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Drittes Kapitel.

Vier Jahre nach diesem Auftritt geschah das Langersehnte: Frau Gray schenkte ihrem Mann eine Tochter. Allein Glück und Unglück sind auf dieser Welt seltsam gemischt. Die Erfüllung seines innigen Wunsches nach Nachkommenschaft hatte den Verlust seiner schlichten, gutmütigen Gattin zur Folge. Das war einer der schwersten Schläge, mit denen das Schicksal den armen Gideon Gray treffen konnte.

Gray trug das Unglück, wie eben Menschen von Verstand und festem Charakter eine entscheidende Schicksalswendung hinnehmen, von der sie sich niemals wieder völlig zu erholen hoffen können. Er ging den Pflichten seines Berufes mit der gleichen Pünktlichkeit nach wie zuvor, und blieb im Umgang mit den Leuten nach außen hin heiter, aber der Sonnenschein seines Lebens war dahin.

Das helle, laute Pfeifen, das er immer anstimmte, wenn er den Kirchturm von Middlemas erblickte, war für immer verstummt, der Reiter hielt das Haupt gesenkt, und das Pferd, dem die Aufmunterung durch die Hand und Stimme seines Herrn fehlte, schlenderte müde dahin, als sei es mit ihm niedergeschlagen und trostlos.

Mitunter war er so traurig gestimmt, daß er den Anblick der kleinen Marie nicht zu ertragen vermochte, deren Kinderantlitz ihn an die Züge der Mutter erinnerte.

Den größten Trost nach dem schweren Verluste fand der arme Mann in der fröhlichen Zärtlichkeit des Richard Middlemas, des Kindes, das in so seltsamer Weise in seine Pflege gekommen war. Von frühester Jugend auf war er von großer Schönheit. Wenn er schwieg oder mißgestimmt war, dann zeigte sein Gesicht im dunklen Ausdruck der Augen und der finstern Miene Ähnlichkeit mit dem unheimlichen Charakter, den das Gesicht seines vermutlichen Vaters offenbart hatte. Wenn er aber munter und glücklich war – eine Stimmung, die bei ihm die häufigere war – dann hatte er die fröhlichste, heiterste Miene, die je auf dem lachenden, gedankenlosen Antlitz eines Kindes gestrahlt hat.

Er zeigte die zärtlichste, liebevollste Anhänglichkeit an seinen Vormund und Wohltäter. Er war stets willig und folgsam und verstand es mit einem über seine Jahre gehenden Geschick, seinem Pflegevater zu helfen oder ihm Zerstreuung zu bereiten.

Diese dankbare Liebe schien mit der Entwicklung seiner Geisteskräfte zuzunehmen und äußerte sich bald auch in Aufmerksamkeiten gegen die kleine Marie Gray. Im selben Verhältnis zu Richards liebevoller Aufmerksamkeit wuchs Maries Anhänglichkeit an Richard. Der Vater sah mit Vergnügen jedes neue Zeichen der Liebe, das sein Schützling seinem Kinde erwies. Während Richard allmählich aus einem schönen Kinde zu einem hübschen Knaben wurde, schrieb Doktor Gray jährlich mit großer Regelmäßigkeit an Herrn von Moncada unter der ihm angegebenen Adresse. Der rechtlich denkende Mann war der Meinung, der Großvater werde nicht, wenn er seinen Enkel sähe, auf den die ganze Familie stolz sein könne, auf seinem Entschluß bestehen, einen ihm durch Blutsverwandtschaft so nahen und an Gestalt und Charakter ihm so ähnlichen Knaben als einen Verstoßenen zu behandeln.

Er hielt es daher für seine Pflicht, die Verbindung zwischen dem Großvater und dem Enkel aufrecht zu erhalten, da die beiden in Zukunft vielleicht einander näher gebracht werden konnten. Andrerseits konnte ein derartiger Briefwechsel einem Manne von dem Selbstgefühl Grays nicht angenehm sein. Er faßte daher seine Briefe so kurz wie möglich, legte lediglich Rechenschaft ab über die für sein Mündel gemachten Ausgaben unter Einschluß eines geringen Kostgeldes, das er selber in Anschlag, brachte, fügte die Beglaubigung des Herrn Lawford bei und berichtete dann über Richards Gesundheitszustand und seine Fortschritte in der Erziehung. Den Schluß bildete in der Regel eine kurze aber herzliche Lobrede auf Richards Klugheit und Gutherzigkeit.

Die Antworten waren stets kurz und lauteten immer etwa folgendermaßen:

»Herr von Moncada bescheinigt den Eingang der Briefe des Herrn Gray von dem und dem Datum und ersucht Herrn Gray, es bei dem vereinbarten Verkehr bewenden zu lassen.«

Sobald außergewöhnliche Ausgaben sich erforderlich machten, wurden ohne Umstände und umgehend Geldbeträge eingesandt.

Als der Knabe vierzehn Jahre alt wurde, schrieb der Doktor einen ausführlichen Bericht von dem Charakter, den Fortschritten und den Fähigkeiten seines Pflegekindes. Er setzte hinzu, daß er diese Mitteilungen mache, damit Herr von Moncada sich ein Urteil darüber bilden könne, für welchen Beruf der junge Mann herangezogen werden könne. Er wolle nach besten Kräften alles tun, um die Wünsche des Herrn von Moncada auszuführen, denn der Knabe sei bei seinem liebenswürdigen Wesen ihm so lieb und wert, als sei er sein eigen Kind.

