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Ungefähr 10 Minuten nach Ankunft des Schnellzuges Kufstein – Rosenheim – München betrat der Liftboy des Hotels Metropol das Zimmer Nr. 160.
Zwei Herren, die dort wartend am Fenster gesessen hatten, erhoben sich sofort von ihren Stühlen.
»Was gibt's?« fragte der jüngere der beiden.
»Herr Hermann!« antwortete der Liftboy, »eine Dame ist unten, die Sie zu sprechen wünscht.«
Die beiden Herren wechselten einen schnellen Blick. »Lassen Sie die Dame bitte heraufkommen!« antwortete der Jüngere, und als die Türe sich hinter dem Liftjungen geschlossen hatte, fuhr er, zu seinem Begleiter gewandt, fort:
»Jetzt, lieber Muschal, gilt's! Ihre Rolle kennen Sie. Sobald Frau von Rottsieper eingetreten ist, schließen Sie sofort die Türe, während ich das Fenster mit meinem Körper decke. Pistole auf alle Fälle bereit halten, wenn ich auch nicht glaube, daß wir die Waffe benötigen.«
Draußen klopfte es.
»Herein!« –
Mit Spannung hefteten sich die Augen der beiden Männer auf die Türe, die sich langsam öffnete.
Eine junge Frau in elegantem Reisekleid trat ins Zimmer.
Sie war von kleiner Figur, schlank und doch von jener gewissen ebenmäßigen Rundlichkeit, die der Wiener mit »mollert« bezeichnet.
In einem bleichen, wunderbar zarten und reinen Gesicht blitzten ein Paar große, dunkle, mandelförmig geschnittene Augen, die mit dem starken rotgoldenen, unter einem kleinen grünen Wildlederhütchen hervorquellenden Haarschopf in seltsam aparter Weise kontrastierten.
Die zirka 30 jährige Frau trug ein fußfreies Reisekleid aus grauem Homespunstoff, mit grünem Wildleder garniert, die kleinen, auffallend zierlichen Füße steckten in eleganten, hochgeschnürten braunen Stiefeln.
Sie war einige Schritte weit in das Zimmer getreten und fuhr erschrocken zurück, als sie zwei, ihr völlig fremden Männern gegenüberstand, von denen der ältere der beiden höflich und zuvorkommend, aber mit einer verdächtigen Hast, die Türe schloß und den Schlüssel umdrehte.
Der Jüngere trat höflich näher, an ihn wandte sich die Frau.
»Ich bitte um Verzeihung!« stammelte sie ein wenig verwirrt und sichtlich beunruhigt. »Ich – glaube mich – in der Zimmernummer geirrt zu haben!«
»Nein, gnädigste Frau Baronin,« erwiderte der Herr mit ausgesuchtester Höflichkeit. »Sie sind schon richtig. Hier ist Zimmer Nr. 160, wohin ich Sie durch einen Brief nach Innsbruck bestellt habe.«
Ein deutliches Unbehagen malte sich in den Zügen der jungen Frau.
