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XVI.
Bezauberung

Der Kanonikus saß in seinem Pfarrhause daheim in seinem Lieblingssessel. Die Morgensonne strömte herein und wob goldene Lichter um sein weißes Haar, daß es glänzte wie Alpenschnee im Sonnenlicht. Der Kanonikus war glücklich. Und er war glücklich, weil er noch nicht alles erreicht hatte, was er wünschte. Denn, wie du weißt, lieber Leser, ist derjenige ein unglücklicher Mann, der wie der arme Herder alles erhielt, was sogar Shakespeare dem Alter darbietet, und nichts mehr hat, wonach er sich diesseits des Grabes noch sehnt. Es gab manches noch zu wünschen, zu erreichen, in Besitz zu nehmen – auch zu genießen? Nein! Der Genuß ist das Ringen; er hört auf, sobald sich die Hand über dem Preise schließt. Und doch, trotz jeder Art von Trost um ihn herum, trotz des erhabensten Trostes, der in dem wachsenden Glücke seines Volkes, das er stets vor Augen hatte, für ihn lag, gab es manche böse Ahnung in seinem Dasein – der Riß in der Laute, die Fliege im Bernstein, die von jeder Art menschlichen Glückes unzertrennlich sind. Ein Brief lag offen auf dem Tische. Es war ein rührender Brief, und was noch rührender ist, er enthielt ein Gedicht. Das las der Kanonikus immer wieder und wieder, und Tränen traten in seine Augen. Aber der Kanonikus war glücklich, denn er war ein guter Mann, und er besaß auch Macht, das Elend innerhalb seines Bereiches zu lindern. Es wäre auch in der Tat schwer zu entscheiden, wer von beiden der glücklichere war – der mildtätige Kanonikus, der einem armen Weibe ein Paar Orpingtonhühner schenkte mit der Versicherung, sie würde im Frühling eine prachtvolle Brut haben, oder das arme Weib, dem eben das Vergnügen zuteil geworden war, Eigentümerin zu werden. Und wenn er dreißig Prozent von den Renten seiner Pacht abgezogen bekam, lebte er einige Tage von der Luft. So war der Kanonikus glücklich, denn er schrieb eben einen Scheck auf zehn Pfund Sterling heute Morgen, und der Scheck lautete auf Louis Wilson. Der alte Narr! höre ich jemanden sagen.

Absolut nicht! Du würdest es auch nicht anders machen, mein unwilliger Freund, wenn du ein kleines Konto bei deinem Bankier hättest und man dir zufällig folgendes Gedicht widmete:

Er stand in Dunkelheit wie Einer ohne Gott,
Der in dem Dämmer wartet auf die tief're Nacht
Und auf den seelenlosen Schlaf, der kommen soll,
Und der ihm friedevoller scheint
Als alle Hoffnung künft'ger Seligkeit.

Und in dem Schweigen dieser tiefen Mitternacht,
Wo alles schlief und Sterne Wache hielten,
Wo sanft vom Zauberlicht des Monds umflutet
Die Himmel und die Erd' in Schönheit schwammen –,
Da legte er sich elend, trostlos nieder.

Und glitzernd lag ein Mondstrahl auf der Klinge,
Die tödlich schnell ins tiefste Herz ihm drang.
Da sahen mitleidsvoll die Sterne auf ihn nieder,
Wie er dahinsank mit gebrochnen Augen,
In Blütenschauern ewig still zu ruhen.

Der Kanonikus war kein Kritiker; er besaß auch kein musikalisches Ohr und keinen besonderen Respekt vor klingenden Worten und Silben. Er besaß nur Phantasie. Und er sah das Mondlicht und die Sterne und das zerdrückte Gras und die Klinge mit dem dunklen Blutflecken – ach, und der Kanonikus weinte vor Mitleid und ging lange und ernstlich mit sich zu Rate, ob er den Scheck nicht abändern und statt zehn fünfzig Pfund schreiben solle. Aber der Scheck war nach Nr. 11, Albemarle Buildings, abgegangen, und die gute Haushälterin, deren Wohnungsmiete in traurigen Rückstand gekommen war, schluchzte, als sie erriet: »Ein Scheck von seinem Onkel!« Aber der Kanonikus ging dieser Tage in ängstlicher und glücklicher Stimmung herum, in der Furcht, jede Post könnte ihm eine Nachricht vom Leichenschauer bringen. Aber nach außen hin war er ganz der gleiche, majestätische Kanonikus, und seine Pfarrkinder sagten: »Wie groß ist er und wie glücklich!«