Die Antwort, die nach etwa zehn Tagen eintraf, war ausführlicher als sonst und hatte folgenden Inhalt:

»Sehr geehrter Herr Gray! – Wir haben uns unter nicht gerade günstigen Umständen kennen gelernt. Allein ich bin im Vorteil gegen Euch. Denn es war mir ja bekannt, aus welchem Grunde Ihr eine schlechte Meinung von mir hattet, und so konnte ich Eure Gründe und Euch selber zur gleichen Zeit achten, Ihr aber wart nicht in der Lage, meine Handlungsweise zu begreifen – weil Ihr nicht unterrichtet wart, in wie schändlicher Weise man mir mitgespielt hatte. Ein Schurke hat mir meine Tochter geraubt und entehrt, und ich kann es nicht über mich gewinnen, ein ob noch so unschuldiges Wesen vor Augen zu haben, dessen Anblick mich stets an Haß und Schande erinnert. Behaltet das arme Kind bei Euch und bildet es zu Euerm eigenen Berufe heran. Nur tragt dafür Sorge, daß der Knabe nicht über eine Stellung – wie Ihr sie so würdig einnehmt – oder über eine andre gleichwertige Stellung hinaus will. Die Mittel, um einen Pächter, Rechtsgelehrten oder Arzt aus ihm zu machen, oder ihn zu sonst welchem andern zurückgezogenen Stande heranzubilden, werden aufs freigiebigste ausgehändigt werden. Ich muß jedoch den Knaben und Euch davor warnen, Ansprüche an mich zu stellen, die mich veranlassen könnten, jede weitere Unterstützung abzuschlagen. Ich habe Euch nun hiermit meine Ansicht und meine Absichten mitgeteilt und erwarte, daß Ihr Euch danach richten werdet.«

Der Empfang dieses Briefes bewog den Doktor, mit dem Knaben zu sprechen und ihn selber zu fragen, für welchen der ihm freistehenden Berufe er sich entscheide. Er war zugleich überzeugt, daß der Knabe die Wahl dem Urteil seines Pflegevaters anheimstellen werde.

Vorher jedoch hatte er die unangenehme Pflicht, Richard Middlemas in die geheimnisvollen Umstände seiner Geburt einzuweihen. Er war nämlich der Meinung, der Knabe wisse nichts davon, weil er selber nie mit ihm darüber gesprochen hatte, sondern ihn stets in dem Glauben erzogen hatte, er sei das Waisenkind einer entfernten Verwandten.

Was aber der Doktor unterlassen hatte, das hatte die geschwätzige Amme getan. Von früher Jugend an war dem Kinde von der Amme der Kopf mit allerlei Märchen und Sagen verdreht worden, und das redselige Weib hatte dabei vor allem nicht jene Legende vergessen, die sie die entsetzliche Zeit seiner Geburt betitelte. – Da wurde denn nun alles in das grellste Licht gesetzt: die Persönlichkeit seines Vater, – der ganz so ausgesehen hätte, als ob die ganze Welt ihm zu Füßen gelegen hätte, – die Schönheit seiner Mutter und die schreckliche schwarze Maske, die sie getragen habe – ihre Augen, die wie Diamanten gefunkelt hätten, und die Diamanten, die sie am Finger gehabt hätte und die mit nichts zu vergleichen gewesen wären als mit ihren Augen – ihr zarter Teint und die Farbe ihres seidenen Mantels – und allerlei derartiges Geschwätz.

Dann sprach sie weitläufig von der Ankunft seines Großvaters und des furchtbaren, mit Pistolen und Schwert bewaffneten Mannes – dann über die Entführung seiner Mutter, wobei die Banknoten im Hause herumflogen wie Fetzen Löschpapiers und es Goldguineen hagelte wie Kieselsteine.

Das alles erzählte die Amme, teils um die Teilnahme des Knaben zu wecken, teils um ihr eignes Gelüst nach Übertreibung zu befriedigen. Der tatsächliche Vorgang – so geheimnisvoll er auch an sich war – wurde zu einem Nichts vor der Darstellung der Amme und nahm sich aus wie die demütigste Prosa gegenüber dem kühnsten Fluge der Poesie.

Das alles war Musik für Richards Ohr. Er malte sich mit wahrer Wonne aus, daß eines Tages sein tapferer Vater unerwartet an der Spitze eines tapfern Regimentes mit klingendem Spiel und fliegenden Standarten einziehen werde, um seinen Sohn auf dem schönsten Pferde, das Menschenaugen je erschaut hätten, wegzuführen. Oder seine Mutter, schön wie der Tag, werde plötzlich in einer Kalesche mit sechs Pferden erscheinen und ihr geliebtes Kind abholen. Oder sein reicher Großvater werde mit den Taschen voll Banknoten ankommen und seinen Enkel mit Reichtümern überhäufen.

Kurz, während der gute Doktor Gray sich einbildete, sein Pflegekind wisse nichts von seiner Herkunft, dachte Richard nur noch daran, wann und in welcher Weise er eines Tages wohl aus dem beschränkten Dunkel seines jetzigen Lebens emporgehoben und in eine Stellung gelangen würde, auf die er seiner Meinung nach durch seine Geburt ein Anrecht hatte.


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