»Und dennoch – – es muß – hier eine Verwechslung vorliegen – – Wollen Sie – bitte – den Ausgang freigeben!! Ich habe mit Ihnen nichts zu tun – – ich suche – – einen Artisten namens Hermann. – –«
»Das ist mir natürlich kein Geheimnis, Frau von Rottsieper, da Hermann aber nicht mehr zu sprechen ist, bin ich gezwungen. Sie an seiner Stelle zu empfangen. Darf ich bitten, Platz zu nehmen.«
»Hermann – – kann – mich nicht sprechen?! Nicht mehr sprechen!« stotterte die Frau. »Was ist passiert – –?!«
» Er hat gestern im Polizeigefängnis in Konstanz Selbstmord verübt –!«
Die Hände der jungen Frau begannen leicht zu zittern und mit unsicherer Stimme, die nur schwer ihre Erregung verbergen konnte, fragte Sie:
» Wer – sind – Sie – eigentlich – –!«
»Doktor Karl Egon Lutz, von der Frankfurter Kriminalpolizei. Ihnen zu dienen, gnädige Frau Baronin. –!«
Diese Worte kamen mit der größten Liebenswürdigkeit und in verbindlichster Weise heraus, dennoch wurde das schon ohnehin bleiche Gesicht der Frau um einen Ton fahler. –
Sie tastete mit der linken Hand unsicher nach der Lehne des vor ihr stehenden Stuhles und sagte mühsam und gepreßt:
»Ich – habe – mit Ihnen nichts zu tun – – Ich kenne – Sie nicht. Warum haben Sie mich aus Innsbruck weggelockt und hier nach dem Münchener Hotel bestellt?«
»Weil ich«, entgegnete Lutz direkt auf das Ziel losgehend, »einen Haftbefehl, ausgestellt von der Frankfurter Staatsanwaltschaft, gegen Sie in der Tasche habe und eine Festnahme in Innsbruck, auf österreichischem Gebiet, gewisse Schwierigkeiten verursacht hätte. – –
Ich bedaure – meine Gnädigste – aber ich muß meiner Pflicht nachkommen und erkläre Sie im Namen des Gesetzes für verhaftet. – –«
Grace Rottsiepers Gesicht nahm eine aschgraue Färbung an. Die Kniee versagten ihr den Dienst. Halb gegen ihren Willen sank sie in dem Stuhl zusammen und starrte den vor ihr stehenden liebenswürdigen jungen Mann, dessen chevalereskes Benehmen mit seinem Amt so wenig übereinstimmte, nur wortlos an.
Dieser trat dicht vor sie hin.
»Verehrte Frau Baronin,« sagte er verbindlich, aber mit einer Entschiedenheit im Ausdruck, die jede Widerrede ohne weiteres auszuschließen schien. »Wir wollen mit offenen Karten spielen, und die für beide Teile wenig erquickliche Situation möglichst klarstellen. Seit drei Wochen suche ich Sie. Heute sind Sie in meiner Gewalt. Ich verspreche Ihnen eine schonende Behandlung, wie es Ihrem Geschlecht geziemt, bitte mir aber, vorher ein umfassendes Geständnis aus. – –«
Die rotblonde Grace hatte sich wieder etwas erholt. Dennoch ging ihr Atem schwer und röchelnd –
»Ich bin verhaftet!«, lachte sie gezwungen auf. »Deshalb hat man mich auf reichsdeutsches Gebiet gelockt –!? Lächerlich, Herr Doktor!! Ich weiß nicht, was man mir vorwirft. – Sie werden es mir ja bald sagen, und meine Unschuld wird sich herausstellen. Ein schwerer Rüffel seitens Ihrer vorgesetzten Behörde ist Ihnen sicher. – –!«
Lutz setzte sein bekanntes, feines diplomatisches Lächeln auf.
»Meine Gnädige«, meinte er. »Wir wollen die gute und wirklich kostbare Zeit nicht mit unnötigen Erörterungen verlieren. –
Ich sagte Ihnen bereits, daß Hermann vorgestern im Polizeigefängnis, einige Stunden nach seiner Verhaftung wegen Mordverdachts an dem Artisten Leopold v. Marguth, Selbstmord begangen hat. In seinen Effekten, die sofort amtlich durchsucht wurden, fanden wir neben anderen schönen, für uns sehr wertvollen Dingen auch einige Briefe von Ihnen, worin Sie Ihrem Erstaunen Ausdruck verleihen, daß die Ihnen so wichtigen Papiere noch nicht beigeschafft worden sind. – Sie äußerten weiterhin Ihr Befremden über die unbegreifliche Schweigsamkeit Ihrer Freundin Ingeborg von Marguth, die seit einigen Tagen nichts mehr von sich hören läßt. – Ich bin in der angenehmen Lage, eine in allen Punkten ausführliche Erklärung vorzulegen und nehme natürlich an, Ihnen damit eine außerordentliche Freude zu bereiten.