Lukas' Tage flossen so in ruhiger, friedlicher Arbeit dahin, die nur durch die unschuldigen Vergnügungen vornehmer und schöner sozialer Umgebung unterbrochen wurde. Er hatte hier wenigstens Zeit zum Denken, wenn er auch nie zu arbeiten aufhörte. Und einer seiner Gedanken war: Dieses Fieber der Arbeit, Arbeit, Arbeit, – wofür ist es alles? Welches ist sein Ziel? Die Antwort lautete: Arbeit braucht kein anderes Ziel als sich selbst, weil die Arbeit ihre Belohnung schon in sich trägt. Ja, es war schon etwas dran an dieser Antwort, aber sie befriedigte ihn nicht; denn in diesem Falle hatte ja ein unsterbliches Wesen kein höheres Ziel als eine Dampfmaschine. Lukas richtete diese Frage oft an sich selbst, und er stellte sie auch öffentlich in einem Hause, das nach und nach sein Salon und seine Akademie geworden war. Hier genoß er wenigstens einmal, oft aber auch zwei- und dreimal in der Woche, das unschätzbare Vorrecht, eine kleine gewählte Gesellschaft von Schöngeistern zu treffen, in der alle Zweige der Literatur, Wissenschaft und Kunst, selbst Theologie, vertreten waren. Denn hier verkehrten viele gebildete, wohlbelesene anglikanische Geistliche von vornehmen Manieren, die von ihren gemütlichen, wenn auch alten Behausungen an der Kathedrale herüberkamen und eine Atmosphäre von Gelehrsamkeit, feinem Geschmack und edler Bildung mit sich brachten, die auf Charakter und Umgangsformen des jungen Iren einen merklichen Einfluß ausübte. Zelebritäten versammelten sich hier sogar, die nachmittags von London herfuhren und um Mitternacht wieder zurückkehrten; und Lukas sah sehr rasch ein, daß es in der Welt noch viele Leute gebe, die auch für immer Meister und Lehrer eines ersten Preisträgers sein könnten. Und er wurde demütig und begann zu Füßen manch eines Gamaliel zu sitzen, und sein Vierteljahrsgehalt war immer schon im voraus für Bücher verausgabt, deren Titel er früher nicht einmal gehört hatte. Und mit seiner schmiegsamen, irischen Natur begann er sich dieser neuen Umgebung anzupassen; selbst seine Kleidung nahm an dieser Umwandlung teil. Und eifrig, wie ein Klosternovize, suchte er die leidenschaftlichen und lärmenden Elemente seines Wesens zu bändigen und ebenso fein, abgeschliffen und sanft zu werden wie die, mit denen er verkehrte.

Aber er richtete die Frage an Amiel Lefevril, eine der drei unverheirateten Schwestern, die den Salon leiteten, und die schon viel von katholischen Freunden über dieses neue Licht gehört hatte, das so plötzlich von Irland aus am aschgrauen Himmel einer englischen Bischofsstadt aufgegangen war. Und das kam so. Die Dame hatte einen Brief vom großen Meister von Balliol-College erhalten, der eben sein Werk über Platos »Republik« beendigt hatte. Ein Satz darin lautete folgendermaßen:

»Sie haben unendliche Arbeit in ihrer eigenen Sphäre zu leisten; und Sie müssen sie vollbringen und sich nicht einbilden, daß das Leben vor Ihnen zurückweicht. Ich will stets die Illusion, die keine Illusion ist, hochhalten, daß die letzten Lebensjahre die wertvollsten und bedeutendsten sind, und jedes Jahr will ich versuchen, in der einen oder andern Art mehr zu tun als im Jahre vorher.«

»Sie sehen,« fuhr Amiel fort, »das sind die Worte eines alten Mannes – eines großen alten Mannes; und wie gut lassen sie sich auf Sie, vor dem die Jahre noch wie ein langer, sonnenbeschienener Pfad liegen, anwenden!«

