer Seelerche, den Schrei einer Möve oder das leise Anschlagen des reinen, grünen Wassers nur sechs Zoll von ihm weg hörte, da hatte er die Einleitung zu weiteren Studien begonnen, wo man sich auf keine Gewährsmänner mehr verlassen darf und wo die Erfahrung allein Einen lehren konnte. Aber es bildete sich in ihm, was ein großer und nicht wieder gut zu machender Fehler war, die Ansicht, daß die täuschenden und ewig wechselnden Stimmungen des menschlichen Herzens durch Leitsätze auf ein Gleichmaß gebracht werden könnten, und daß das menschliche Tun und Lassen sich immer nach den bestimmten Grundsätzen richtete, die man ihn als feststehende, unabänderliche Wahrheiten anzusehen gelehrt hatte.

Ab und zu richtete er sich doch ein wenig auf in seinem Boote und ließ seine Blicke über das schöne, friedvolle Bild hinschweifen, das sich ihm darbot. Klatsch! klatsch! sangen die winzigen, sonnigen Meereswellen. Er streckte ihnen seine brennende Hand entgegen und sie faßten sie mit ihrer kühlen Berührung. Dann schaute er weit hinter sich auf die grünen Felder, wie sie aus dem Meere aufstiegen und halb in goldnen Dunst sich verloren. Weiße Flecken, die, wie er wußte, die munteren Schafe waren, unterbrachen da und dort das Grün der Flur; und große Büschel purpurfarbenen Heidekrautes hingen ins Meer herab und vermischten ihre leuchtenden Farben mit dem tiefen Rot der Felsen, das sich endlich in Kobaltblau verlor, welches die plätschernden Wellen mit weißem Schaum umsäumten. Schaue lange und bleibe in die Betrachtung versunken, gequälte Seele! Warum sollte dich auch das winzige Geräusch eines Holzwurms außerhalb dieser Welt von Frieden stören? Du bist in deinem Nautilusboote ganz vergessen am Busen des unergründlichen Meeres. Werfe die Sorge von dir und vergiß die Stiche der Wespen, die sich dir hier nicht nahen dürfen! Ach! und ist es denn nicht wahr, daß wir auch bittere Myrrhen in unserem Lebenswein haben müssen, und daß wir uns der Wollust der Qual wegen Sorgen schaffen, wo die Welt uns in Ruhe gelassen hat?

»Es gibt zweierlei Arten, diese Frage zu betrachten,« sagte Lukas in seinem Selbstgespräch, als ob er sich an eine Klasse von Schülern wende, »die objektive Art und die subjektive. Laßt uns die erstere als die vernünftigere zuerst anwenden. Warum soll ich mich ärgern, weil ich nach England gehe und mein Mitschüler ans Seminar? Wo ist die bessere Aussicht? Was würdest du wählen, wenn man dir selbst die Sache überließe? Würdest du lieber ein neues Land kennen lernen und an einen Weltmarkt kommen, wo die Vertreter aller Rassen weg- und zuströmen in endloser Abwechselung, oder in ein gewöhnliches, kleines Nest gebannt sein, wo du Musa Musae einem Rudel plärrender Schuljungen vordeklinieren und Dezimalbrüche einer Schar eben der Dorfschule entronnener Rangen erklären darfst? Würdest du es vorziehen, auf einer Domkanzel zu stehen und einer gebildeten und belesenen Zuhörerschaft die wundervollen Dinge vorzutragen, die du bei Suarez oder dem heiligen Thomas gelesen hast, oder dich jeden Abend blind zu studieren über den Georgica Virgils oder der Anabasis? Was ist besser: es mit forschenden, eifrigen Seelen zu tun zu haben, die atemlos auf dich horchen, um von dir den Schlüssel zu den großen Problemen zu erhalten, die sie in ihrer Ungewißheit und Verwirrung quälen; die tiefe Befriedigung, ehrliches Forschen zufrieden stellen zu können und aufrichtige, aber beunruhigte Seelen in die Hürde zu führen, die nun für immer zu dir als ihrem geistigen Vater emporblicken, oder ein paar Schlingel, die Witze über deinen Namen machen und Karikaturen deines Gesichtes auf ihre schmierigen Schiefertafeln malen, mit Erfolg durch eine Klasse zu bringen?«

»Lächerlich!« rief Lukas laut.

»Aber laßt uns jetzt die subjektive Seite der Sache untersuchen! Du, Lukas Delmege, Inhaber des ersten Preises, das heißt der Best-Graduierte des ersten geistlichen Kollegs der Welt, bist kühl und verächtlich auf die Seite gesetzt worden, und der Vorzug bei Besetzung einer Ehrenstelle der Diözese ist einem Mitschüler verliehen worden, der zugestandenermaßen und ausdrücklich weit hinter dir stand! Du hast von deinem Bischof einen Schlag ins Gesicht erhalten, nicht so sanft, wenn auch mehr metaphorisch als am Tage, da er bei der hl. Firmung deine Wange berührte und dabei sprach: (– war es Sarkasmus? Gott sei davor!) Pax tecum! Man hat dich vor der ganzen Diözese abfahren lassen; das Brandmal wird dir zeitlebens anhaften und selbst auf deine Familie zurückfallen! Gibt diese Anordnung denn nicht zu verstehen, daß du in mancher Hinsicht – in moralischer natürlich, im Charakter, in der Fähigkeit, Zucht und Ordnung halten zu können, offensichtlich deinem bescheidenen Mitschüler nachstehst? Du kennst zwar den hl. Thomas besser, aber er verrichtet seine Gebete besser, mein lieber Lukas! Darin liegt deine offenbare Minderwertigkeit; und du siehst jetzt, wie weise dieser mittelalterliche Mönch war, als er sagte:

Tunc videbitur sapiens in hoc mundo fuisse, qui pro Christo didicit stultus et despectus esse.

Tunc amplius exaltabitur simplex obedientia, quam omnis secularis astutia.

Tunc plus laetificabit pura et bona conscientia, quam docta philosophia.

Tunc plus valebunt sancta opera, quam multa pulchra verba.

Jawohl! Schon gut!« rief Lukas ungeduldig, während das Boot unter ihm schaukelte, »aber das handelt ja alles über das › tunc‹, das › tunc‹! Wie steht's aber mit dem ›nunc‹!, dem › nunc‹? Ist es möglich, daß der Menschen Urteile denen Gottes gleichen? Aber warum legte man dann so viel Gewicht auf unsere Studien? Warum spendete man uns Beifall, wenn wir glänzende Erfolge erzielten? Warum trieb man uns mit allen menschlichen Mitteln, die angängig waren, zum Studieren an? Warum beglückwünschte mich der Bischof in eigener Person, wenn er die Dinge in einem andern Lichte sah? Gab es je ein größeres Rätsel als es die Wege der Menschen sind? Das Rätsel der Sphinx und der Schleier der Isis waren nichts im Vergleiche mit ihnen! Ich komme dann eben wieder auf die Realität zurück – die Objektivität der Dinge – da allein ist Wahrheit. Aber ist es auch wirklich Wahrheit?« fragte sich der verwirrte junge Priester. Er hatte noch niemals gelesen:

»Nur dies eine habe ich erkannt, daß Gott den Menschen recht erschaffen hat; er aber verwickelt sich in eine Unendlichkeit von Fragen.«

So ging es auch Lukas. Er ließ seinen Kahn treiben und gab sich ganz der Natur, seinem Sinnen und Träumen hin. Und als er nach mehreren Stunden ans Ufer stieg, war er wieder ruhig geworden.


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