Also zuerst: – Die wichtigen Briefe sind längst gefunden. Zwar nicht von Hermann, der, wie schon gesagt, gestern Selbstmord beging, weil er sich verloren sah, sondern von der Kriminalpolizei. Auf eine Einsichtnahme in die Dokumente dürften Sie, als Schreiberin, kaum Wert legen. Ich begreife nur zu gut, daß es Ihnen darum zu tun war, die gravierenden Schriftstücke, mit dem Geständnis ihrer Mordtat an dem Rittmeister Ludwig von Wrede möglichst bald unversehrt in die Hände zu bekommen, kann aber in diesem Punkte, so gerne ich sonst hübschen, jungen Damen gefällig bin, leider Ihren Wünschen nicht entsprechen.
Das Verbrechen von Ingolstadt ist durch Ihr schriftliches Geständnis hinreichend geklärt, und auch über die Mordtat an Marvay Marguth, als dessen geistige Urheberin Sie gelten, bestehen keine Zweifel mehr, nachdem wir alle Beteiligten, wie Hermann, Marguths Frau und Georg Kreß in systematischer Fahndungsarbeit ermittelt und festgenommen haben.
Die Haupttäterin, nämlich Sie, Frau Baronin, verstand es, bis jetzt sich der Verhaftung zu entziehen, sie ging aber, wie ich zu meiner Freude feststelle, heute auch ins Netz und wird bald den gleichen Weg gehen müssen, den Marguth gezwungen und Hermann nebst seiner Freundin Ingeborg freiwillig vor ihr gegangen sind. – –«
Grace von Rottsieper hatte die beiden Hände fest auf das wildklopfende Herz gepreßt.
»Hören Sie auf – –!«, rief sie schreckensbleich. »Hermann – ist – wirklich tot – –!?«
»Ja – er schnitt sich die Pulsader auf und Ingeborg nahm zwei Minuten vor Eintreffen der Kriminalpolizei Gift. Diese beiden Täter sind erledigt, der dritte Mitschuldige, Kreß, sitzt in Untersuchungshaft, und erwartet eine lange Zuchthausstrafe. Sie als Haupttäterin sehen einem ähnlichen Schicksal entgegen. Sie kommen vor die Geschworenen und deren mutmaßlicher Spruch ist jedem Juristen schon im Voraus bekannt, – – – Anstiftung zum Mord? Selbst unter Zubilligung mildernder Umstände, mindestens lange Jahre Gefängnis.«
»Pah! Davon stirbt man nicht –!«
»Nein, erwiderte Lutz kalt. »Vom Gefängnis nicht. Aber da Sie außerdem wegen Mord an dem Rittmeister von Wrede zum Tode verurteilt werden müssen, kann die Gefängnisstrafe lediglich als eine recht überflüssige Formalität angesehen werden.
Ein Todesurteil ist Ihnen gewiß. Vielleicht, daß es auf dem Gnadenwege in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt wird – vielleicht sage ich – ich wünschte aber für Sie, der Landesherr macht von seinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch, denn lieber ein schneller Tod als ein Dahindämmern, zwischen dumpfen, kalten, feuchten Kerkermauern. – – –!«
Die klaren, nüchternen Ausführungen Dr. Lutz' stürmten wie unsichtbare Keulenschläge von gewaltiger Wucht aus den Schädel der Frau ein.
Mit ihrer gezwungen zur Schau getragenen Fassung war es zu Ende. Ein Fluchtversuch schien – davon hatte sie sich wohl längst überzeugt – ein Ding der Unmöglichkeit. Die Türe wurde durch Muschal versperrt und vor den Fenstern stand Lutz. Ganz abgesehen davon, bedeutete der Sprung aus dem zweiten Stock, hinab auf die belebte Bayerstraße, den sicheren Tod.
Sie war in der Gewalt der Behörden, deren Nachforschungen sie sich über ein Jahr entziehen konnte, sie zweifelte auch nicht daran, daß die Prophezeiungen des Detektivs wörtlich in Erfüllung gingen. Aber lebend sollte sie die Justizbehörde nicht in die Hände bekommen. –
Ihre Augen scharf auf Lutz gerichtet, öffnete sie mit der rechten Hand verstohlen den Bügel ihrer silbernen Handtasche. – Aber der Mann war schneller wie sie.