»Aber – aber,« erwiderte Lukas in der alten sic argumentaris-Weise, die jetzt, o! so ganz anders klang, »aber das Leben muß doch einen Zweck haben. Es muß ein Ideal da sein, ein Ziel, dem man zustrebt.«

» Distinguo!« erwiderte die Dame, und Lukas sprang fast in die Höhe beim Klange dieses altvertrauten Wortes. »Wenn Sie selbstisch sind und sich allein genügen, so brauchen Sie nichts anderes als Ihre tägliche Arbeit, um jede geistige und moralische Fähigkeit zu stärken und zu reinigen. Aber es gibt noch einen höheren Standpunkt, den Sie erreichen können, und wo Sie dann göttlich altruistisch werden. Das ist der Fall, wenn Sie einsehen und erkennen, daß des Lebens Krone die Selbstverleugnung ist, und wenn das Interesse des Individuums in den Interessen der Menschheit aufgegangen ist.«

Das klang zwar süß und hüllte Lukas' Sinne mit einer Atmosphäre von Musik und Duft ein, aber sein Urteil überzeugte es nicht.

»Soviel ich mich entsinne, verbreitete sich doch erst letzthin hier Kanonikus Mellisch – er war es, glaube ich – über die Weltmüdigkeit aller unserer großen Dichter und Denker, über die gänzliche Verzweiflung von Arnold of Rugby und Matthew Arnold, über die Rechtfertigung des Selbstmordes bei George Eliot und den Wunsch Carlyles, ihn rechtfertigen zu können.«

»Ganz richtig,« gab Amiel zurück, »das ist nur die notwendige Folge eines zu großen Enthusiasmus, die Reaktion von der Schwärmerei zu Asche und Betrübnis. Ihre Beispiele waren auch unglücklich gewählt. Diese von Ihnen genannten Leuchten strahlten nur für ihr eigenes Selbst und ließen Rauch und Finsternis zurück. Sie und wir müssen Besseres anstreben.«

»Ich verstehe Sie noch nicht recht. Ich sehe wohl, daß eine große Idee der Ausgangspunkt Ihrer Behauptung ist, aber ich kann sie nicht erfassen.«

»Dann muß ich Sie bei der Hand nehmen und etwas weiter in die Mystik einführen. Sie wissen wohl, daß alle großen Denker jetzt den Symbolismus des Lebens dahin verstehen, daß die ganze Erfahrungswelt nur das äußere Gewand der göttlichen Idee des Lebens ist, und daß der allein wahrhaft lebt, der gewillt ist, die eigene Persönlichkeit in den Dienst der Menschheit zu stellen, und der unablässig am Werk ist, das Ideal zu realisieren, das einzig wahre Größe und Hoheit dem menschlichen Tun verleihen kann, – und das ist: Suche Gott im Menschen, nicht den Menschen in Gott! Das letztere war die große menschliche Häresie von Anbeginn.«

Das klang hübsch und gab Lukas viel zu denken. Diese Selbstverleugnung, dieses Aufgehen in der Rasse, das Ego, das ins All übergeht und doch unsterblich ist in der Ewigkeit des Seins, das suchte er ja gerade; und hatten es nicht auch die Märtyrer gesucht, diese herrlichsten Blüten des Katholizismus?

Er sprach auch mit seinem Pfarrer über die Sache; der rieb sich das Kinn und meinte: »Ich glaube, Vater Delmege, es wäre besser, Sie hielten sich an John Godfrey und seine Pfeife und ließen diese anglofranzösischen Blaustrümpfe gehen.«

Lukas dachte, das sei recht reaktionär vom alten Herrn.

»Das ist ja ganz recht,« fuhr Dr. Drysdale fort, »daß Sie für die Menschheit arbeiten wollen. Ich kann Ihnen da gleich das Grafschaftsgefängnis empfehlen. Sie werden recht nette Menschenexemplare dort treffen.«

* * *

»Immer dieser entsetzliche Mechanismus,« dachte Lukas, »über den diese Engländer nicht hinauskommen! Der Mensch ist nur ein winziger Bestandteil der großen Weltmaschine, das ist alles, was sie noch begreifen. Wie anders die Lehre: der Mensch ist ein Symbol der Gottheit!«

