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Zehntes Kapitel.

Als Middlemas wieder zu sich kam, fühlte er, daß sein Blut ruhiger umlief, das Fieber nachgelassen hatte, und seine Lungen freier atmeten. Ein Hilfsarzt stand bei ihm und verband ihm eine Ader, aus der eben eine beträchtliche Menge Blutes genommen worden war. Ein andrer, der dem Kranken das Gesicht gewaschen hatte, hielt ihm eine stark riechende Essenz unter die Nase.

Richard schlug die Augen auf und erkannte in dem erstern seinen Lehrkameraden Adam Hartley, der ihm rasch einen Wink gab, sich nichts merken zu lassen.

»Ich muß jetzt gehen,« flüsterte Hartley ihm in einem unbewachten Augenblick zu, »aber faßt Mut – ich glaube ich kann Euch helfen – inzwischen nehmt von niemand Speise oder Trank an als von meinem Diener, den Ihr dort den Schwamm halten seht. Ihr seid hier an einem Orte, wo vor kurzem einer wegen einem Paar goldner Hemdknöpfe ermordet worden ist.«

»Wartet einen Augenblick!« sagte Middlemas, »ich will dann das hier in Sicherheit bringen, um meine Nachbarn nicht in Versuchung zu bringen.«

Mit diesen Worten zog er aus seiner Unterjacke ein kleines Päckchen hervor und reichte es Hartley.

»Wenn ich sterbe, mögt Ihr mein Erbe sein,« setzte er hinzu.

Die rauhe Stimme Seelencoopers verhinderte Hartley zu antworten.

»Na, Doktor, werdet Ihr Euren Patienten durchbringen?«

»Es war eine recht bedenkliche Ohnmacht,« erwiderte der Doktor, »Ihr müßt ihn in das bessre Krankenzimmer schaffen lassen, mein Gehilfe soll ihn dort pflegen.«

»Na, wenn Ihr es befehlt, so muß es ja wohl geschehen, Doktor, ich kann Euch aber sagen, es gibt einen, und wir kennen ihn beide, der hat mindestens tausend Gründe, daß der Bursch im allgemeinen Krankensaal bleibt.«

»Was gehen mich Eure tausend Gründe an?« entgegnete Hartley. »Ich kann Euch nur sagen, der junge Mann ist ein so gesunder und kräftiger Bursche, wie die Gesellschaft kaum einen zweiten unter ihren Rekruten hat. Es ist meine Pflicht, ihn für den Dienst zu retten, und wenn Ihr meine Weisungen nicht gehörig befolgt und er dadurch zugrunde geht, so könnt Ihr Euch darauf verlassen, daß ich dem General Bericht erstatte. Laßt daher den jungen Mann recht sorgfältig behandeln, Ihr habt die Verantwortung.«

Mit diesen Worten verließ er das Lazarett.

Richard hatte von diesem Gespräch genug vernommen, um neue Hoffnung auf Befreiung zu fassen. Die Hoffnung wurde noch bestärkt, als er gleich darauf in ein besonderes Krankenzimmer gebracht wurde, ein reinliches Gemach, in welchem sich nur zwei Patienten, anscheinend Unteroffiziere, befanden.

Obwohl er recht gut wußte, daß er nicht krank war, so hielt er es doch für das klügste, sich als Kranken behandeln zu lassen, weil er so unter der Obhut seines einstigen Gefährten bleiben konnte. Während ihm so Hartleys Dienste sehr willkommen waren und er sie zu seinem Besten zu nutzen entschlossen war, beherrschte ihn im geheimen doch das undankbare Gefühl: Konnte mich der Himmel nicht anders retten als durch die Hände dessen, den ich von allen Menschen auf Erden am wenigsten leiden mag?

Es erfordert eine nähere Darlegung, auf welche Weise Hartley in die Lage gekommen war, ihm in dieser Not behilflich zu sein.

Unsere Erzählung spielt zu einer Zeit, in der die Direktoren der Ostindischen Gesellschaft, in jener kühnen und zielbewußten Politik, der das britische Reich seine gewaltige Machtentfaltung im Orient verdankt, den Beschluß faßten und durchführten, bedeutende Verstärkungen europäischer Truppen zur Sicherung und Befestigung ihrer Stellung in Indien dorthin zu senden. Diese war damals durch den berühmten Haidar Ali bedroht, der nach Entthronung seines Fürsten die Regierung im Königreich Maisur an sich gerissen hatte.

Für diesen Dienst Rekruten zu werben, war mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Die Leute zogen den Militärdienst des Königs vor, und die Gesellschaft erhielt nur das allerschlechteste Material an Mannschaften, trotzdem ihre Agenten nicht die geringsten Bedenken hegten, die dreistesten Mittel, die oft an Verbrechen grenzten, bei ihren Werbungen anzuwenden.