Mit einem harten Griff hatte er die Hand Graces, gleich Eisenklammern, umfaßt, wand ihr trotz des Sträubens die Tasche aus der Hand und sagte ernst:
»Selbstmord kann ich nicht dulden. Wenigstens – im Augenblick noch nicht!« – – – –
Grace von Rottsieper rieb ihr Handgelenk, es war durch den derben Griff Lutz' stark gerötet.
»Sie sind – ein Teufel –!« zischte sie. »Warum lassen Sie mich nicht ein Ende machen?«
Lutz antwortete nicht sofort. Er öffnete die Handtasche und entnahm ihr eine Medizinschachtel, die er in die hintere Hosentasche steckte.
»Sie täuschen sich in mir, Frau Baronin,« entgegnete er sanft. »Ich meine es besser mit Ihnen, als Sie vielleicht glauben. – Ich kann begreifen, daß die Aussicht, monatelang in Untersuchungshaft sitzen zu müssen, wenig Verlockendes hat, umsomehr, als der Weg aus dem Gefängnis nicht zur Freiheit, sondern aufs Schaffot führen muß. Ich bin daher grundsätzlich geneigt, Ihnen einige Erleichterungen vorzuschlagen, aber auch Sie müssen Vernunftsgründen zugänglich sein und einsehen, daß Sie das Spiel vollständig verloren haben. – Muschal!« – wandte er sich an den Wachtmeister, der unbeweglich vor der Türe stand. »Warten Sie unten im Vestibül, bis ich Sie rufen lasse. Ich habe mit Frau Baronin von Rottsieper einige Worte unter vier Augen zu reden.«
Und als der Wachtmeister das Zimmer verlassen und Lutz die Türe wieder abgeschlossen hatte, fuhr er fort:
»Jetzt sind wir unter uns, gnädige Frau. Merken Sie wohl auf, welchen Vorschlag ich Ihnen unter gewissen Bedingungen mache. Ich stehe glücklicherweise nicht offiziell in Diensten der Polizei. Der Umstand, daß ich den einzigen amtlichen Polizeibeamten, der mich nach München begleitete, soeben weggeschickt habe, beweist Ihnen wohl zur Genüge meine Bereitwilligkeit, Ihre Lage zu erleichtern. Sühne muß sein. – Nach dem Gesetz sind Sie eine Mörderin, die Motive kommen erst in zweiter Linie, außerdem tragen Sie an einer zweiten Bluttat, der ein ehrenhafter Mann in der Blüte seiner Jahre zum Opfer fiel, die alleinige Schuld. –
Ich möchte jedoch annehmen, daß Ihrer Handlungsweise keine rein selbstsüchtigen Motive zu Grunde lagen, ich glaube, daß es um zwei im Affekt begangene Verbrechen handelt, die, wenn auch wohl kaum im juristischen Sinne, so doch in meinen Augen, eine mildere Beurteilung vielleicht verdienen. Vor dem Schlimmsten, nämlich vor dem Schaffott, will und kann ich Sie bewahren, aber ich verlange, daß Sie eine rückhaltslose Beichte ablegen, eine Beichte, die unsere Ermittlungen und hypothetischen Schlüsse bestätigt, ergänzt und einige wenige, noch ungeklärte Punkte aufhellt.
Wenn Sie es dann vorziehen, der entnervenden, grauenvollen Haft und dem Fallbeil des Henkers durch einen schnellen, schmerzlosen Tod zu entrinnen – bin ich bereit, mir die Giftschachtel aus der Tasche – – stehlen – zu lassen. Aber jetzt, Frau Baronin, bitte ich um Ihre Erzählung. – –«
Grace von Rottsieper sah Lutz aus ihren schwarzen, unergründlichen Augen lange prüfend ins Gesicht, dann entrang sich ein leichter Seufzer ihren blutleeren Lippen.
»Ich – bin – mit Ihrem Vorschlag – – einverstanden –!« sagte sie.
*
Wachtmeister Muschal hatte sich inzwischen, getreu seiner Instruktion, in die Hotelvorhalle gesetzt und wartete geduldig, bis er wieder nach oben gerufen würde.