Und doch beeinflußte dieser schöne, sanfte Mechanismus Lukas unbewußt. Er hörte das Sausen und Schwirren der Räder nicht mehr, noch sah er den Abfall von Schlamm und Schmutz, den das Ungeheuer in den Londoner Slums ablagerte; aber dieselbe glatte Regelmäßigkeit, dieselbe ruhige, unüberwindliche Energie machte sich auch hier, in der alten, schläfrigen Bischofsstadt, bemerkbar. Hier war es ein schöner, bunter Teppich, den die Riesenmaschine auswirkte, ein Teppich mit der Farbenpracht gebildeter Männer und hochstehender Frauen und der Goldstickerei von Wissenschaft, Literatur und Kunst. Und Lukas empfand es, als der Zauber auf ihn wirkte und ihn mit einer Atmosphäre des Sanges und des Lichtes umgab, geradezu als seine Pflicht, sich dieser Umgebung anzupassen. Sein Pfarrer half ihm dabei.

»Rasch, rasch, rasch, Vater Delmege! Sie sind zwei Minuten zu spät daran heute morgen. Sie dürfen die Leute nicht warten lassen!«

Lukas fühlte zwar, daß sein Pfarrer vollkommen recht habe: er mußte aber doch an Irland denken, wo sich niemand etwas daraus macht, wenn der Priester eine halbe Stunde zu spät kommt.

Ein andermal meinte Dr. Drysdale: »Könnten Sie nicht Ihre Stimme etwas modulieren, Vater Delmege? Unsere Kirche ist keine Kathedrale, und viele Damen sind nervös. Während Ihrer gestrigen Predigt sah ich Mrs. S. auffahren und gequält zu Ihnen emporschauen. Es war wie ein elektrischer Schlag.«

»Gott schirme Altirland,« dachte Lukas, »wo die Leute noch gesunde Nerven haben und den Wert einer Predigt nach der Klangfülle der Stimme eines Predigers bemessen.«

Aber er mäßigte seine Stimme doch, bis sie ein helles, metallisches Klingen wurde, wie von Schlittenschellen in frostiger Nacht.

An den Winterabenden nach dem Diner führten die beiden Geistlichen öfters lange, liebe Gespräche über Theologie. Anfangs brach Lukas gern in Lachen aus, wenn der ernste, höfliche alte Herr einen Widerspruch in einer theologischen Frage wagte. Er konnte keinen Widerspruch ertragen. Hatte er nicht unter Professor N. im Kolleg studiert? Wußte er nicht aus Erfahrung, daß man einen Gegner am ehesten aus der Fassung bringt, wenn man ihn auslacht oder ihm sagt, seine Ansicht sei ganz absurd? Aber der Ernst dieses lieben alten Mannes, sein ruhiges, sanftes Wesen, verfehlten ihre Wirkung auf Lukas' Eitelkeit nicht, und nach und nach kam er zur Einsicht, daß es viele Gesichtspunkte gebe, unter denen man ein und dieselbe Sache betrachten könne, und daß man daher demütig und tolerant gegen die Ansichten anderer sein müsse. Denn die Ueberzeugung drängte sich ihm auf, daß der alte Herr, wenn er auch nicht in Maynooth studiert habe, dennoch in jeder Beziehung ein gründlich gebildeter Theologe sei, und als er später zufällig entdeckte, daß der liebe Herr der Verfasser sehr bemerkenswerter philosophischer Essays in der »Dublin Review« war und daß seine Ansichten in den hervorragendsten Zeitschriften des Kontinents zitiert wurden, da war er überrascht und dachte: wer hätte das geglaubt!

Diese Ansicht von Toleranz konnte sich Lukas aber nur langsam zu eigen machen. Er besaß ein solch klares, logisches Denkvermögen, daß er immer nur eine Seite einer Frage sehen konnte und gar nicht begriff, warum die anderen sie nicht gerade so ansahen.

Wir haben allen Grund zu fürchten, daß Lukas auf seiner ersten Pastoralkonferenz tatsächlich ungezogen wurde. Er fühlte eine große Verachtung für englische Pastoralkonferenzen. Das war ja ein Gefecht mit bemalten Latten, statt des mächtigen Schwerterkampfs, wie er in Irland vor sich geht. Ein kurzer Fall über Bertha und Sylvester, die in einen hoffnungslosen Wirrwar über Eigentum usw. geraten waren, das war alles. Und alle Priester brachten ruhig ihre Ansichten vor; nur Lukas sollte ungeduldig herausplatzen: »Das hat man uns nicht gelehrt, und kein hervorragender Theologe behauptet so etwas.«

Kanonikus Drysdale rieb sich das Kinn und bemerkte: »Ich habe einen Briefwechsel mit Palmieri über die Sache gehabt. Wird mein junger Freund die Güte haben, uns seine Antwort vorzulesen?«

Und Lukas las ärgerlich und errötend seine eigene Zurechtweisung vor.