Die Methode des Seelenkaufes oder, wie man es zu nennen pflegte, des Menschenfanges, war damals in der Tat im höchsten Schwange, und zwar nicht allein für den Kolonialdienst, sondern auch für den königlichen Garnisondienst. Da die Agenten, denen die Werbung oblag, natürlich durchaus gewissenlos vorgehen mußten, so kamen nicht allein viele Niederträchtigkeiten und Schlechtigkeiten vor, sondern es geschah ab und zu sogar ein Fall von Beraubung und Ermordung.

Solche Grausamkeiten und Verbrechen ließ der Staat nicht verfolgen, da es für ihn das oberste Gesetz war, Soldaten zu bekommen, und der Zweck hier die Mittel heiligte.

Die so gesammelten Truppen wurden zunächst insgesamt auf der Insel Wright untergebracht. Die Jahreszeit war ungesund und die Leute meistens auch von wenig widerstandsfähiger Natur, herabgekommen und elend, und so brach unter ihnen eine bösartige Seuche aus, die das Militärlazarett rasch überfüllte, dessen Verwaltung dem Kapitän Seelencooper, einem alten und erfahrenen Werbeoffizier, übertragen worden war.

Mehrere Ärzte wurden von der Direktion der Gesellschaft nach der Insel gesandt. Unter diesen befand sich auch Hartley, der in einer Prüfung vor einer medizinischen Kommission seine Fähigkeit bewiesen hatte und außerdem ein Doktordiplom der Universität Edinburgh besaß.

Um in die geworbene Mannschaft Manneszucht hineinzubringen, übertrug die Direktion einem ihrer Mitglieder, dem General Witherington, unbeschränkte Vollmacht. Der General war ein Offizier, der sich im Dienste der Gesellschaft schon in hohem Grade ausgezeichnet hatte. Vor etwa sechs Jahren war er als steinreicher Mann aus Indien zurückgekehrt und hatte sein Vermögen noch durch die Heirat mit einer sehr reichen Erbin vermehrt.

Sie verkehrten indessen wenig in der vornehmen Welt und schienen nur für ihre Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen, zu leben. Obgleich der General sich schon vom Dienst zurückgezogen hatte, übernahm er doch gern den ihm erteilten Auftrag und mietete sich ein gutes Stück außerhalb der Stadt Ryde ein. Er teilte seine Truppen in verschiedene Körper, ernannte fähige Offiziere und war bestrebt, durch regelmäßigen Dienst und Unterricht Disziplin zu schaffen.

Kapitän Seelencooper und seine Genossen vernahmen von ihm mit Zittern und Zagen, denn sie befürchteten, daß nun auch sie zur Rechenschaft gezogen würden, allein der General, der sonst alles persönlich untersuchte, schien nicht willig, das Lazarett selber zu revidieren. Man schrieb diese Abneigung der Furcht vor Ansteckung zu, und jedenfalls war die auch der Grund, doch ließ sich General Witherington zu dieser Handlungsweise nicht durch Besorgnis um seine eigene Person bestimmen, er fürchtete lediglich, er könne den Krankheitsstoff mit nach Hause in die Kinderstube bringen, in der der zärtliche Vater tagtäglich weilte.

Seine Gemahlin war noch ängstlicher. Wenn der Wind von der Seite her wehte, wo das Lazarett lag, so ließ sie die Kinder nicht aus dem Hause. Die Vorsehung macht jedoch oft alle Maßregeln der Sterblichen zu nichte.

Auf einem Spaziergange in einer Gegend, die als die entlegenste und vor der Seuche sicherste zu kleinen Ausflügen erwählt worden war, begegneten die Kinder einem Weibe, das auf dem Arme ein kaum von den Pocken genesenes Kind trug.

Der Vater hatte aus Ängstlichkeit und infolge religiöser Bedenken seitens der Mutter die Kinder noch nicht impfen lassen, auch war die Impfung damals noch nicht allgemein üblich.

Wie das Feuer an einer Zündschnur griff nun die Krankheit um sich und befiel alle Mitglieder der Familie, die die Seuche noch nicht gehabt hatten.

Der zweite Knabe starb, desgleichen zwei farbige Diener. Die Angst des Vaters und der Mutter hatte den Höhepunkt erreicht, als der Kammerdiener des Generals, der wie er selber aus Northumberland stammte, eines Tages mit der Nachricht nach Hause kam, unter den Ärzten des Lazaretts sei ein junger Mann, gleichfalls ein Northumbrier, der öffentlich die bisherige Behandlungsweise der Krankheit getadelt und eine andere empfohlen hätte, die er selber schon mit bestem Erfolge angewandt hätte.

»Laßt den jungen Mann sofort zu mir kommen«, entschied der General ohne weiteres.


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