Den Grund seiner Entfernung konnte er sich wohl denken, und wenn er auch gerne die Beichte der interessanten, rotblonden Frau mit angehört hätte, so war es nicht seines Amtes, Wünsche zu äußern. Er hatte zu gehorchen, und damit Schluß. –
Aber die Geschichte dauerte endlos lange oben auf Zimmer 160. – Er hatte die »Neuesten Münchener Nachrichten« bis auf das letzte Inserat bereits durchgekaut, und noch immer wollte die Unterredung zwischen Lutz und der Baronin nicht zu Ende kommen.
Zudem war es heiß und – Muschal hatte Durst.
Er informierte den Hotelportier, daß er sich in der nebenliegenden Restauration einen Schoppen genehmigen wolle, und blieb auch kaum eine Minute weg.
Bei seinem Wiedererscheinen machte ihm der Portier die Mitteilung, Dr. Lutz habe im Augenblick das Hotel verlassen.
Muschal sah ihm dumm ins Gesicht.
»Das ist aber doch ausgeschlossen?!« meinte er.
Der Portier zuckte die Achseln. Er könne nur wiederholen, was er gesagt habe. Dr. Lutz in seinem auffälligen karierten Ulster sei vor einer halben Minute hier vorbeigekommen und habe das Hotel verlassen.
Ob er allein gewesen sei? wollte Muschal, noch immer aufs äußerste überrascht, wissen.
»Ja,« erklärte der Portier.
Muschal eilte verdutzt auf die Straße hinaus, sah sich nach allen Seiten um, konnte aber keine Spur von Lutz entdecken. –
Daß dieser das Hotel verlassen haben sollte, noch dazu ohne die Baronin mitzunehmen, schien ihm außerordentlich befremdlich.
Aber – Donnerwetter –! Lutz hatte ja versprochen, der roten Grace zu helfen, wenn sie ein Geständnis ablege. Diese Art Hilfe kannte Muschal. Vor Jahren, im Falle von Echternacht (vergl. Roman Die rote Wanda), und auch in der Angelegenheit des Baron von Rhaydt in Frankfurt (vergl. Das Forrnitpulver), spielte er den geständigen Tätern die Waffe zum Selbstmord in die Hand. Hier war ein analoger Fall.
Höchstwahrscheinlich lag die Baronin oben in der Stube – tot – und Lutz hatte, als er ihn, Muschal, unten nicht mehr vorfand, auf der Straße einen Polizisten benachrichtigt.
Aergerlich mit sich selbst und ein wenig verlegen, seiner Pflichtverletzung wegen, die ihm voraussichtlich einen derben Anpfiff einbrachte, eilte Muschal die Treppen hinauf.
Die Türe Nummer 160 gab seinem Drucke nach und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich seiner Brust, denn – – – auf dem Boden lag die leblose Gestalt der Frau, – sonderbarer Weise in recht mangelhafter Toilette, nur mit dem Hemd bekleidet. – Ihre hohen braunen Stiefel standen am Boden.
Ein wenig überrascht beugte sich der Wachtmeister auf die leblose Gestalt nieder und – fuhr wie von einer Tarantel gestochen, entsetzt zurück.
Die Gestalt vor ihm war nicht die Baronin von Rottsieper, sondern – – – – Dr. Lutz.
Neben ihm lag ein Taschentuch, das einen scharfen, süßlichen Geruch ausströmte.
Muschal hatte sich nach dem ersten Schrecken schnell gefaßt.
Er riß die Fenster auf, daß frische Luft ins Zimmer strömen konnte, ergriff die Wasserkanne und goß, ohne jede Umstände, die Hälfte des Inhalts Lutz über Kopf und Gesicht.
Dieser öffnete mit einem leisen Stöhnen die Augen und begann zu würgen.
Muschal kannte sich aus. – Chloroformvergiftung. –!
Er schleuderte in einem weiten Bogen das feine Damenbatisttuch in den Toiletteeimer, nahm den Kopf Lutz' behutsam auf seine Knie und griff ihm mit dem Zeigefinger in den Mund.
Dr. Lutz fing von neuem an, krampfhaft zu würgen und schließlich zu erbrechen. Der Wachtmeister begoß ihn nochmals mit Wasser, eine Pferdekur, die aber den erhofften Erfolg hatte, denn Lutz kam schnell wieder vollständig zum Bewußtsein und richtete sich – wenn auch ein wenig schwerfällig – auf, um aber sofort wieder auf das Bett niederzusinken.