Aber diese schönen Lektionen über Toleranz, Milde und Selbstbeherrschung änderten doch unmerklich Lukas' Charakter.

Eines Abends im »Salon« wagte er sogar Fragen zu stellen. Ein ernster, älterer Herr hatte eben bemerkt, daß er Bunsen in Deutschland drüben besucht habe, und daß dieser Bunsen ein großer, kolossaler Heide sei.

»Haben Sie,« warf Lukas scheu ein, »haben Sie je Wegscheider in Deutschland getroffen?«

»Weg– Weg– nein, ich kann mich nicht entsinnen. Doch, warten Sie – Weimar, Wieland, Wein, Weib, Weg – konnte er dem alten Silas etwas bedeuten?« fragte der Reisende ernst.

»O nein!« erwiderte Lukas, etwas ärgerlich. »Er war ja bloß ein Theologe; aber er war heterodox, und da dachte ich, Sie könnten ihn getroffen haben.« Das war wirklich gut für Lukas. So lernte er gemütlich die Art und Weise der vornehmen Gesellschaft kennen.

»Ich glaube,« flüsterte er einem anglikanischen Pfarrer zu, der immer sehr liebenswürdig war, »Wegscheider war ein Sabellianer.«

»Was ist das?« fragte der Pfarrer.

»Ach, ich glaubte, ihr känntet alle Häretiker,« erwiderte Lukas.

»Ein hübsches Kompliment! Ich habe das Wort noch nie gehört, außer wenn es gelegentlich einem unserer Bischöfe von den Zeitungen als Spitzname an den Kopf geworfen wurde.«

Im Verlaufe des Abends fiel Lukas dann in einen kleinen Kreis ein, der sich eben ernst über die Entwicklung der menschlichen Rasse verbreitete und die fürchterlichen Möglichkeiten, die vor ihr lagen, ins Auge faßte.

»Bedenken Sie nur, was schon geschehen ist,« nahm Olivette Lefevril das Wort, »und wie wir aus bescheidenen Anfängen heraus zu dem wurden, was wir jetzt sind,« – sie blickte um sich und sah in einen großen Spiegel, wobei sie sich eine lose Locke zurückstrich – »es gibt keine, aber auch gar keine Schranken für die Entwicklung der Menschheit. Etwas Höheres, ja sogar etwas, das sich den anthropomorphistischen Vorstellungen der Gottheit nähert, ist gewiß noch zu erreichen.«

»Da habe ich aber nicht viel Hoffnung,« warf ein Journalist ein, »solange die Völker wegen jeder Lappalie einander an die Kehle fahren, und solange in ihren luxuriösen Gemächern vornehme Herren im Morgenanzug sich das unglückliche Proletariat gegenseitig in Atome schlagen lassen können.«

»Ach was, Krieg,« meinte Klotilde, »Krieg ist nur die Auswahl und Sichtung der Besten und Stärksten. Die Völker gehen aus dem Kriege wieder hervor und erneuern ihre Kräfte gleich Adlern.«

»Und bedenken Sie nur,« warf eine blaubebrillte Dame ein, »wie wir das Bettlerwesen aus unserer Mitte ausgeschaltet haben. Einen Bettler gibt es bei uns so wenig mehr wie einen Walgvogel.«

»Ich würde die ganze Welt darum geben, einen Bettler zu sehen,« entfuhr es Lukas.

»Einen Bettler, einen wirklichen, lebendigen Bettler in Lumpen?« echote der ganze Chorus verwundert.

»Jawohl,« bestätigte Lukas zuversichtlich, »einen wirklichen, lebendigen, aussätzigen Bettler – einen wahren Lazarus an Beulen und Geschwüren, wenn auch nur, um uns gewisse Dinge, die wir in der heiligen Schrift lesen, recht vergegenwärtigen zu können.«

»Aber mein lieber Herr Delmege, Sie vergessen ja ganz, daß das alles in Syrien und gegen Schluß des alten Bundes vor sich ging. Hier aber haben wir England und das neunzehnte Jahrhundert.«

»Wohl wahr,« gab Lukas zurück, zu einem Kanonikus gewandt, »aber heißt es denn nicht in der Bibel: ›Die Armen werdet ihr immer bei euch haben‹?«

»Wo bleibt dann aber die Entwicklung der Religion?« krähte eine Dame. »Wenn es keinen Fortschritt gibt, wo bleibt dann der Segen eures Christentums?«

»Ich glaube,« lenkte der würdige Kanonikus ein, »daß Mr. Delmege recht und nicht recht hat – recht hat er mit seiner Auslegung und unrecht mit seiner Anwendung. Die Stelle, die er zitiert, bedeutet: ›Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!‹«

»Natürlich. Und das geht uns alle an,« bemerkte Olivette Lefevril. »Ich fühle mich wirklich manchmal ganz unglücklich über all diese Begleiterscheinungen unserer Kultur. Ginge es mit weniger nicht auch? so frage ich mich oft. Ist nicht das, womit wir unser Leben ausschmücken, eigentlich unnötig und sogar eine Bürde? Ich habe manchmal das Gefühl, als ob ich, wie der liebe heilige Franziskus, fortgehen und die Welt durchwandern sollte.«

»Wie könntest du aber ohne deine Staffelei, Paletten und Pinsel auskommen?« fragte Klotilde. Olivette war nämlich die Künstlerin in der Familie.

»O, ich würde mir einen kleinen Italiener mieten, der sie mir nachtrüge, und wir würden dann ganze Tage auf den Bergen Umbriens verbringen, und ich malte dann, ach! so entzückende Landschaftsskizzen, und nährte mich von nichts anderem als von Oliven und Trauben und tränke nur Wasser – Schneewasser aus den Bergquellen der Apenninen und ein – bißchen – Falerner.«

»Und dann, meine Liebe,« warf Klotilde ein, »könntest du hinuntersteigen in die Klöster und die lieben Kreuzesbilder von Fra Angelico kopieren und seine süßen Ecce Homos. Ach, Olivette, und wenn du mir nur eine – nur eine einzige Kopie der göttlichen ›Geißelung‹ von Corti mitbringen könntest!«

Olivette schauderte und bemerkte kalt: »Nein! Nein! Unser Heine hat längst damit aufgeräumt. Wir wollen keinen qualvollen Realismus mehr, wie die Visionen der Katharina Emmerich, sondern süße Agnes- und Cäciliengestalten mit Engelsköpfchen und vielleicht dann und wann noch die Göttergestalt einer Juno, oder das Blumenantlitz einer Oreade.«

So lenkte Lukas' kurzer Einwurf die ganze, wunderbare Unterhaltung auf die hl. Schrift, auf politische Oekonomie, auf Kunst usw., und Lukas fühlte sich nicht wenig gehoben als der Mann, der andern Inspiration verlieh und bei ihnen Ideen weckte. Du lieber Himmel! War das nicht großartig, daß er, der Sohn eines irischen Bauern, nicht nur ein einfaches Mitglied, sondern ein führender Genius in dieser auserwählten Koterie im Zentrum englischer Kultur sein konnte! Und der große Carlyle hatte Jahre gebraucht, ehe das englische Publikum vergessen konnte, daß er der Sohn eines schottischen Maurers war! Lukas schwamm auf den Wogen des Zauberflusses.

Alle drei Schwestern begleiteten ihn zur Türe.

»Ich habe wirklich im Sinne, ihren pittoresken Bettler zu malen,« bemerkte Olivette.

»Nein, das darfst du nicht, meine Liebe! Du verdirbst dir sonst deine Kunstphantasien,« warnte Klotilde. »Was würde doch der ›Meister‹ dazu sagen?«

Lukas fühlte etwas wie Eifersucht auf den »Meister«.