»Muschal!« stöhnte er. »Sofort unser Auto – aus der Garage, – wir müssen fort – – –!«
»Allmächtiger, Herr Doktor!« entsetzte sich der Wachtmeister, »in dem Zustand –?! Wie kam denn dies alles – wir hatten se so scheen fest – –?!«
»Nachher – – nicht fragen. Geben Sie mir meinen anderen Anzug und den Regenmantel aus dem Schrank. – – Schnell – –! Ich war ein Esel – – aber noch ist es vielleicht nicht – zu spät – –!«
Lutz fuhr nicht ohne Anstrengung in seine Beinkleider, die ihm Muschal vorsorglich hielt und fuhr fort: »Ich glaubte, die Frau wollte – nach ihrer ehrlichen Beichte Selbstmord begehen – – aber statt dessen schüttete mir die Kanaille Chloroform ins Gesicht. – – – Sie hat in meinen Kleidern die Flucht ergriffen, – – wir müssen ihr nach. Ihre ständige Wohnung in München ist Prinzregentenstraße 273. – – Dahin ist sie wohl zuerst geflohen. – – Schnell! Unser Auto – –!«
»Werden Sie in diesem Zustand die Verfolgung aushalten können?« fragte Muschal bedenklich.
Lutz wurde wütend.
»Machen Sie den Wagen fahrbereit – –!« brüllte er, »und lassen Sie alle überflüssigen Fragen beiseite – –!«
Muschal flog mehr als er ging die Treppe hinab, und kaum daß er den Kraftwagen aus der Garage gezogen und angekurbelt hatte, erschien auch schon Lutz, zwar noch ein wenig bleich, aber anscheinend wieder hergestellt.
Der Wachtmeister bewunderte im Stillen die Energie seines jüngeren Gefährten, der sofort auf den Führersitz kletterte und in scharfem Tempo anfuhr. –
Die tolle Fahrt ging über den Maximiliansplatz, wo ein Polizist aufgenommen wurde, durch die Ludwigs- und von der Tannstraße, am Palais Royal vorbei. Dann flog das Auto die breite Prinzregentenstraße hinab und hielt, kaum fünf Minuten nach Abfahrt, am Ziel. – –
Lutz zog sofort die Hausklingel. – Niemand meldete sich.
»Wir müssen die Türe aufbrechen!« sagte Muschal zu dem Münchener Polizisten. Lutz hörte schon nicht mehr. Er war auf einen Taxameterkraftwagen zugeeilt, der an der anderen Straßenseite stand und hielt dem erschrockenen Chauffeur seine Legitimationskarte unter die Nase. –
»Auf wen warten Sie hier?« fragte er.
»Auf einen Herrn – – das heißt, eigentlich – eine Frau in Männerkleidern, die ich am Hauptbahnhof ausgenommen Hab!«
»Wo ist die Frau eben?«
»Drüben, im Hause 273.«
Lutz sprang sofort zu seinem Wagen zurück und beorderte den Polizisten nach der Hinterseite der kleinen Villa, die nur eine einzige Mietspartei beherbergen konnte.
Während der Polizist eiligst in die Ismaningerstraße einbog, klingelte Lutz noch einmal lange an der Eingangstüre, aber auch das zweite Mal ohne jeden Erfolg.
»Stellen Sie sich hier zu mir, hinter den Wagen,« sagte er ärgerlich zu Muschal. »Wir warten, bis das Weib erscheint. Diesmal entgeht sie mir nicht –!«
Die beiden Kriminalisten richteten gespannt ihre Augen aus das Gebäude vor ihnen, das in einem ganzen Block ähnlich gebauter kleiner Villen stand. Jedes Haus war von dem Nachbarhaus nur durch eine niedere Brandmauer getrennt.
Plötzlich stieß Muschal einen leisen Warnungsruf aus: »Dort – – auf dem Dach – Herr Doktor – –!« rief er.