»Wenn Sie so viel Zeit erübrigen könnten,« erwiderte er, »so würde ich gern ein Bild von dem Schiffe im ›Alten Matrosen‹ haben – die See glatt wie ein Spiegel, die Sonne gerade im Untergehen und die Masten sich scharf gegen den Himmel abhebend!«

»Sie sollen es haben!« versicherte Olivette. »Gute Nacht, Bruder! Vergessen Sie ›Atta Troll‹ nicht!«

»Gute Nacht, Bruder!«

»Bruder, Gute Nacht! den ›Laches‹ auf Donnerstag!«

* * *

»Ach was!« monologisierte Lukas; »nur ein Stück Seidenpapier liegt zwischen den zwei Rassen; aber Politiker und Publizisten haben es auf beiden Seiten ganz mit Gespenstern und Teufelsfratzen beschmiert. Wann wird der tapfere Ritter nahen und seine gute Lanze hindurchtreiben, damit die Rassen einander sehen können, wie sie sind?«

Es war fast Mitternacht, als Lukas im Pfarrhause eintraf.

In Dr. Drysdales Zimmer brannte noch Licht, als Lukas ins Pfarrhaus zurückkehrte. Er ging leise die Treppe empor. Der alte Herr stand unter der Türe seines Schlafzimmers.

»Ich muß sagen, Vater Delmege, daß Sie in letzter Zeit sehr unzeitig heimkommen.«

»Einige Londoner Herren hielten mich zurück,« stammelte Lukas. »Es scheint, daß man Mitternacht noch für ganz früh in London hält.«

»Hier ist aber nicht London, sondern Aylesburgh. Ein Paket und ein paar Briefe sind für Sie angekommen; sie liegen im Eßzimmer.«

Lukas stieg die Treppe wieder hinunter. Der Tadel bedrückte ihn. Hastig öffnete er das Paket. Er hatte von seinem Londoner Buchhändler eine hübsche Sammlung bestellt: Goethes »Wilhelm Meister«, Comtes »Katechismus des Positivismus«, Herbert Spencers »Fortschritt und Erziehung« u. s. w. Statt der neuen, schmucken Bücher, die er erwartet hatte, fand er nur vier schmutzige, abgegriffene Duodezbände vor. Ein Buch an die Gasflamme emporhaltend, las er die fast verwischten Worte auf dem Rücken:

Breviarium Romanum: Pars Aestiva.

»Wer hat mir diese Beschimpfung angetan?« fragte er sich. »Sheldon wahrscheinlich, der gar so um mein Seelenheil besorgt ist.«

Er riß den ersten Brief auf. Er war von Vater Sheldon und lautete:

Mein lieber Delmege!

Eine Miß Wilson aus Irland sprach heute hier vor und fragte nach Ihnen. Sie nähmen so viel Anteil an ihrem Bruder Louis, einem jungen Studenten der Medizin am St. Thomashospital. Sie wußte noch nichts von Ihrer Versetzung nach Aylesburgh und schien sehr enttäuscht. Sie kam herüber, um die Haushälterin und den Schutzengel ihres Bruders zu machen. Aus unserer kurzen Unterhaltung konnte ich nur so viel ersehen, daß sie für beides hervorragend begabt scheint. Ich verzweifle an der Insel der Heiligen noch nicht. Die Heiligen sind dort noch nicht ausgestorben. Miß Wilson wünschte auch, ich solle Ihnen ihre Adresse mitteilen. –

Der zweite Brief lautete:

Mein lieber Lukas!

Wir erwarten dich unfehlbar zur Hochzeit deiner Schwester. Dein verlängertes Exil verursacht hier einiges Unbehagen. Daß Margaret in Limerick ins Kloster eintreten will, hast du wohl schon gehört. Du weißt auch, daß Vater Tim das Zeitliche gesegnet hat. Er hinterließ dir sein Brevier und ein Abschiedswort: – Du sollst deinen Kopf hoch halten!

Seaview Cottage, Knockmanny.
Dein aufrichtig ergebener
Martin Hughes.

Lukas nahm das Brevier sehr behutsam in die Hand. Der Einband war ursprünglich aus rotem Maroquin gewesen; aber die Zeit hatte alles Gold und Rot weggewischt. Die vier Bände waren jetzt schwarz, schmierig und klebrig vom beständigen Gebrauch; denn damals, wie noch heute, ist das Brevier die poetische Anthologie, das Handbuch der Philosophie und das Kompendium der Theologie und Patristik des irischen Priesters. Und Lukas legte schauernd die Bücher wieder weg und wusch sich sorgfältig seine Hände.


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