Doch Lutz hatte bereits festgestellt, daß sich das eine Dachfenster gehoben und eine kleine, zierliche weibliche Gestalt in Männerkleidern, eine einfache Sportmütze auf dem Kopf, langsam und vorsichtig auf das Dach hinaus kletterte.
»Sie ist's – machen Sie Ihre Waffe frei. Meine Pistole hat das Frauzimmer mit den Kleidern fortgenommen –!«
Muschal unterdrückte einen Fluch. »Ich habe meine Pistole im Mantel –!« schimpfte er – »und der hängt – – im Hotel – –!«
»Dann holen Sie schnell Hermanns chemische Büchse aus dem Wagen. Ein Glück, daß wir sie mitgenommen haben. –«
Muschal griff nach einem Paket und riß die Umhüllung ab.
Lutz hielt die Hände an den Mund und rief die Gestalt auf dem Dache an:
»Kommen Sie herunter, Frau Baronin. Das Haus ist umstellt und eine Flucht aussichtslos.«
Ein derber Fluch, der aus einem Frauenmund noch roher wirkte, als er an und für sich schon war, bildete die Antwort.
»Wenn Sie nicht gutwillig kommen, machen wir von der Waffe Gebrauch!« rief Lutz noch einmal.
In diesem Augenblick sah man die Gestalt auf dem Dach den Arm heben. Ein Schuß krachte, und die Kugel schlug dicht neben Muschal in die Karosserie des Kraftwagens, dann sprang die Gestalt mit langen, flinken Sätzen nach der nahen Brandmauer und schwang sich hinauf.
Lutz zögerte nicht mehr. Er hatte die Kammer des Gewehres aufgerissen – sie war leer – aber ein Schuß – – der letzte Schuß steckte noch im Lauf. – –
Im Nu hatte er die Windbüchse in Anschlag gebracht – – – ein leises, aber scharfes Zischen – – und ein lauter Aufschrei auf dem Dache der Villa.
Die Frau fuhr mit der linken Hand an die Brust, die Rechte löste sich vom Mauerrand, und sich mehrmals überschlagend, rollte die Mörderin vom Dach herunter.
Mit einem dumpfen Aufklatschen schlug der Körper auf den Boden des kleinen Vorgartens, der die Villa in der Prinzregentenstraße 273 umgab.
Ohne auf die zahlreichen Neugierigen zu achten, die sich durch die sensationellen Vorgänge in der sonst so stillen und vornehmen Straße schnell angesammelt hatten, schwang sich Lutz über das Gartenstaket. Muschal folgte. – Der Polizist versuchte mit mehr Eifer als Erfolg, die schaulüsterne Menge zurückzudrängen.
Inzwischen hatte Lutz den leichten Körper der unglücklichen Frau sanft in die Höhe gehoben. Sie atmete nicht mehr.
»Tot!« sagte Lutz. »Die Schußwunde in der rechten Brustseite war nicht unbedingt tötlich, aber beim Sturz vom Dache hat die rotblonde Grace das Rückgrat gebrochen. – – Fassen Sie zu, Muschal. Wir bringen die Frau ins Auto, und dann Meldung bei der Polizeidirektion in der Ettstraße. –«
Lutz lehnte sich erschöpft wider die Hauswand und überließ es seinem Wachtmeister, den leichten Frauenkörper nach dem Auto zu tragen, dann folgte er mit schwankenden Schritten, wie ein Betrunkener. –
Und als er das Steuer ergriff, fühlte er, daß seine Hände zu zittern anfingen, vor seine Augen schob sich ein schwarzer Nebelschleier, und todbleich sank er in die Polster des Führersitzes zurück.
Muschal nahm seinem Gefährten langsam und vorsichtig das Steuerrad aus den Händen und kurbelte den Wagen an.
Mit einem gebieterischen Hupenton, der die Straße vor dem Gefährt räumte, – schoß das Auto vorwärts und ließ die schau- und sensationshungrige Menge schnell hinter sich.
Keiner der vielen Neugierigen, deren Zahl sich von Minute zu Minute noch vergrößerte, ahnte, daß hier soeben der Vorhang zum letzten Akt eines Trauerspiels des Lebens gefallen war. –